Tägliche Omaha Tribüne. (Omaha, Nebr.) 1912-1926, March 20, 1920, Image 6

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    TäMe Oaha TrlbSne .1
In Warschau.
Mit dem Enientezng. Tie großen Wandlungen der, neuen
Zeit. Tie Front im Osten. Tchicber. Tie deutschen Hcl
dengraber.
-- Warschau. 24. Jan. Mit der
Pünktlichkeit eint gewissknhaftkn Orient
Expreß rollt der Paris.Wien.Warschauer
Ententezug in die weite Bahnhofshalle.
I einer Nacht und einem halben Tag
haben wir die fünffache Grenzkontrolle
TeutfchOestcrreichs, der Tschechoflowa
lei und Polens passiert, die Strecke Wien
Warschau zurückgelegt. Keine auf
regende, aber für die Kohlennot dieser
Kricgszeit immerhin befriedigende Lei,
fiung. Englische Offizier, italienische
Schieber, amerikanische Missionsmitglik
der, eleqante Französinnen entsteigen den
luxuriösen Wagen des EntentezugcS,
während in den lichtlosen, mühsam zu
sammengckltbtcn Anhängcwagen Deutsch,
Oesterreichs und der Tfechoslowakei die
Angehörigen der besiegten und befreiten
Völker nach dem Ausgang drangen. Sie
leil von ihnen verbieten schon die Valuta,
unterschiede die Benutzung der eigent
lichen Ententwagen, in denen ein Schlaf
' ' platz 1000, ein Mittagessen 300, eine
Flasche Wein 250 Kronen kostet. Sa
führten wirtschaftliche Notwendigkeiten
die getrennten Böller Oesterreichs wieder
zusammen. -
In einer Droschke von bemerkenswer
ter Schäbigkeit halte ich meinen Einzug
in die Stadt. Mit ihren reichen Pala
sten und ihren schönen Gärten bietet
sie noch immer jenes interessante Bild,
das so vielen Deutschen in den Jahren
des Krieges und der Besetzung bekannt
Leworven ist. Ader das Stratzenvild
zeigt deutlich die großen Wandlungen
der neuen Zeit. Die Equipagen des
Adels und die russischen Gespanne des
zarischen Nußlanös sind schon m Ab
gründe des Weltkrieges verschwunden
Aber auch seit dem gefahrvollen Abzug
der deutschen Truppen .im November
1318 hat das Leben Warschaus tiefrei
cbende Äcränderunaen erfahren. Ter
Demokratisierung der obersten Gewalten
ist sehr rasch die Demokratisierung der
polnischen Gesellschaft gefolgt. Bewegt,
in unablässigem Wechsel, fließt der
Strom der Menschen durch die breiten
Straßen der inneren Gewässer, das in
den Zeiten des zarischen Rußlands dessen
Tiefen und Abgründe vkrdeckte. In sei
ner glanzlosen Flut mischen sich heute
die Elemente, die das Sturmjahr 1913
vollends aus der Tiefe an die Ober,
Fläche gerissen hat. Bauern und Ardei
ter, Kleinbürger und Juden geben heute
auch jenen Vierteln das Gepräge, von
denen sie einst die Scheu bor der gie
renden Klasse ' ferngehalten hat. Die
braune Sukmane der Bauern, die Pelz,
rocke der Bürger, die schwarzen Kaftane
der Juden mischen sich zu einem einför
migen Grau. Und nur die silbernen
, Tressen der polnischen Offiziere, die
' weisen 'Nützen dcr Studenten, die blauen
Mäntel der polnischen Frauenkompagnien
werfen helle Lichter über die dunkle
Masse.
Dabei leidet Warschau unter einer
Menscheujülle, wie sie kaum eine zweite
Stadt Europas kennt. Die Zahl .seiner
Bewokner ist, von kaum einer Million
zur Zeit ihrer deutschen Besetzung auf
1,3000,000 gestiegen. Alles, was der
Vormarsch der Roten Armeen aus Sow
jetrußlcmd und der Ukraine vertrieben
hat, ist in der Hauptstadt Polens zux
sammengeströmt. Die Bemühungen der
polnischen Begierung und der War,
schauer Wunizipalverwaltung, an deren
Spitze noch immer der Stadtpräsident
Drzewiei steht, diesen Zustrom wieder
nach dem Osten zurückzulenhen, sind ohne
-größeren Erfolg geblieben. Und wie
überall so haben auch hier die Generale
und Zivilmissionen der Alliierten die
vornehmsten Hotels, die schönsten Zim,
rner mit Beschlag belegt.
Schon an diesem Ueberfluß amerika
nischer Generale und französischer
Stabsoffiziere kann man erkennen, daß
man sich der Front im Osten nähert,
daß man sich in einem noch immer Krieg
sühnenden Land befindet. Im Schloß
am Sachsenplatz, wo früher der General,
stab des deutschen Generalgouvernements
Warschau sein Lager aufgeschlagen, sitzt
jetzt oer Generalftab der polnischen Ar
mee. Und von dort laufen die Drähte
hinaus zur weißrussisch-litauischen und
z,ir wolbynischen Front Petljuras. Let,
Un und Litauer sitzen hier und verhan
del über ein Bündnis. Die ganze
ttandstaatenpolitik, die einst der deutsche
Generalstab erfunden hat, befindet sich
in neuem Fluß. Und jeden Abend der,
öffentlichen die Blätter das Commun
q',iidcs stellvertretenden Generalstabs'
Klainski über die Kämpfe des Tages,
ohne daß im übrigen diese Mitteilungen
ein lebhafteres Interesse bei den Lesern
erregen, obwohl einem hier sofort neben
der sozialen Betrachtung des bolschewi,
frischen Problems das nationale entge,
gentritt. Weit größere Aufmerksamkeit
finden die Nachrichten aus dem Westen,
tvo General Haller eben die Besetzung
der abgetretenen Gebiete durchzuführen
hat. Aber auch dieses Ereignis ist. wenn
man von der Proklamation des Stabs
chcfs PilsudsZi und den Spezialberichten
der Blätter absteht, in den Sorgen des
täglichen Lebens ohne größere öffentliche
Kundgebungen vorübergegangen. .
