Tägliche Omaha Tribüne. (Omaha, Nebr.) 1912-1926, November 09, 1917, Image 2

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    MMe CntaHs TrlbÄne
r 'T1, aVmWmMM
Dns Manuskript.
Novelle von Heinrich Spiere.
ssZ war erbänttNckcs Epätherbstwet
la. Nachts fror es schon tüchtig, aber
bei Ta?e schien eine trübe Sonne, ge
rade noch warm genug, die llbcreistcn
TiZinpel und Rinnsteine aufzutauen,
. ,da Pslap der ganzen fetgiaen dla.ll
mit einer nassen, gliifchigen Gchickit zu
überziehen. Wcnn es bann dazwischen
vicltelstundenweise regnete, wurden die
Ctrahm vollends fast unwegsam, und
WZ es' von der Obcrsiaot zur Unterstadt
hinabging, mußte man sich vor gleiten
dem Fall in acht nehmen. Die schwere,
trübe Luft. Regen und Nebel schlugen
in die Schornsteine und ließen die
Ofcnftucr nicht ordentlich aufflammen
und durchbrennen. so dosz es auch in
den Stuben unbehaglich war.
Verdrießlich über seine nassen Stic
fcl, trat der Vcrlagsbuchhändler Weller
in sein Kontor, ritz sich den Hut vom
Kopf, den Mantel vom Leibe und setzte
such an den Schreibtisch. Er wisckie mit
seinem Taschentuch die nassen Tropfen
ernt Gesicht und stand noch einmal auf,
der Seiter.tasche des Mantels eine Zi
garrentüte zu entnehmen.
.Wirttich, auch durchnaß! schrie er
ganz laut, und da er einmal im
Schreien war, rief er, 'hne den Tonfall
zu mäßigen: Tonncrwetkr, kommt
denn kein A!ensch? Rehbinder! Reeeh
bindn! Rceehbin ien!"
Die schmale Elasiür, die aus dem
Ärlv.iisraum des Chefs in die allgc
meine Schreibstube führte, tat sich auf,
ud ein hagerer Mann in aboetragener
Kleidung erschien. Auf den ersicn Blick
hätte man ihn neben dem stämmigen,
Zurzhalsigen Weller siir eine stattliebe
Gestalt halten können; bei näherer Be
trachtung wirkte er freilich weit un
scheinbarer, dürftiger als der kleine
Mann vor ihm. Auf zwei überlangen
Beweg saß ein zu kurz geratene: Oder
to'rper. und diesen krönte ein kleiner,
shinal Kopf, den schütteres, aschblon
deZ Haar umgab. Die Augen waren
unter breiten, Lidern und dichten,
buschigen Brauen fast derdeclt. Reh
binder verbeugte sich, sagt: Guten Mor
gen und legte mit der Rechte,, einen
Stoß geöffneter Briefe au' den
Schreibtisch, holte dann unter dem Im
len Arm ein dickes Paket anderer Pa
piere heröor und stapelte sie auf einer
etwas entfernteren Ecke der großen
Platte auf. ,
Wcller hatte den Morgengruß kurz
und ziemlich unwirsch erwidert und laS
nun die Zost. Der Beamte hatte sich
Zeitlich neben den Schreibtisch gesetzt
und erschien hier gegenüber Weller, der
ein Sitzriese war. vollends kläglich, wie
er seinen kurzen Oberleib gerade eben
an der Stuhllehne hochrichtete und er
gebück seine langen Beine bequem aus
zustreckn versuchte. Rehbinder lächelte,
wie an jedem Morsen, und Weller schoß
einen ärgerlichen Blick zu ihm hinüber.
Wie hätte er er gehöhnt und ge
brummt, wenn Rehbinder ihm den
Grund feiner sich immer wiederholenden
Heiterkeit aesagt hätte. Der Prokurist
mußte nämlich jedesmal, wenn beide sich
gesetzt hatten und das Größenverh,..!nls
sick, umdrehte, an jene Stelle der
Ffias" denken, da Antenor von dem
Besuch erzählt, den Odhsseus und Me
nelaos ihm abgestattet hätten:
Zerbngete bet!, in meinem $ß!sl!f, sie
, fteminm,
Po ttfk beider Malt und öedck,l!amor Gcist
mir belmmt !.
sie kiunmckr u tit Troer versam'?ltm
Kreiö flch acfeUrt,
:aot im tebn Meneloos emv'r mir mach!!
an e&altem:
T!ch wie flch beide gesm, fcn erimien chrbol.
ttt CbHutus."
