Image provided by: University of Nebraska-Lincoln Libraries, Lincoln, NE
About Grand Island Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1893-1901 | View Entire Issue (Dec. 17, 1897)
Der englische Lauten Erzählung nach Thatsachem von Ulr. Mneri. I. Der von Ostende kommende Eilzug lief gegen Mittag auf dem Nordbahn hos in Veiissel ein. Hier wechseltm die Eisenbahn- und die Postbeamten, welche den Zug weiter nach Betvicts und von dort nach Aachen und Köln begleiteten. Nur wenige Minuten nahm die Uebergabe des Zuges in An spruch. Unterdessen hatte sich die neue Lolomotioe an das bisherige hintere Ende des Eilzuges gesetzt, denn der Nordbahnhos in Briissel ist eine stopf station, das Absahrtssignal ertönte, und in derselben Richtung, aus welcher der Zug gekommen war, fuhr er ab, umdann auf die Strecke nack,l Verviers überzugehen. Ein ungefähr vierziaiöhriaerMann, dem man in seiner Kleidung, seinem Gesicht und seiner Haltung den Eng länder der besseren Stände ansah, be wegte sich über den Bahnstieg dem Ausgang zu. Er ging mit Hilfe eines Stockes· Sein rechtes Bein war ge lähmt oder verletzt, und das Gehen fiel ihm offenbar schwer. Kurz vor der Treppe, die zur Eintrittshalle des Bahnhofs hernnterfijhrte, staute sich die Menge, und der Hintende stand ne ben einem Mann am Ende der Zwan ziger, der einen Civilanzug, aber die goldbordirte Mütze der belgischen Post beamten trug. An diesen wendete sich der Hinlende mit den Worten: »Mein Herr, ich er kenne an Jhrer Mütze, daß Sie ein Posibeamter sind. Es ist mir-, als hätte ich Sie bereits in Ostende gese hen. Wahrscheinlich » haben Sie die Post von Ostende bis hierher beglei tet?« Der Angekedetc sah den Fragenden etwas erstaunt an und sagte zurück haltend: »So ist es, mein Herr.« ,,Verzeihen Sie, daß ich Sie belä stige. Jch bin lrant, das heißt, ich habe ein sast gelähmtes Bein. Sie wohnen als Postbeamtev gewiß hier in der Nähe des Nordbahnhoseg. Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich ein bescheidenes Zimmer sinde? Verzei hen Sie, wenn ich Sie mit meiner Fra ge belästige, aber ich glaubte, Sie wä ren in dem Stadtviertel gut be tannt.« »Jn der That,« versetzte der Be amte, »ich wohne hier dicht in der Nähe mit meiner alten Mutter, und zufälli ger-weise haben wir auch ein Zimmer zu vermiethen.« Der Hinlende schien außerordent lich erfreut. ,,Welch ein glücklicher Zu salll Jch habe wirllich nicht erwartet, es- so giinstig zu treffen. Mein Name ist Frazer.« »Und ich heiße Emil Capekon, mein Herr. Das Zimmer ist ganz nett ein gerichtet; bisher hat ein College von mir darin gewohnt, der aber jetzt nach Vervierg versetzt worden ist. Wir neh men nicht jeden aus; aber vielleicht se hen Sie sich einmal die Wohnung an. Jch glaube, meine Mutter wird gegen Sie nichts einzuwenden haben.« »Und ich würde mich gliicilich prei sen«, erklärte Frazer, »wenn ich zu Ihnen ziehen lönntr. Sie sind Bes amter, und wenn ich bei Jhnen wohne, so ist das eine gewisse Garantie siir mich, daß ich in eine anständige Fami lie hineinlonnne. Jch bin ganz fremd hier, bin eigentlich ein Krüppel, denn ich lann mich nur mühsam fortbewegen und bin in vieler Beziehung aus die Liebenswijrdigteit dev Leute angewie sen, die mich aufnehme-is --·«-«s »Ich weis; nicht, welche Beschatte gung Sie haben«, sagtetsaperom »aber die Wohnung wird Jhnen schon gesal len. Sie liegt in der Nähe deg Bahn hosS; auch zu den Boulevardg ist eg nicht weit, und an der tscke der Straße finden Sie eine Pserdebahm die Ih nen Gelegenheit giebt, alle wichtigen Punkte ohne Mühe zu erreichen.