Denn auch Warschau und der pol,
nifche Staat leiden sichtlich unter jenen
Uebeln,' die sonst die Welt bedrücken. Der
Änblick von Butter, Fleisch und Brot
in offene Geschäften ist geeignet, den
dt.rk'end? Mitteleuropäer vorübergehend
zu verblüffen. Aber mag merkt sehr
rasch, daß das alles nicht in größen Wen,
en vorhanden und für bie Masse der
Bevölkerung jedenfales ' unerschwinglich "
ist. Brot. Mehl, Zucker. Fleisch und
Kohle werden auch hier auf Karten otw
g'Fcben, um jedem wenigstens ein Min,
deslmaß zu sichern. Darüber hinaus muß
man in den Läden Warschaus beinahe
die Schlcichhandelspreise des Teutschen
Reiche zahlen. Dabei war Polen ur
sprünglich für das ganze Jahr versorgt.
Nach der Dertnibung der Bolschewik! im
Osten mußte S aber grcße Mengen von ,
Lcb?nkmi'.tcln in die hungernden Gebiete
senden, so daß Polen heute Fett und
'lli'M zum teil selbst aus Amerika be
zieht. Tie ärgste Krise scheint übrigens
gegenwärtig überwunden zu sein. Da
gegen macht sich dcr Kohlenmangel trotz
dcr gesteigerten Forderung im Tobro
waer Gebiet auf das empfindlichste be
merkbar. Augenblicklich ist die GaSbe
leuchtung eingestellt, alle Casös, Ncstau
rants und Bergnllgungslokole werden
um 0 lllrc abends geschlossen. Bon
12 Uhr nachts bis 3 Uhr morgmS darf
memand ohne besondere Erlaubnis die
Straße betreten. Sonderbarerweise
werden alle diese Verordnungen gerade
hier im Osten sogar eingehalten.
Die 7!ot der Massen hindert freilich
auch in Warschau das Geschlecht der
Schieber nicht, das Leben zu genießen.
Dcr polnische Paz Karze ist der würdige
Genosse seiner westlichen Brüder. Aber
die Regierung ist wenigstens nicht ganz
cyne erfolg bemuht, ihm die Schauste!,
lung seines Reichtums ein wenig zu er,
schweren. Sie hat allerlei drakonische
Äcaßregeln gegen den Luxus der neuen
Reichen ersonnen, und zur Bekämpfung
ter großen Korruption hat jetzt der Ju
siizausschuß des Sejm der Nationaloer,
sammlung sogar die Verhängung der
Todesstrafe gegen bestechliche Beamte be,
schlössen.
' Das alles hat allerdings die Wirt
schaftliche Not der großen Messe nicht
wesentlich gemildert. Die Kaufkraft deS
Geldes ist auch in Polen Zürchterlich ge
funken. Die Löhne, die sich heute für
den gelernten Arbeiter auf 1300 bis
2000 polnische Mark monatlich belaufen,
halten trotz aller Steigerungen mit der
Teuerung nicht Schritt, und draußen in
den äußeren Bezirken, in den Judenvier
tcln der Gcsia und Dziclna herrscht uebe
fchrciblilhcs Elend. Gestalten, die aus
den iqcunerviertcln Stambuls oder Sa
lonikis zu stammen scheinen, kommen auö
den schmutzstarrenden Häusern, phanta
stifche Lumpenbündel waten durch den
tiefen Kot der Strtßen, unsagbar der
wahrlostcn Kinder umdrängen mit rast
losem Geschrei die Milchstationen der
jüdisch-amerikanischcn Mission, die in
ganz Polen ihr segensreiches Werk voll,
bringt. Gleichwol)! scheint man den Um
fang des sozialen Elends im polnischen
Staat vielfach zu überschätzen. Nach der
Statistik vom 27. Dezember 1919 betrug
die Zahl der Arbeitslosen in Warschau
58,000, im ganzen unter polnischer Vcr
waltung siehenden Gebiet an 300,000.
DaS ist für 18 bis 20 Millionen Men-.
schen nicht übermäßig viel, und man
kann jedenfalls überall 'dem festen Glau.
den begegnen, daß Polen, gestützt auf
feine reichen Hilfsmittel, in der Lage
ist, auch die wirtschaftlichen Schwierig
keilen der Gegenwart t zu überwinden,
wenn es ihm gelingt, die Probleme sein
äußeren und seiner inneren Politik zu
entwirren.
Alle diese Probkme greifen allerdings
vorläufig chaotisch-ineinander, und erst
hier, näher dem Osten, erkennt man,
welch? ungeheure Bedeutung viele Fragen
der4olnischen Politik, vor allem die Fra.
gen der Einstellung Polens zu Rußland
und zum Bolschewismus für Europa,
ja für die ganze Welt besitzen. Es ist
unmöglich, diese Fragen so rasch zu über
sehen, und ebenso unmöglich ist es. nach
dem ersten Eindruck, etwas über die
Stimmungen zu sagen, die dieses weite,
auS jo verschiedenen Teilen und Gesell
schaftsklassen zusammen gefügte Reich
bewegen. Man kann höchstens fesistellen.
daß die Polen sehr eifrig auf ihre Un
abhängigkeit nach allen Seiten bedacht
sind, und man kann vielleicht auö den
ersten persönlichen Erfahrungen einige
Schlüsse auf die Stimmring gegenüber
Deutschland ziehen. Zumindest in War,
schau ist von jenem Haß, der dem Deut,
schen heute noch aus Frankreich und Eng,
land entgegenweht, nichts zu merken.