(?: war an jedem Morgen Rehbin
dns sülleä Vergnügen, den so ausge
nommenen Vergleich weiterzuspinnen
und dabei zu dem Schlüsse zu gelangen,
wenn Menelaos ihm geglichen bätie.
würde Helena ihre Flucht mit Paris
nickt zu verübeln gewesen sein. Eben
trommelt er noch auf seiner rechten
Zlniefcheibe den letzten Hezameter mit,
als Well, immer noch ärgerlich, die
Briefe hinwarf. ,
Schön. Nichts Besonderes. Wenn
das mit den Weihnachisbefiellungen fs
weiteraeht, werde ich einen ongenebmen
Abschluß haben. Was die Lorbasse
bloß lesen mögen! Anständige Bücher
jedenfalls nicht."
Er griff Zu dem Haufen größerer
Papiere. ,
.Manuskripte. Haben Sie schon Hin
klngesehenZ" . ,
Rebbmder nickte.
.Ja. D-aS neue Drama von Buch
bolz. das im Stadttheater mit Erfolg
gegeben wurde. Er verlangt
.Ezal, egal!' fuhr Wellet dazim
sehen. Das Stück hat meiner Frau'
ei verschluckte sich hat mir sehr
gut gefallen." (Rehbinder lächelte wie
der und dachte: Penelope, Venelope!)
' .Wird genommen! Ueber das Hoi.orar
werden wir schon einig werden. Schrei
den Sie Doktor : Buchbolz, t . möchte
nächster Tage zu mir komn,en. Wei
ktl 'hier ein Roman von einer Zungen
Gräfin aus der Provinz. Ich habe das
erste Kapitel gelesen, vielleicht nehmen
Sie es mal vor."
, .Schön," meinte Well'.
Das anders Rehbinder wog teil
immer Noch f.arfcn Packen ist un-
brauaebar.
w,v2f ctlr.net
fichtst Dae,k für dS meiner z,irma tu
Ktfm Wohlwollen zurück."
Nchöwder btectnn vo neuem:
Hat hier ist noch ein Manu.
ttM "
E -'xii, Weikrzusprechen, hob erst
's,5k'd!iK 'die unterste Handschrift
ärs w"z sie Zweifelnd in der Neckten,
llÜltffit an und legte sie schließlich
t VnfM eis den Tisch.
'Wt nahm das Manuskript aus;
r.at .feiert, aus sehr dünnt Papier
c 'i.ven. Auf dem ersten Tlait stand
Also mit verbind'
mit blasser Tinte geschriebn,. .Der
Liebe Ewigkeit. Von Flora Traub."
Flora Traub? Kenn' ich nicht."
Er blätterte.
Was ist denn das eigentlich? No
man? Physiologie der Liebe? He?"
Rehbinder bemühte sich, sehr lieben!
würdig zu sprechen:
Ja, das ist schwer zu sagen. Es ist,
soweit ich sehen konnte, eine Philoso
phie" er suchte nach Worten des
menschlichen Herzens. Nein, mehr eine
Art Theodizee. Alles Schlimme, das
uns begegnet, trugt. Wir müssen, das
Böse hinnebmen und zu iiberwirden
suchen und dürfen nicht ain Vorbanden
sein einer gütigen Gottheit verzweifeln.
Wir sollen "
Da fuhr Weller dem immer eifriger
Weidenden in die Parade. Er Halle
seine Brille auf die Stirn gelel-oben
und einzelne Seiten des Manuskripts,
das er hoch erboben hatte, betrautet.
Jetzt ließ er es klatschend auf den Tisch
fallen und schrie:
Theodizee? Theodizee? Schmalz
siulle! Hier" er wies mit seinem
dicken Finger auf eine Stelle und
hier und hier! Fettflecke. Da"
er blätterte um hat sie Stoss drauf
verplempert. Und hier" er zeiatc
ans eine andere Stelle lauter Blei
stiftstriche. Das Ding ist inindestens
bei sechs Verlegern gewesen. Sehen
Sie, hier hat eine fremde Hand ge schrie
ben: Blühender Blödsinn!" Warten
Sie mal" er erregte sich immer mehr
ich will meine Lupe vornehmen.
Sehen Sie j'tzt? Das ist Harichs
Handschrift. Der hat's niÄ genom
men. Und ich soll's Prüfen? Ich danke,
Stomma."
Und er schob Rehbinder das so be.
schimpfte Manuskript bin. Der saß
und kaute, hob xlötzlich die Lider und
sah den Ehkf aus hellen, jugendlich
strahlenden Augen voll an. Tann saß
er wieder regungslos und druckste an
einem Wort. Wellcr begann dies Ver
gniigen zu machen.
3k, da sitzen Sie wieder und wollen
gern und können nicht. Nein, ich
nehm's nicht. Der Liebe Ewigkeit."