« »Ganz auggezeichnei2« erklärte Frei-: zer. »Ich bin Maler, mein Herr. Jch darf mich wenigstens so nennen, wenn ich auch nicht meinen Lebensunterhalt durchdie Kunst verdiene. Meine Ver hältnisse gestatten e5 mir, nach mei nem Gefallen zu leben, nnd meine Krantheit zwingt mich schon seit Jah ren, viel im Zimmer zu bleiben, und veranlaßt mich zu eifrigem Arbeiten an der Stassetei.« Die beiden Herren hatten unterdes sen den Platz vor- dem Bahnhos er reicht. Caperon rief einen Vigilanten, das heißt eine einspänige Droschte, heran, setzte sich mit Frazer, der nur mühsam in dag Gefährt einstei gen konnte, ein und gab dein Kutscher die Adresse Rue de la Biensaisance Nr. 63 an· Sein Gepäek ließ Frazer aus der Bahn, er wollte es ersst holen lassen, wenn er das Zimmer gemiethet hatte. Dieses Geschäft war nach dem Ein tressen in der Wohnung Caperons bald erledigt. Seine Mutter, eine würdige Dame in den Sechzigern, be trachtete priisend den Gast, der in sei nem ganzen Auftreten eine gute Erzie hung und grosze Befcheidenheit zeigte. Ev besichtigte das Zimmer, das außer ordentlich sauber gehalten war und dessen beide Fenster auf einen Garten hinausgingen, und bat dann um die Erlaubniß, sich sofort einrichten zu dürfen, sowie gleichzeitig unt Angabe des Preises. Mutter und Sohn hielten eine kurze Berathung, und dann kam Eaperon zu Frazer, um ihm mitzutheilen, dass er das Zimmer für den Preis von sechzig Franken monatlich erhalten könne. Morgenkasfee und Bedienung sei dabei einbegriffen, auch das Heizen solle in den jetzt herannahenden Winken-»ma ten (man befand sich im November) gut besorgt werden. Frazer erklärte, der Preis erscheine ihm nicht zu hoch, er bitte aber« noch; einmal um die Erlaubniß, Frau Ca-; Peron sprechen zu dürfen, da er ihr ’ eine Bitte vorzutragen habe, von deren jErfiillung sein Aufenthalt im Hause I abhängig sei. Caperon geleitete den » Fremden wieder in das kleine Ern » psangszimmer zurück, und Frazev trug in wohlgeseßten Worten mit sehr viel; Befcheidenheit und Liebenswiirdigteitt der alten Dame die Bitte vor, sie möge ihn ganz und gar als Hausgenossen ausnehmen. Er sei krant und werdet nur täglich den Weg zum Arzte ma chen, den er zum Zweck einer längeren Massagetur aussuchen wolle, sonst möglichst alles Ausgehen vermeiden. » Es wäre ihm dahev sehr erwünscht, » wenn er die Mahlzeiten mit der Fami lie einnehmen könne, und wenn man ihn ganz und gar als zum Hause ge E hörig betrachten wolle. « Madame Caperon wollte zuerst » nicht daraus eingehen; sie meinte, ihr »Haushalt sei sehr. bescheiden. Emil bleibe immer nur einen Tag zu Hause, den nächsten sei er in Ostende, käme dann Abends wieder spät an, und ihre » ganze Lebensführung sei sehr einfach. J Fvazer erklärte sich aber mit allem ein verstanden und wußte so liebenswür ’ dig zuzureden, daß schließlich Frau « Caperon sich bereit erklärte, eine vier » zehntägige Probe zu machen. Frazer ’bat sie, sofort eine Anzahkung von hundert Franken von ihm anzuneh » men, und ließ dabei eine mit Bank :noten wohlgespirtte Briestasche sehen. i Das wirkte. Einen so zahlungssäl)i gen Miether läßt man sich nicht gern entgehen. s Zwei Stunden nach seiner Antunst ’ in Briissel war Frazer vollständig ein gerichtet· Als er bei dem bescheidenen Abendbrot mit der Familie Caperon zusammenfaß, sah man es ihm an, s wie eosreut er war, so gut unterge j kommen zu sein, und auch Frau Ca i peron war von ihrem Miether bereits E sehr eingenommen. Frazer hatte an - scheinend große Reisen gemacht, lannte . Australien, Nord- und Südamerila, sogar Jndien, und wußte interessant zu plaudern. Frau Caperon und ihr ISohn wünschten sich Glück zu dem F neuen Miether. Sie lebten in beschei i denen Verhältnissen, und es war sür sie sehr angenehm, einen Miether zu ; haben, dem eg nicht daraus ankam, die i Bequemlichkeiten, die man ihm