Man kann überall die deutsche Sprache
sprechen. mm erhält auf deutsche Fra,
gen vielfach deutsche Antwort, und die
Geschäftsleute machen aus dem Ankauf
nnes deutsche,' Bleistiftes durch den deut
schen Kunden kein Politikum. Die Ueber,
zeugung, daß Polen in ein erträgliches
Verhältnis zu Deutschland kommen muß,
ist ziemlich allgemein, und man kann
selbst einigem Verständnis für die Auf
sassung begegnen, daß es für die Deut
schen erheblich schwieriger ist. zu den
Ergebnissen oes Frieoens von Versailles
ein freundliches Gesicht zu machen, als
für die Polen. Damit soll nicht gesagt
werden, daß man in Polen irgendwie
besonders liebenswürdige Geiüble für die
Deutschen hegt. Das Swbenmädsten in.
meinkm Hotel hat mich erst heute mor
gen persönlich sur die fehlende Ofentür,
die seinerzeit von der deutschen Obersten
Heeresleitung, zur Herstellung irgend,
eines Li,riegögerätes verwendet worden ist.
verantwortlich gemacht. Und auch sonst
fällt der Erinnerung an die Okkupation
ein betrüblicher Einfluß auf das politi
Msuyiöieoen oer Polen zu. Jcom
falls spielen Teutschland und Oester
reich-Ungarn in der Befreiungsgeschichte
Polens nicht jene Rolle, von der Wil
heim II. und Franz Joseph l. in ihrem
berühmten Manifest vom 5. November
1U16 schwärmten. Aber das gleiche
Schicksal widerfährt heute schließlich auch
den Alliierten der polnischen Republik
Denn die Polen fühlen sich überhaupt
nicht befreit. Für sie ist die Entstehung
des freien polnischen Staates einfach eine
Silbstverständlichkeit der geschichtlichen
Entwickluna, die der Weltkrieg eingeleitet
hat; ' Selbst die Tatsache, daß diese Ent
Wicklung nur als Folge der Niederwer
sungRtißlandZ durch die deutschen Heere
möglich geworden ist, scheint ihrer Er
innerurg entschwunden.
T:e Opfer dieser Kampfe aber ruhen
jetzt überall in polnischer Erde. Ueberall
in der . Umgebung Warschaus liege
Deutschlands gefallene Söhne. Weite
Gräberfelder ziehen sich um Grodisk,
Modlin, Sochaczew und Piaseczno. Man ,
Hin Arics des Kai
jers an den Jursten
von Kurstenberg.
Berlin. 24. Januar.
Tie Neue Berliner .Zeitung' der
öffentlich! (in Handschreiben deS
Kaisers an den Fürsten von
Fiirstenberg vom 2. Januar dieses
Jahres, daS angeblich in dem Stockhol
wer Blatt .Aftontidningen" erschienen
sein soll. Indem wir der .Neuen Ber
liner Zeitung" die Verantwortung i V
lassen, geben wir den Brief so wieder,
wie er in dem Blatt steht:
Amcrongen, den 2. Januar 1920.
Lieber Freund!
Wie haben Sie Fest und Jahres
Wechsel verlebt? Ich freute mich, als
Möller, dcr mitWilhelm kam, mir sagte,
in dem Herzen meines Volkes
brenne mir mancher Weihnachtsbaum,
aber ich bin ohne Hoffnung für
m i ch und f a ft o h n e W u n s ch. Die
Zukunft ist dunkel und wenn ich daran
denke, habe ich traurige Stunden. W i l
Helm klagt oft brieflich und mündlich
über Restriktionen, weil alles so teuer
ist und er etwas beschränkt ist durch
C ä e i l i e n s Verluste in russischen
Papieren. Ich bin dafür, daß er sobald
als möglich mit den Seinen nach
Oels geht, wo r billiger lebt. 'Von
allen Kindern hatten Viktoria und ich
Weihnachtsgrüße, außer Eitel, der selbst
hier war. freilich nicht ohne die bekann
ten Freifsemcnts. ' Was sagen Sie zu
der gewaltsamen, widerrechtli
chen Veröffentlichung inei
nerBriefe an Nikolaus? Diese
Leute haben keinen Funken von Anstand
im Leibe und ich muß froh fein, wenn
es ohne Entstellungen abgeht. Ich habe
übrigens L L w e f e l d (gemeint ist
hier offenbar der General. D. Red.) ge
schrieben, daß er gegen die BeröfsLNtli
chung der Privatbriefe p rotestieren
soll, aber da die Veröffentlichung in
den feindlichen Ländern er
folgt, wird er weniger ausrichten kön
nen als im Falle Bismarck. Daß auch
ein deutsches B l a t t an diesen
Schmutzereien teilnimmt, wundert mich
nicht nach der Behandlung, die ich von
diesem Volke erfahren habe und noch,
täglich. erfahre. Jchhegenichtden
Wunsch, je nach Deutschland
zurückzukehren. Dcr Anblick des
Zusammenbruchs durch seine
eigene Schuld wäre mir ' zu
schmerzlich: dazu daS Gefühl, daß alle
mich betrogen und dann verlassen haben!
Ich werde eS nicht los, nach allem, was
ich von dem Untersuchungsausschuh las,
das Gefühl. hinter'S Licht geführt zu
sein, selbst von Männern wie Beth
mann, Ludendorsf, von
Tirpitz ganz zu schweigen! Vielleicht
kommt mein Mißtrauen aus dcr Ein
famkeit, in der ich lebe, und die nur zu
weilen durch Besuche unterbrochen wird.
Ich freue mich auf D o o r n.
. Vorhin las Jlsemann aus dem ,Eou
rant" (Nieuwe Rotterdamsche Cou
rant") vor, daß Sir Frank Lascellcs
gestorben ist, der auch ein Getreuer war.