im sHause bot, auch anständig zu bezah i len. l 2. . Als die vierzehntägige Probezeit vorüber war, dachte niemand daran, das Verhältnisz, das sich zwischen Fra zev und der Familie Caperon entwickelt T hatte, aufzuheben· Der Engländer "gehörte wirklich zur Familie. Ueber den Preis, den er inonatlich für volle Verpslegung zahlen sollte, war man schnell einig geworden, denn Frazer bewilligte ohne weiteres, wag Frau lsaoeron forderte. Er erklärte, er fühle sich glücklich in dem Hause, nach-: dem er so lange unstät in der ganzen Welt herumgereist sei. Frau Caperon hatte durch den Fremden eine ansehn liche Mehreinnahme und Emil Cape ron einen Freund. Alle waren also höchlich zufrieden. Frazer verließ nuo einmal des Ta ges das Haus« um sich zu Wagen zu dem Masseur zu begeben, sonst saß er in seinem Zimmer, las oder arbeitete an der Stasselei. Seine Malerei war sreilich nicht weit her, er war offenbar mehr Zeichner als Maler, und trotzdem er sich anscheinend große Mühe gab, kam er über eine dilettantische Mittel mäßigkeit nicht hinaus. Er sührte nach vorhandenen Skizzen aus Jn dien, Australien und Südamerita Bil der aus, lediglich zu seinem Vergnü : gen. - Wenn Emil Eaperon dienstsrei war, saß er aus den Wunsch Frazevs meist bei ihm im Zimmer, um sich mit ihm .zu unterhalten. Frazer liesz es sich nicht nehmen« fiir gute Cigarren, seine Liqueure und gute Weine zu sorgen, · mit denen er seinen Freund bewirthete; Her kam nie von seiner täglichen Aus-« ; fahrt zum Arzte zuviich ohne siir Frau » Caperon ein Paar Blumen, eine Na ischerei oder irgend eine andere Auf E mertsaniteit mitzubringen. Als er das erste Landschastgbild vollendet ( hatte, schentte er es Frau Caperon in schönem Rahmen, und selbstverständ »lich erhielt das Kunstwerk des Mie k thevs den besten Platz in dem kleinen s Empfangszimmer. Schließlich kam er sogar auf den Gedanken, Frau Cape ron und ihren Sohn zu malen, wag diese sehr erfreute. Während Emil und seine Mutter dem freundlichen Miether saßen, wur de natiirlich fleißig geplaudert. Fra zer interessirte sich für alles, auch für das, worüber Emil Caperon sehr gern sprach, nämlich fiir dessen Beschäfti gung. Es ist selbstverständlich, daß jeder Mensch gern etwas über das mit theilt, was seine Aufgabe, was sein Beruf,was seine tägliche Beschäftigung ist, und Frazer hörte mit einer. Aus mertsamleit zu, als wolle ev selbst noch einmal Postbeaknter werden. Die Be schäftigung Caperons war aber auch wirklich interessant, denn er hatte mit der internationalen Post zu thun. Fast jedesmal, wenn der Dampser Nachts von Dover in Ostende ankam, brachte er eineAnzahl internationalerPostttücke mit, großeLedersäcke, die mitBriefe und ( Drucksachen vollgepfropft und mit Bleisiegeln verschlossen sind. Sie ent halten Sendungen aus Nord- und Südamerika, die fiir den Continent, insbesondere für Deutschland, be stimmt sind. Natürlich sind unter den internationalen Postfachen auch solche für Belgien, der Ledersack aber, der diese Sendungen enthält, kommt in den belgischen Postwagen, der nur bis Brüssel geht. Am Ende des Eilzuges, der von Ostende kommt, befindet sich jedoch noch ein zweiter, ein internatio naler Postwagen, der mit den Buch staben A. B. gezeichnet ist. Die inter nationale Post wird in Ostende direkt in den Wagen A. B. geladen, dann wird der Wagen mit Bleisiegeln ver sehen, und die Thüren werden außer dem auch noch durch Vorhängeschlösser versichert, deren Construktion nur den Postbeamten bekannt ist. Es aiebt zu jedem der Schlösser zwei Schlüssel, ei ner davon bleibt in Ostende, der an dere liegt in Verviers. Der an den Schnellzug angehängte Wagen A. B» in dem sich keine Poftbeamten befinden, » geht zunächst bis