Wieder einer von der alten Garde da
hin, dazu einer, der sich vorteilhaft von
denen unterschied, die jetzt feit einem
Jahrzehnt die englische Politik besorgen.
Ich schätzte ihn sehr, ja ich hatte fast
Freundschaft für ihn in den Tagen, wo
er Wellet ablöste und hab ihn oft bei
mir gesehen. Seine Tochter, die ich der
heiraten half, war ein liebenswürdiges
Kind. Er hatte VerftänniS für
Deutschlands Lebensrechte.
aber in London wollten sie keins haben
und sandten Goschen. Ich glaube, es
hat in London sehr verstimmt, daß ich
ihm bei seinem Abschied den Schwarzen
Adler gab, aber es war mir ein Bedürs
nis. Ich habe jetzt gesudheitich
viel zu leiden, die alten Schmer
zen in Arm und Bein, aber mehr s e e
lisch, angesichts der ungewissen
Zukunft. Was wird werden? Ich
erhoffe nichts Gunstiges, da feit Niko
laus' tragischem Ende unter den Kugeln
der Kaisermörder das monarchische
Solida ritätsgefühl aus der
Welt g e g a n g en ist und die anderen
vielleicht glauben, ihren Thron zu
sichern, indem sie mich preisgeben. Hein
richs und Viktorias Appell sind ergan
gen, ohne ein Echo Zu finden.
Leben Sie wohl, mein Freund, und
seien Sie herzlichst gegrüßt von Ihrem
wohlgesinnten
Wiiyeim I. K.
TaS Deutschtum' der T'tadt Tilsit.
Der Magistrat und die Stadtverord-
neten von Tilsit veröffentlichen in der
Loslösungsfrage folgende feierliche Er
klärung: Fortgesetzt ausgestreuten Ge
rüchten gegenüber, daß, die Tilsiter Be
völkerung eine Vereinigung mit Litauen
wünsche, erklären wir als berufene
Stadtvertreter einstimmige daß wir den
Gedanken einer Lostrennung von Ost
Preußen und dem Deutschen Reiche zu,
rückweisen. Die Stadt Tilsit ist deutsch
und soll es bleiben
muß anerkennen, daß die Polen mit
Sorgfalt und Ehrfurcht für diese Gräber
sorgen. In er Ulica Krolewska LZ ha
ben sie eine eigene Abteilung dcs Kriegs
Ministeriums für die Gräberfürforge ge
schaffen, die unter der der Leitung deS
HauptmannS Raczienski steht, ihre Ler
tretung bei allen Generalkommandos be
sitzt, und alle Gräber in gleich forgfäf
tiger Weife pflegt. Und im Anblick die
ser Gräber fragt man wohl, wann sich
die Menschen einen Teil jener Hocbach
tung, die sie den Toten erweisen, endlich,
bei Lebzeiten entgegebrinaen werde.
rna!fdje SsD.
2er aMsmitMe
KricgsbciDchteiibuil!!
(Jliil dem l'frtin lagedlall.)
Wie weit die antisemitische Propa
ganda geht, haben in der letzten Zeit
eine Reihe von Fällen gezeigt, die sich
abseits vom öffentlichen Ütbtn, in pri
vaten Zirkeln oder in Vereinen, abspiel,
ten. Nicht in allen Fällen scheint man
so rücksichtslos vorzugchen, wie im De
zcmbcr v. I.. in Ätunchen, wo daS ein
zige jüdische Mitglied eines gcscllschsft
lichen Bcreins, das zugleich Ehrenvor
sitzender war, durch einen Beschluß der
Versammlung seiner Ehren entkleidet
wurde. Nach der Abstimmung entfernte
sich das Mitglied und erschoß sich. Aus
einem Briefe des Kölner Kriegsbeschä
digtenbundcs (Ortsgruppe Sülz-Kletten
derg) entnehmen wir, daß Kameraden
dieses Bundes Anstoß an der Zugehörig
kcit eines jüdischen Mitgliedes zum Vor
staiive nahmen. Der Vorsitzende, Ober
leutnant a. D. Lützcler, richtete darauf
an den Herrn ein Schreiben, in dem es
u. a. heißt:
.Wir könnrn uns und dieser AZ
schauung muß ich mich auch persönlich
anschlicjjkn , nicht der gebieterischen
Notwendigkeit der Stunde - entziehen.
r jedem weiteren Eindringen einer unserem
Volksleben fremden, a feindlichen rafsi
gen Minderheit und das ist in unse
ren Augen die jüdische Rasse auch im
Kleinsten und Keinen Einhalt zu tun.
Und wie wir in allen Berufen. Or
ganisationen usw. bis in unsere heutigen
obersten Regiernngsstellen hinein eine
völlig ungerechtfertigte und bedrohlich
erscheinende Vorherrschaft der jüdischen
Rasse feststellen und abwehren müssen,
so wollen wir auch in unseren Vereinen,
Gesellschaften usw. einer leicht in glei
chem Sinne Gefahr drohenden Ver
jiidung begegnen und wenigstens unse
ren leitenden Stellen Fremdrassige, und
wenn sie sonst noch so liebe und nette
Menschen waren, fernhalten.
Darum bitte ich Sie heute sireng ver
traulich und persönlich, unter irgend
einem Vorwande Ihr Amt als stedvcr
tretender Vorsitzender unserer Orts
gruppe niederlegen und aus dem Vor
stände ausscheiden zu wollen. Ich darf
Sie wiederholt versichern, daß Sie uns
nach wie vor als Mitglied lieb und wert
sein und vor jeder weiteren Kränkung
um Ihrer Rassenangehörigkeit willen be
wahrt bleiben werden."
W't eine unheimlich schleichende Epi
demie frißt der Antisemitismus, dieser
.Sozialiemus der Dummen", am deut
schen Volkskörper. 'Die laute antisemi
tische Hetze ist im Augenblick von der
Straße, verschwunden. Dafür scheint
man nun die antisemitische Propaganda
in die Vereine aller Art verlegt .zu
haben, um in unauffälliger Minierarbeit
zum Ziele zu kommen.
Französischem
(Juartkeransprüche.
B i n r t n, 2L Januar. Die Bela
stung des besetzten rheinischen Gebietes
durch französische Quartieransprüche
scheint feit der Ratifikation des Frie
dens nicht geringer, sondern siärZer zu
werden. Man beansprucht jetzt für den
persönlichen Gebrauch eines verheirateten
' Leutnants oder Oberleutnants zwei
Zimmer,
Hauptmanns drei Zimmer,
Majors vier Zimmer,
Oberstleutnants fünf Zimmer,
Oberst oder Brigadegenerali sechs
Zimmer.
Dazu jeweils eine Küche oder Mitbe
Nutzung der Küche, ferner für Dienst
boten mindestens ein Zimmer, bei Ober
sten und Brigadegenealcn zwei. Für ein
oder zwei Kinder ein besonderes Schlaf
zimmer, für drei und vier Kinder zwei
besondere Schlafzimmer, für jedes wei
tcre 'ständige Familienmitglied je ein be
sonderes Schlafzimmer. Die Räume
müssen möbliert, geheizt und mit Licht
versehen sein. Weiter muß Badbenützunz
mit kaltem und warmem Wasser unent
zeitlich gewährt werden. Für höhere
Grade als Brigadegenerale entscheidet
der Höchstkommandicrende von Fall zu
Fall. 1
Derart weitgehende Ansprüche sind von
den in Frage kommenden Städten, vor
allem im französisch besetzten Gebiet,
garnicht zu erfüllen, zumal keine Nei
gung zu einer ins Gewicht fallenden
Verringerung der Besatzungstruppen be
steht. Dazu kommt, daß französischer
seits eine offenkundige Ueberflutung des
deutschen Landes mit französischen Ele
menten herbeigeführt wird. in. denen
man kulturelle und wirtschaftliche Fak
toren mehr als militärische sieht, zum
Zwecke der .Durchdringung" der Rhein
lande zugunsten Frankreichs. Tie Quar
tierbeschaffung ist gar nicht mehr anders
möglich, als daß deutsche Familien aus
ihren Wohnungen zwangsweise entfernt
werden.
Religionsunterricht in Sachsen.
Dresden. 19. Juni. Die sächsische
Volkskammer fetzte sich in ihrer letzti;.
Sitzung über die Frage des Reliqions
Unterrichts auseinander, die in Sachse!-,
bekanntlich besonders geartet ist, a. las
Uebergangsschulgesetz im Wide.'sprcch
mit der Reichsoerfassung den Religions
unterricht aus der Schule entfernt. D,r
deutsch-demokratische Kultusminister Dr.
Seysert, ein bekannter Schulsachmann,
betonte, daß die sächsische Regierung da
für eintrete, was das Reichszesetz t'.ot
ausspreche: Die Normalform der Schule
ist die Gemeinschaftsschule. Bis Ostern
dieses Jahrci werde das Reichsschulz'jez
nicht fertig werden. ' Mag müsse daha
mit der Reichsregierung und National
Versammlung in Verbindung treren. um
ine Lösung der sächsischen Schulfr-.ge
zu finden, d auA vom lfali arurkinnt
werd.
tzrzbergerüöer die in
iernaiionake Falula
Konferenz. B e r l i n , 26. Januar. Das Wolfs
sche Telegraphenbureau verbreitet den
Inhalt einer Unterredung eineS ihrer
Vertreter mit dem Rcichsfinanzminister
Erzberger über das jetzt hcraukgekom
mene Memorandum, daS auf einer
jüngst im Haag abgehaltenen Konferenz
von Finanzvertretern verfaßt wurde.
Wir geben diese Unterredung nachstehend
wieder. ' '
Sie fragen mich nach meiner Ansicht
bezüglich deS Memorandums, daS von
angesehenen Finanzleuten und National
Lkonomen verschiedener Länder den Re
gicrungen Großbritanniens, der Ver
einigten Staaten von Amerika, Frank,
reichs, , Dänemarks, der Niederlande,
Norwegens, Schwedens und der Schweiz
übergeben worden ist und in dem mit
näherer Begründung die Einberufung
einer Konferenz von Finanzvertretern.
an der auch Deutschland und Deutsch
Oesterreich teilzunehmen hätten, empfoh
len wird. Ich teile die Auffassung, daß
nur eine gemeinsame Beratung der am
Kriege beteiligt gewesenen und der neu
traten Länder zu positiven Vorschlägen
darüber kommen kann, wie den Schwie
rigkeiten der durch den Krieg geschaffe
nen Finanzlage und der auf alle Länder
nachteilig einwirkenden Valutaentmer
tung der meisten europäischen Großstaa
ten begegnet werden kann. Die Unter.
Zeichner des Memorandums glauben,
daß kein Land auf eine sozial und Wirt
schaftlich geordnete Zukunft rechnen
könne, das sei laufegden Ausgaben
Nicht in Uebereinstimmung mit den Ein
nahmen bringen kann oder durch fortge
setzte Steigerung der Schulden und In
flation des Geldumlaufs seine laufenden
Bedürfnisse befriedigen will. Dieser
Auffassung stimme ich durchaus zu, und
ich habe es während meiner bisherigen
Amtstätigkeit immcr als meine wich
tigste Aufgabt betrachtet, in absehbarer
Zeit das Gleichgewicht zwischen den or
dentlichen Staatsausgaben und Staats
einnahmen herzustellen. Wer die in mei
ner Amtszeit bisher entstandenen
Stcuergesetze studiert, wird nicht darüber
im Zweifel fcin, daß sie gerade in Ver
folg dieses ersten Zieles der laufenden
Rcichsfinanzreform eine außerordentlich
große Belastung der Steuerträger be
deuten.