Brüssel, wird dorits dem Schnellzug No. 67 angel)ängt,s der nach Verviers und von dort übers Aachen nach Köln geht« und in Ver-i viers in Gegenwart der belgischenPost- » beamten von den deutschen übernom men. Frazer fand das alles höchst inter essant und meinte, daß es ein sehr hübsches Genrebild geben würde, wenn man das Einladen der internationalen Post in den Wagen A. B. darstelle. Da dies stets bei Nacht geschehe, entständen durch die verschiedenen Gas- und Handlaternen sowie durch das elektri sche Licht jedenfalls sehr wirksame Br leuchtunaseffekte. Auch Capean war der Ansicht, daß das Bild sehr schön werden würde, und versprach, seinen Fveund nach Möglichkeit zu unterstü tzen, wenn er Studien und Zeichnun gen in Ostende machen wollte. Mit dem Fuße Frazers ging es bes ser. Die Massage that ihm außeror dentlich wohl. Er erfuhr zwar von dem behandelnden Aerzte, daß er höchst wahrscheinlich niemals ohne Hilfe eines Stockes würde gehen kön nen, aber er wurde doch bewegungsfä higer. Frazer nejz jo leicht keine Idee, die er einmal ergriffen hatte, fallen. Schon am nächsten Tage fuhr er mit Emil nach Ostende, um dort einige Tage zu bleiben und Skizzen zu ent wersen. Er war durch Caperon mit den anderen Postbeamten in dem gro ßen Postamte am Quai bekannt ge z worden, und man hatte nichts dagegen, daf; er sich mit seinem Slizzenbuch trotz der Wintertälte htnsetzte und das Innere und Aeußere der Wagen zeich nete. Hin und wieder entwarf er auch eine kleine Stizze aus dem Bureau, worüber sich die Beamten immer freu ten, zumal Frazer diese Stizzen ver schenkte. Am dritten Abend war er auch zu . gegen, als Caperon wieder mit dem « belgischen Postwagen nach Brüsfel zu riickfuhn Er zeichnete eifrig Stizzen der nächtlichen Steue, die sich bei der Verladung der internationalen Post ergab. Er erfuhr hier, daf; die Post säcke, die Werthsachen enthielten, mit blauen Etitetten betlebt wurden, damit i die Postbeainten, die sie in Verviers i übernahmen, sofort wüßten, wo die i wichtigsten Stücke lagen. Er fah zu, i i s wie die Thüren des Wagens A. B. ge schlossen wurden, und als dann der Zug in der Richtung nach Brüsfel ab ! fuhr, blickte ihm Frazer lange nach. i Dann ging er in der Richtung nach seiner Wohnung fort, suchte aber diese nicht auf, sondern ging ein paar Stra » fzen weiter, blieb endlich von einem » Hause stehen und pfiff ein eigenthiini liches Signal. Jm zweiten Stock dieses Hauses öffnete sich ein Fenster-, und ein männ licher Kopf spähte hinaus· Dann wurde das Fenster wieder geschlossen, die Hausthür geöffnet und Frazer ein gelassen. Kaum oben im Zimmer angelangt, wo drei Männer anwesend waren, be gann Frager mit unheimlicher Sicher heit und Geschicklichkeit einen Tanz auszuführen, bei dem ev sein kranker i Bein genau so gebrauchte wie sein ge « sundes. Die drei anderen im Zimmer Anwesenden, ihrer Sprache nach sämmtlich Engländer, lachten aus .oollen1 Halse, worauf Frazer er klärte: »Lacht nicht; ihr glaubt nicht, wie nöthig eine solche Bewegung siir mich ist. Das Bein wird mir ganz steif von dem fortwährenden Hinlen. Wenn ich allein bin, muß ich es immer in Bewe gung üben, damit ich nicht hinte, auch ohne zu wollen. Zum Teufel, ich brauche meine Beine doch sehr nöthig ; ein einziger Fehltritt zur unrechten Zeit bringt mich in Gefahr und viel leicht euch ebenfallg«. »Schon gut, Jones! Sage, wie steht es?