Deutschland wird aufs ernstlichste be
müht sein, die Verpflichtungen, die es
aus Grund des Friedensvertrages über
nommen hat, zu erfüllen, Deutschland
kann, soviel läßt sich schon heute mit,
oller Bestimmtheit sagen, solche Sum
men, wie sie die Entente uns teilweise
schon auferlegt hat, teilweise noch aufer
legen will, nur aufbringen, ' wenn
Deutschlands frühere Feinde'sich zu dem
Grundsatz bekennen.. daß ein Schuldner,
der zahlungsfähig syn soll, vor allem
erst lebensfähig sein muß. Mit Recht
heißt ks in dim erwähnten Wemoran
dilm, daß die Wiedergutmachungskom
Mission, falls sie auch bei der höchstmög
lichen Besteuerung der deutschen Bevölke
rung die Unmöglichkeit der Erfüllung
der bisher festgesetzten Verpflichtung er
kennt, den Umfang auf das Maß der
Zahlungsfähigkeit beschränken müsse. Ich
enenne in ucoereiniummung mir oen
Verfassern des Memorandums an, daß
sich auch unter den siegnichen Staaten
solche befinden, deren wirtschaftlich
Lage äußerst schwierig ist. Aber und
das dürfte die Meinung derer gewesen
sein, die das Memorandum verfaßt ha
ben die Lage der durch den Krieg
schwer geschädigten siegreichen Staaten
kann nicht durch eine Vernichtung
Deutschlands gebessert werden.
Den Vorschlägen, die in dem Mcmo
randum als Richtlinien für die Tätig
kcit der internationalen Konferenz ge
macht werden, kann ich im allgemeinen
zustimmen. Die Hilfe muh notwendiger
wcife von den Ländern kommen, deren
Verhältnisse durch einen günstigen Stand
der Handels bzw. Zahlungsbilanz und
des Wechselkurses gekennzeichnet werden.
Freilich muffen die durch den Krieg hart
betroffenen Länder, vor allem das Deut
sche Reich, auch von jeder Möglichkeit der
Selbsthilfe Gebrauch machen, und diese
Möglichkeit der Selbsthilfe ist in einer
Steigerung der produktiven Arbeit zu
erblicken. Aber jene so dringende Stei
gerung der Produktion ist in Deutsch
land abhängig von der wichtigen Vorbe
dingung einer ausreichenden Ernährung
der Bevölkerung und Belieferung von
Rohstoffen. Hier kann Deutschland und
Deutsch-Ocsterrcich nur die Gewährung
langfristiger Auslandskredite helfen, die
es ermöglichen. Lebensmittel und Roh
ftosfe vom kapitalkräftigen Auslande zu
beziehen, und die es damit gleichzeitig
gestatten, der Papiergeldoermehrung. der
Steigerung der schwebenden Schulden
und den damit in Verbindung stehenden
Folgen entgegenzuwirken.
In dem Memorandum wird weiterhin
mit Recht betont, daß die Hilfe in einer
Form gewährt werden müsse, .die den
nationalen und internationalen Verkehr
nicht mit einschränkenden Kontrollen der
Regierung belastet". Und ich kann auch
weiter dem zustimmen, daß die Anleihen,
die gegebenenfalls öffentlich in den kre
ditgcbenden Ländern aufgelegt werden,
einen Anreiz zur Anlage der Ersparnisse
bieten müssen. Freilich darf das Deut
sche Reich auch in dieser Hinsicht nur
Verpflichtungen übernehme, denen el
gkrecht werdcn kann. Ueber die zu fiel
lenden Sicherheiten wird am besten auf
der Konferenz selbst . zu sprechen sein,
ebenso darüber, welchen Rang derartige
Ausländsanleihen deS Reiches gegenüber
den Inlandsanleihen im Punkte der Er
füllung der' Verpflichtungen einmhme
toll.
Deutschland
Von Tri5 Wittner
. (ut im vttlli ttittUtt.)
Fünf Jahre lang waren wir in
Deutschland eingekerkert. Jetzt dürfen
wir wieder auf Entdeckungsreisen gehen
nach kuropa
Europa sängt an auf dem schweizer!
schen Bundesbahnhof zu Basel, wo man
zum erstenmal wieder da! Wunder leerer
Bahnsteige, sauber gehaltener, komfor
tabler. gut geheizter und nicht llberfüll.
ter Züge erlebt, daS Wunder sogar von
Zügen, die fahrplanmäßig abfahren und
ankommen. Wirklich ein Wunder, un
saßbar schier, wenn man eben noch mit
bresthasten, aus schwindsüchtigen Lun
gen keuchenden Lokomotiven brüchige
deutsche Eisenbahnstrange entlanggekro
chen ist und die abenteuerliche Verwahr
losung und Zuchtlosigkeit deS Frankfur
ter Hauptbahnhofk wahrgenommen hat.
Deutsches Eisenbahnwesen ehedem
vorbildlich in der Welt: I war ein
mal! ,
Dann führt der Gotthardzug tief
und tiefer hinein in da europäische
Herz,, dorthin, wo diese Herzens
Schläge in starkem Gleichmaß pulsieren.
Man erschrickt beinah' vor so unbeirrba
rem Rhythmus des Leben!.