« versetzte der Mann, der Frazer die Hausthür geöffnet hatte. »Gut. Aber wir müssen noch unge fähr acht Wochen warten. Die Sen dungen, die jetzt heriibertommen, sind nicht so werthvoll. Erst im Frühjahr, wenn die Schiffsahrt nach Amerika nicht mehr so gefährlich ist, wie im Winter, kommen die Werthsachen, und dann ist auch die günstige Zeit siir uns. Jetzt tönnte bei Schneesall aus den Trittbrettern eine Spur beiben, die uns oeoräth; bei Glatteis wäre die Sache äußerst gefährlich. Wir müsses warten, bis Thautoetter kommt. Jch denke, so Mitte März, wenn Neu mond ist, können wir die Sache aus führen. Doch nun laßt uns keine Zeit verlieren. Kommt her; ich will euch eine Siizze des Wagens zeichnen, da mit ihr genau orientirt seid. Jch er warte, daß Jhr morgen wieder abreist und euch möglichst wenig hier sehen laßt. Es genügt, wenn später ders Verdacht auf mich allein fällt!« Nachdem Frazer fast acht Tage lang in Ostende Stizzen gezeichnet hatte, kam er wieder nach Brüssel zuriick und begann hier sein ziemlich großes Bild zu entwersen. Die Genremalerei ge lang dem Engländev entschieden bes ser als seine Landschaften. Das Bild versprach recht gut zu werden. Mit welcher Gewissenhaftigkeit malte aber auch Frazeri Er war im Stande, un geduldig auf Emil einen halben Tag zu warten, um von diesem zu erfahren, wie ein Bolzen oder ein Niet in dem Wagen sitze, oder nach welcher Richtung hin sich die Thiir öffne. Ev hatte das alles ja in seinem Skizzenbuch aber er war übertrieben genau und holte immer wieder den Rath seines Freun des ein. Als Caperon eines Abends zurück kam, klagte ihm Frazer, er habe sich den ganzen Nachmittag den Kon dar über zersbrochen, wie er das Geheimniß malen solle. Damit komme er nicht zu Stande. Er habe nur höchst un sichere Slizzen davon entworfen und möchte gerade darin keinen Fehler ma chen. Eaperon, der sich schon seit län gerer Zeit mit Frazer duzte, beruhigte den Freund lächelnd. ,,Mach dir dark iiber keine Sorgen, ich bringe dir über: morgen ein solches Schlos-, mit. Sie» sind alle gleichmäßig construirt· Du darfst aber nicht darüber sprechen, daß ich dir eines bringe. Es ist verboten, die Geheimschlöfsev aus dem Bureau zu entfernen. Du kannst e5 einen Tag lang hier behalten, während ich zu Hause bin, dann ist das Schloß ge wissermaßen unter meiner Aufsicht, und bei dir hat es ja überhaupt keine Gefahr.« Frazer war sehr ängstlich und lehnte das Anerbieten ab. Er wollte dem Freund, den er so hoch schätzte, und den er so gevn hatte, keine Unannehmlich keiten bereiten. Aber Caperon lachte ihn aus, und als er das nächste Mal von Ostende zurückkam, brachte er in der That ein Geheimschloß mit, dessen Construktion er mit großem Eifer dem Freunde erklärte. Frazer machte sich sehr sorgfältig Stizzen von dem Schloß, sogar solche in natiirlicher Größe. Als Caperon Nachmittags ausgegangen war, nahm er in seiner Gewissenhaftigkeit sogar einige Wachs abdriicle des Schlüssels, der sehr kunst voll gearbeitet war. Als dann am nächsten Tage Caperon nach Oftende fuhr, gab ihm Frazer das Schloß wie ders mit und bat ihn dringend, vorsich tig zu sein, damit . keine Unannehm lichkeiten habe. — Am Nachmittag des Tages, an dem Eaperon in Ostende war, um Nachts wieder zurückzukehren, erhielt Frazer den Besuch eines Landsmannes. Er schloß sich mit ihm eine Stunde lang ein, hielt im Flüsterton eine Instruk tion an deri Staffelei ab und gab dem Engländer, der genau so aus sah wie der Mann, der ihm in Oftende die Hausthür geöffnet hatte, sorgfältig gearbeitete Bleistiftstizzen des internationalen Posttoagens, des Geheimschlofses und die Wachsabdrücke des Schlüssels mit . Jm Laufe der nächsten Woche wurde das Bild fertig. Eines Tages kam ein Mann, der im Austrage Frazers einen » kostbaren Rahmen zu dem Bilde brach te, und nachdem dasselbe in den Rah I men eingefügt war-, überreichte es mit ! warm empfundenen Worten Frazer feinem Freunde Emil Caperon zum i Andenken. Zwei Tage später erhielt szsrazer aus London eine Depesche, die er auch Ca I