Lugano! Vormals eine schmucke, aber
nicht unbescheidene Siedlung für son
nenhungrige Frühlingssucher, für Müde
und Genesende oder auch für Liebhaber
eines zärtlich gegliederten Landschafts
bilde!. Heute, dank Krieg nnd Revolu
tion. ein weltlich-allzuwellsicher Mittel
Punkt der europäischen Emigration. Die
blauende Bucht, die mit edler BereHti
gung die Bezeichnung .Paradiso" tragt,
ist heute dicht bevölkert von unfreiwillig
oder freiwillig Exilierten au! allen Win
keln de! allen, morschgewordenen, Konti
nents. Throne stürzten. Besitz barst,
des Volke! Majestät stand hier und da
auf und sagte den gottgewollten Obrig.
leiten rücksichtslose Fehde an . . . Da
stürzten die Legitimen, die sich um Kro
nen odcr um das golden Kalb scharen;
da flohen die Privilegierten erlauchter,
nicht immer erleuchteter Kasten; und sie
alle nahmen die Gastlichkeit deS freien
Bergvolkes in Anspruch, da! so leiden
schaftlich in der Heimatsliebe ist. viel
leicht, weil eS -hauptsächlich von der
Fremde und den Fremden lebt.
In den großen Hotels am Kai zu Lu
gano. in den stattlichen Palästen und
Villen, die die Ufergeländk Hügelauf zie
ren, haust eine vielsprachige Menschheit,
die kaum etwaS anderes gemeinsam hat
als das Schicksal, gegenwärtig herdloS
ZU sein.
Großwürdentrager depoffedierter Kö
nige moskowitische (tatarische und
barbarische) Millionäre, denen eS gelang,
den bolschewistischen Heilswächtern Ha
bebald. Haltefest und Eiledcute zu , ent
schlüpfen , HohenzollernprpinZen. uk
der nächsten Lerwandtschast deS Herrn
auf Amcrongen ehemalige Gesandte
der kaiserlichen Regierung an fremden
Höfen , baltische Barone und.elsässi
sche Vertriebene. Vertreter de deutsche
Schollen und Schwertadels von hochtS
enden Namen, exotische Fürstlichkeiten
lS allen Märchenprovinzen näheren
oder fernerm Orient. Wojwoden, Bo
jaren. Pascha! und Khan. Bürger der
ehemaligen kaiserlich und königlichen
DonauMonarchie. 1ie nicht genau wis
sen. weh Nam' und Art ihre augenblick
liche Staatszugehörigkeit ist. Kleriker
von hohem und höchstem Rang in der
Hierarchie dcr streitbaren Kirche, und
Politiker (aller Lander, aller Parteien,
aller Partciungen!) und Publizisten
und Pazifisten und Künstler von
Weltruf und Hochstaple? und Kriegs
gewinnlcr (Leit und LeidMotiv Neu
tralien: Schieber aller Länder, vereinigt
Euch!") und Frauen. Frauen,
Frauen . . k . in Gewirr von Gesichtern,
Eindrucken. Visionen, da einen neuen
Höllenbreughel locken könnte!
Frauen , . .! Französinnen, echte und
solch, die dafür gehalten werden wol
len, Belgierinnen, Rumäninnen, Grie
chinnen trippeln aus steilen Stöckeln
einher: gefärbt, gemalt, emailliert, junge
und alte Lippen brandrot wie ein klaf
sende Wundmal, die grazilen Gestalten
bekleidet mit schwimmgürtelartigen
Gebilden au! Tüll. Spitzen. Samt oder
Seide. Gebilden, die unter der Büste be
ginne, mit dem Knie abschließen, die
Arme niblößen, die Beine mit Flor um
spinnen. Diese Frauen besonders,
wenn noch der Foxtrott sie über spie
gelndeS Parkett flattern heißt ' sind
wie Kolibri: bunt, benxgsich. hirnlos,
zwitschernd, entzückend und kostbare
Unnützlichkeiten im Haukhalt der Natur.
Daneben englische Ladie, - blonde
Schneeköniginnen mit blauen Porzellan
äugen, weißen, gesunden Raubtingebis
sen und der Gravität wandelnder EiS.
berge. Frauen ohne Musik deS Gange!
. '. . Dann wieder Orientalinnen: träge,
schwül, lässig und doch manchmal zwi
schen zwei ÄugewAusfchlägen geheim
nisvoll auffunkelnd. Man denkt an
schon und böse Prinzessinnen del
Ostens, deren Buhlen die seidene Schnur
erwartet. Auch Mongolenblnt, und
hals ut" hocken in den Halle der
.erstklassigen' Fremdenhöfe herum.
Schläfrig, lauernd, bisweilen überleg
lächelnd. Europa stirbt; ihnen aber,
den farbigen Rassen, gebührt nnd ge
hört, so meinen sie, die Zukunft, Polin
nen und samtäugige Jüdinnen falle
im Taumel der Weiblichkeiten durch me
lancholische Anmut auf. In ihre Ge
berden singen Leid und Stolz nd
heiße, wilde Blut.
In dem Lugano von 1913 herrscht
daS Europa von 1914 (v o r dem 1. Au
gust), da heißt. Weltbürgertum, da
heißt, die Internationale der Gesell
schaft, die ebenfalls etwa Gleichmache
rifche hat. Der Frack ist mit Recht ein
demokratische Prinzip genannt worden.
Die" Kavaliere dieser ellschaft. seien
sie britische Lordsöhne, entrechtete deut
sche Fürsten, amerikanisch Schweine
fleisch-Magnaten, ungarische Hochtnie,
italienische DSeadentl, skandinavisch
Gulaschdauphin, lallanische Ritter
ffortumn der fldarnerikanisch Rasta-
und Europa.
(z. Zt. Lugano)'.
qukre; olle derfügm sie über den glei.
chen Rockschnilt, die gleiche Haartracht,
(straff nach hinten gezerrt h l'm?ri
cain), die gleiche blasierte Allüre. Man
brauche nicht notwendig ein Ventleman
zu sein; aber man Ist In jedem Falle ein
.Gent".
Kultur del Gemisst, Ueberzüchlung
der Lebenkkunst: ein unzeitgemäß ge
tvordene WeltweiSheit. Man grüßt sie
al eine todgeweihte Erscheinung.