peron zeigte, und in der ihm die Mit I theilung wurde, daß seine Mutter I schwer ertranlt sei und ihn zu sehen I wünsche s Es war recht unangenehm sür Fra I zer, seine Massagetur zu unterbrechen, I aber natürlich durfte er« nicht zögern, I an das Krankenbett der Mutter zu ei - len. Er ertliirte ausdrücklich das; er I in spätestens acht Tagen wieder zurück - kehren werde, und das; er sein Hicnnier behalte Dann reiste er« nach Ostende, um mit dem Schiff über Dover nach London zu eilen. Z. Das Dampsschisf von Dover mit den Londoner Passagieren lief kurz vor zwölf Uhr Nachts in den Häsen von Ostende ein und legte sich am - Quai fest. Die Passagiere stiegen aus und direlt am Quai auf dein Hasen bahnhos in den bereitstehenden Eil zug, der nach Briissel fährt Die größte Zahl der Reisenden benutzte diesen Zug Die internationale Post war- dies mal außerordentlich start; dies über raschte die belgischen Postbeamten aber durchaus nicht, denn der Donnerstag ist gewöhnlich ein starker Posttag, weil im Laufe des Vormittags in London verschiedene Dampfer von New York eintreffen. Jn den letzten Abtheil des Wagens zweiter Klasse, dev dicht vor dem A. B.-Postwagen sich befand, hatten sich zwei Herren gesetzt, die ihrem Aeusze ren nach Engländer waren. Kurz vor der Abfahrt desZuges kamen noch zwei andere Passagiere. die suchend am Zuge entlanggingen und endlich in denselben Abtheil stiegen. Der Schafs ner bemerkte, daß die vier Herren nicht » zu einander gehörten, denn sie saßen je i in einer Ecke und tümmerten sich nichts umeinander Die Post war endlich glücklich ver-s laden Noch im letzten Augenblick wur den die Bleiverschliisse aus beiden Sei- 1 ten des Wagens befestigt und die Sicherheitsschlösser vorgelegt, dannl wurde das Abfahrtssinal gegeben, und l der- Zug jagte hinaus in die dunkle Nacht. Als er einige Minuten in Bewegung war, fragte einer der Herren, die zu erst eingestiegen waren, die später Hinzukommenem »Habt ihr mit dem Schaffner gesprochen?« »Jawohl,« entgegnete der eine, der aber in der anderen Ecke sitzen blieb, »ich habe ihm ein Trinkgeld gegeben, damit er uns bis Brüssel schlafen läßt. Jch habe ihn gebeten, er solle niemand in das Coupe hereinlassen, und er wird es auch nicht thun.« »Gut«, lautete die Antwort, »dann an’s Werk!« »Wir können bis Gent nichts un ternehmen. Der Zug fährt bis Brügge nur zwanzig Minuten und hält dort eine Minute. Dann fährt er bis Gent vierunddreifzig Minuten. Wir können in dieser Zeit die Vorbereitungen tref fen, aber die Hauptsache muß zwischen Gent und Brüssel geschehen· Wir ha ben dann zweiundsünfzig Minuten Zeit, in diesen kann viel geschehen. Habt ihr alles zur Hand?« »Es ist alles vorbereitet, Nones!« »Dann macht die Behälter zurecht.« Die vier Reisenden hatten ziemlich umsangreiches GepiicL Die Handw schen und Koffer wurden sämmtlich geleert, und es zeigte sich, daß sie ver biiltnifxniiißig wenig Inhalt hatten. Das gesammte Gepack, das in ihnen steckte, wurde in zwei Handtaschen fest verpacit, so dasz noch zwei Handtaschen und zwei Koffer leer zur Verfügung blieben. Brügge und zwanzig Minuten spä ter Gent wurden passirt. Die Reisen den schliefen jedesmal, wie der Schaff ner, der in den Wagen hineinfah, be merkte. Jn Brügge stieg der Schaff ner in den Abtheil dritter Klasse ein, in dem er zusammen mit den anderen Collegen während der Fahrt Platz zu; nehmen hatte, da Schaffnersitze, wie bei uns, bei den belgischen Wagen da mals nicht vorhanden waren. Nachdem Gent passirt war, klappten die Jnsassen des letzten Abtheils vor dem Postwa gen A. B. die Lampenschirme aus dunkelgrünem Stoff heruntev, und es . war nun fast ganz dunkel im Wagen. Die Lampen warfen auch nach außen keinen Schein. Der