Mitten in die gebrochenen Töne und ge
brochenen Farben einci zwecklosen, nur
um ihrer selbst willen existierenden
Schönheit schrillt ine neue Atenschheit
mit ihren Forderungen und Anmahnn
gen hinein. Auf dem Kai, die Hotel
ramperi hinan, sausen die grell lackierten
Kraftwagen ' erfolgreicher Valutaschieder
und anderer Nutznießer vor Konjunktur
und Korruption. Man weiß es auch,
daß In den weißesten, lieblichen Land
Häusern dieser blauen Gestade die intn
nationalen Manager der Kapitalflucht
über immer neuen, immer erfinderischen
Jntrigen sinnen. Und während die letz
ten Stämmlinge feudaler Geschlechter
ihre letzten Arbe!tslosen"Einkünfte in
Schönheit verzehren, rüstet , robuster,
hemmungsloser Daseinswille zum Ent
schkidungskampf.
' EuropenS von un! Deutschen fast
vergessene Kultur gibt sich in lichten
Hotelpalästen an azurnen Küsten die lctz
ten Feste, Symposien ihres eigenen Un
tergangs. Von den großen Städten,
aus den steinernen Wüsten, aber dröhnt
dräuend der marschbereite und sieghof
sende Tritt der Arbeiterbataillone her
über.
In der Halle einer riesenhaften Frein
denherberge unterhalten sich allabendlich
sehr alte, sehr vornehme Leute .über die
Eiszeilen und Steinzeiten, die die Erde
schon kommen und gehen sah. Mit den
inkommensurablen Wundern der (eolo
gie und Biologie wollen die Vornehmen
sich hinwegtrösten über die verächtlichen
Widerwärtigkeiten einer zu großen",,
oder zu kleinen Zeitgeschichte. Und viel
leicht haben sie sogar recht. Man neigt
wenigstens dazu, ihnen recht zu geben,
wenn man die grandiose 'Gleichgültigkeit
sieht, womit die Sonne jeden Morgen
emporsteigt hinter dem Monte Generoso
und jeden Abend hinabsinkt hinter dem
Monte Salvator. nicktachtend des Welt
krikgks und der Wkltrcoolution. nicht
achtend entstehender oder vergehender
Menschengeschlechter, sterbender odcr er
blühender Kulturen Vor dicser erh,
venen Gleiclwültig'eit dn. Natur fühlt
der Mensch sich klein, unsäglich klein,
nichtig bis zum Trikb der Selbstvci
nichtung ...
lieber dc MI.
Wag ein deutscher Gelehrter darübn
dachte.
Ueber den Adel sagte Jakob Grimm
am 1. August 1843 (nach dem stenogra
phischen Bericht) folgendes:
Auch mir leuchtet ein, daß der Adel
als bevorrechteter Stand aufhören müsse;
denn so hat schon der Zeitgeist seit ein
paar Generationen geurtcilt, jetzt darf
er ein lautes Zeugnis dafür abgeben.
Der Adel ist eine Blume, die ihren Ge
ruch verloren hat, vielleicht auch ihre
Farbe. Wir wollen die Freiheit als das
Höchste aufstellen wie ist es dann
möglich, daß wir ihr noch etwas Höheres
hinzugeben? Also schon ans diesem
Grunde, weil die Freiheit unser Mittel
Punkt ist. dars nicht neben ihr noch et
wa! Höheres bestehcn . . . Der größte
deutsche Mann . . . Luthcr, war auö ge
ringem Stande, und so ist es von nun
an in allen folgenden Jahrhunderten.
Sie werdcn immer schen, daß die Mehr
zahl, der, erweckten großen Geister dem
Bllrgerstande angehörte, obgleich auch
noch treffliche Männer unter dem Adel
auftraten . . . Aus den neueren Zeiten
erinnere ich an Lcssing, Winckelmann,
Goethe, Schiller, lauter Unadelige
und es war ein Raub am Bürgertum,
daß man den beiden letzten ein .von"
an ihren Namen klebte. Dadurch hat
man sie um kein Haar größer gemacht. . .
Nach allem . . . kann es mir nur schei
nen. daß der Adel aussterben müsse; aber
ich glaube nicht, daß er mit seinen Titeln
und seinen Erinnerungen getilgt werden
darf; diese mögen unS bleiben so gut
wie unS Bürgerlichen, die wir ebenso
lebhaft an unseren Voreltern hängen . . .
Aber etwas ganz andere ist, daß er (der
Adel) Einstig j auS Borrechten heraus
treten n:d in allen Ctandckbcziehungcn
jedem anderen gleich sein wird. Daß
aber jene Vorrechte bestanden, haben wir
bik auf die letzt Zeit ost mit Schmerzen
erlebt. ES war nicht nur daS Recht,
goldene Sporen zu tragen oder die Nägel
n den Fingern länger wachsen zu
lassen, was auch die Mandarine dürfen.
', Muck Pläne.
Generalmusikdirektor Dr. Muck weil,
gegenwärtig in Graz, wo er Wagner's
.Triftan und Isolde" glanzvoll leitete.
Dr. Muck gedenkt bi zum beginnende
Frühjahr in Gra, zu bleiben, dann in
Wien einen WagnerZyklu zu dirigie
ren und hierauf in Deutschland einig,
Konzerte ,u geben. Wie er in einem
Gespräche mit einem Grazer Musikdirek
tor erwähnte, werde er sich lo lanoe nicht
entschließen können, feste Verpflichtun
gen einzugehen, bi nicht völlig geklärt,
Verhältnisse eingetreten c'nd. Zur Frag,
der Wiedereröffnung de, Festspielhaus ,
in Bayreutch hat Dr. Muck kürzlich i,
Schreib Siegfried Wagner erhalten
Die Nachricht ist nicht tröstlich, denn un.
ter den gegenwärtigen Verhältnisse,
kann leider nicht daran gedacht werden
diese Hochburg deutscher Kultur det
Oeffentlichkeit bald vied lurmnali
i