eine der vier Jnsassen öffnete darauf vorsichtig dieThijr und schwang sich auf das Trittbrett hinaus-. Trotz dem der Zug in voller Fahrt war, schob er sich vorsichtig bis an das Ende des Wagens und tastete darauf nach dem Griff, der am Kopfende des Post lvagens A. B. angebracht ist, und nach dem er ihn gefaßt hatte, schwang er sich auf das Trittbrett des Postwa gens. Jhm folgte der zweite der Jn sassen und schließlich der dritte, der jedoch am Ende des Tritt brettg des Personenwagens stehen blieb. Der vierte Jnsasse schloß die Thür des Abtheils und lehnte sich aus dem Fenster. »Macht rasch«,rief er halblaut, »Sta tion Alost wird sofort Passirt.« »Das macht nichts-", lautete die Antwort, »der Bahnsteig liegt drüben auf der anderen Seite, ebenso der der nächsten Station. Hier sieht uns kein Mensch.« Das Geheimschlosz am Postwagen wurde mit einem Schlüssel geöffnet, die Bindfaden der Bleisiegel durch » fchnitten; dann öffneten die Diebe die Thür des Postwagens, und zwei von s ihnen schwangen sich hinein. Der dritte Jblieb auf dem Trittbrett stehen, der ; vierte behielt seinen Platz im Fenster : des Abtheils. Als die beiden Einbu » eher im Jnneren des Postwagens wa ren, zündeten sie eine kleine Laterne an T und leuchteten auf dem Boden umher, auf dem die Postsäcle aufgestapelt wa ren. Sie suchten die aus, die mit blauen Etitetten gezeichnet waren, weil diese Wertbsachen und Geld enthalten. Dann zogen sie lange, dolchartiae Messer sowie krumme, haarscharfe Gartenmefser aus ihren Kleidern und schnitten die Säcke aus. Mit großer Geschwindigkeit wurden die Geldbrie fe, die Werthpatete, welche Geld oder» Brillanten enthielten, ausgerissen und ihres Jnhaltg beraubt. Nach viertel stündiger Arbeit gaben die Räuber nach außen ein Zeichen. Der Mann, der im Abtheil saß, gab eine leere Ta sche dem Manne, der aus dem Tritt: breit stand, und dieser gab die leere Tasche in den Postwagen. Nach eini ger Zeit kam die Tasche auf demselben Weg gestillt zurück. So wurden auch die zweite Tasche und dann die Koffer nach dein Postwagen leer befördert und gefiillt zurückgegeben Lange, bevor der Zug den Bahnhof in Brijssel erreichte, saßen die vier Diebe wieder in ihrem Abtheil zusam men, und man sah ihren Gesichtern die Freude über den gelungenen Streich an »Wie viel wird es ungefähr sein, Jones?« fragte einer von ihr-eri. »Ich denke, es werden ziori bis drei Millionen sein, außerdem noch Pas Piere, die man nicht gleieb verlaufen kann, die aber später noch umgesth werden lönnen.« »Habt ihr auch alle Spuren dep- ": wischt, ist das Schloß wieder vorge legt Z« »Alles ist geschehen, nur die Bleivev schlüsse konnten wir nicht wieder an- - machen; auf die achtet aber so leicht-H kein Mensch.« »Es bleibt also dabei: ihr beiden laßt euch von dem Schaffner wecken und steigt in Briissel aus. Wie vers - lassen erst in Lüttich den Zug, denn unsere Fahrlarte lautet dahin. Wenn in Vervieris die Sache entdeckt wird, sind wir längst über alle Verge!« »Und nun Ehrlichkeit! Uebermorgen TI« treffen wir uns in London, dort wird i " getheilt.« Der Zug lief in Briissel ein. Der Schaffner hatte Mühe und Roth, die - beiden Herren, die bis Vriissel fuhren, zu erwecken, so fest schliefen sie. Sie verließen mit den Koffern und Taschen den Wagen. Die beiden anderen Her ren baten den Schasfner, sie erst in Liittich zu werten. Sie waren sehr erstaunt, als sie erfuhren, sie müßten umsteigen. Sie nahmen anscheinend mißmuthig ihr Gepäck und suchten den Schnellng 67 auf, an welchen auch der Postwagen A. B. angehängt wunde. Sechs Minuten später verließ der Schnellzug 67 den Brüsseler Bahnhof, um über Liittich und Verviers nach Aachen und Köln zu fah-ren. Um 4 Uhr 24 Minuten früh traf er in Ver viers ein. Die deutsche Grenze liegt erst bei HerbesthaL die deutschen Be amten fahren aber dem belgischen Zug bis Verviers entgegen, um von dort die Post zu übernehmen. Die belgi schen Postbeamten, die von Brüssel den Schnellzug 67 begleitet hatten, über gaben erst die belgische Post, dann ver fügten sie sich mit den deutschen Beam ten zusammen nach dem internationa len Postwagen A. B., um hier bei der Uebernahme anwesend zu sein. Die deutschen Beamten prüften den Wagen mit aller Sorgfalt nicht nur auf der einen, sondern auch auf der- anderen Seite. Die Geheimschlöfser waren in Ordnung, nur fehlte auf der einen Seite ein Bleiverschluß. Die belgischen Beamten meinten, derselbe sei anzulegen vergessen wor den; die Post sei so groß gewesen, daß in Ostende kaum Zeit blieb, um die Schlösser anzulegen. Die Geheim schlösser wurden jetzt geöffnet, die Blei fiegel an der anderen Seite des Wa gens durchschnitten und die Thür ge öffnet. Erischreckt sprangen die Beam ten zurijck: ein Stoß loser Briefe, der an der Thin aufgestapelt gewesen, fiel ihnen entgegen. M-. --s-, sz sz »He » x Jm Inneren des Postwagens sah es grauenhaft aus: dieWerthsäcke sämmt lichl durchschnitten und zerfetzt, Briefe, Briefurnschläge, Postformulare lagen auf dem Boden herum. Offenbav hatte ein Raub stattgefunden, und die deutschen Beamten weigerten sich in folgedessen, die Post zu übernehmen. Der IZtationgvorsteher von Verviers holte die Polizei, und dann ging man an die Untersuchung Der Postwagen war in der That beraubt. Man fand ein krumme5, scharfgeschliffenes Gar tenmesser, das zum Aufreißen deri Le dersiicke benutzt worden war. Die Un tersuchung wurde mit allem Eifer be trieben, denn der Schaden war ein un geheuren Es fehlten an baarem Gelde Millionen, und andere Millionen wa ren in Wechseln, Staatspapieren, Dia nianten und Gold verloren. Es wurde festgestellt, daf; höchst wahrscheinlich die Vier Leute, die im letzten Abtheil des Zuges gesessen hatten, die Räuber gewesen waren. Jm Laufe der Untersuchung meldete Caperon pflichtgernäß was er von sei nem Freund Frazer wußte, nnd daß dieser niemals von England zurückge kehrt war, nachdem er die Depesche we gen der angeblichen Krankheit der Mutter erhalten hatte. Die von ihm bei Caperon zurückgelassenen Koffer enthielten werthlose alte Kleidung-Z stiicke und Malutensilien, die zumTheil erst in Brüssel gekauft waren. Die belgische Regierung hatte für einen Sachden von mehreren Millio nen aufzukommen Dabei deckte sie nicht einmal den Schaden vollständig, denn die Bankhäuser in Amerika und England deklariren bei den Post fast nie den vollen Jnhalt der Geldbriefe, weil sie die Portokosten sparen wollen, und versichern bei besonderen Privat gesellschasten zu mäßigen Prämien die Geld- und Werthsendungen. Diese Privatgesellschaften hatten ebenfalls ; noch große Summen für abhandenge l tommene Werthpapiere nnd Gelder zu t ersetzen. t i l s Von den Räubern entdeckte man kei ne Spur. Natürlich wurde von dem Augen blick an der internationale Postdienst über Ostende —— Brüssel vollständig geändert. Die Wagen wurden fortan von Postbeamten begleitet, und so leicht, wie es den intelligenten Einbrechern ge macht worden war, den Postwagen um Millionen zu berauben, war die Sache nun nicht mehr. Cinil Caperon hatte eine sehr unan genehme Untersuchung zu überstehen, durch lani er mit einein Verweis und einer Strafversetzung nach einer klei nen Stadt davon. Die englischen Diebe aber verzehren vielleicht heute als Rentiers in Ameri ka, England oder Italien die Früchte ihres mit so viel Geduld und Geschick lichkeit eingeleiteten und ausgeführten Millionendiebstahls im internationa len Postwagen A. B.