Nein. Wenn ich das drucke, hab' ich
nachher der Remittenden Ewigkeit."
Er belachte seinen Witz ausmebig
drückte Rehbinder den ganzen Stoß in
die Hände, legte das Traubscke Werk
obenauf und sagt: ganz behaglich:
Nun gehen Sie nur. Ich seh' schon,
Sie haben was zum Träumen bekom
men. Ja, die blaue Blume!"
Rehbinder seufzte, stand aus und
ging in die andere Stube. Weller sah
ihm einen Augenblick nach, schüttelte
den Kopf und "griff dann zur Feder,
um zu arbeiten.
Im Nebenzimmer verteilte der Pro
klirist die Post an das Personal und
gab seine Anweisungen für die Veant
Wartung. Tann rief er den Faktor und
hieß ihn die zurückgehenden Manu-
skripte sorgfältig verpacken. Als er an
das letzte kam, zögerte seine Hand; er
wog es noch einmal und legte es dann
auf sein Pult.
Das hat Zeit," sagte er Z dem
Hausdiener, der nun abging.
Von draußen drang einen Augenblick
die Sonne hein, das schmutzige Grau
des Pregels erschien w'? vergoldet, dann
wurde es wieder trübe. Nebel und Ite
gen begannen ihr Spiel von neuem.
In dem alten, verräucherten Jlontor
wurde nearbeitet, es fiel kaum ein
Wort. ÄlZ die Mittagspause beqann.
steckte Rehbinder das Manuskript zu sich
und ging heim. Als er uachmittaos
wiederkam, war ein eigener Glanz in
seinen Augen. Aber er tat ruhig seine
gewohnte Arbeit.
Nun war der Abend hereingebrochen.
Es war etwas klarer geworden, man
sah hier und da einen Stern. Die Gas
latenten brannten ruhig und spiegelten
ihr Licht in den vielen Psützen, denen
die Fußgänger nach Möglichkeit ais
wichen. Rehbinder hatte das Kontor
verlassen, vom Faktor den Schlüssel
übernommen, selbst nachgesehen, ob das
große Schloß an dem eisernen Quer
ballen fest geschlossen wäre, und ging
nun die Langgasse hinauf. Borsichtig
setzte er eins seiner langen Beine ums
andere auf die Granitplatten des Bür
gersteigs. Den Mantel hatte er bis
zum "Halse zugeknödtt, obwohl der
zweite Knopf sich im Knopfloch spannte,
weil in die Brusttasche ein starkes Paket
gezwängt war.
Rehbinder überschritt eine Brücke und
wandte sich dann bald reclis durch
schmale, schlecht beleuchtet? Gassen. Er
geriet wieder in einen lebhaften Men
schenftrom, Arbeiter, die aus Fabriken
heimkehrten, bog nochmals in winklige
Quartiere ab und stand endlich vor
einem schmalen Hause still. Da er eben
den Kopf teckte, um die selbst für seine
Wrperlänge zu hock angebrachte Haus
nummer zu lesen, erhielt er einen Stoß.
Die Haustür war ralch von innen ge
öffnet worden, ein Stind schoß heraus
und lief unversehens gegen ibn an. Er
hielt die Kleine fest und ftaate:
Ist hier Nummer 27?"
Das Mädcbcn bejahte und huschte
fort. Rehbinder öffnete die wieder zu
geschlagene Tür und stieg die sofort be
ginnende Treppe empor, die ein Qel
lampchen vom oberer! Absatz her diirf
tiz enug beleuchtete.
Oben blieb er stehen, studierte die
Schilder an den drei 'Türen, schüttelte
den stopf und machte siX oaran. weiter
zu steigen. Die Treppe.,',! ihn nun
ins Dachgeschoß führte. -glick, mehr einer
Leiterstiege. Ein dünnes Geländer
schwankte unter dem unwillkürlichen
Druck seiner Hand es war hier völlig
sinftee. Jetzt konnte er nicht weiter,
sein Knie stieß gegen ein Brett, er
tastete und fand einen Drücker, der ein
wenig nachgab, aber die so gefundene
Tür regte sich nicht.
Rehbinder klopfte. ?r vernahm kei
nen Schritt, hörte aber plötzlich eine
Stimme von innen leise fragen:
W.. ist da?"
Er antwortete: Wohnt hier Frau
Traub?"
Ja."
Ich möchte sie sprechend
.Wer sind Sie?"
Mein Name ist Rehbinder."
.Wie?"
Mein Name ist Rehbinder. Ich bin
Prokurist bei Adolf Wcller."
Ein Schlüssel drehte sich, der Riegel
wurde zurückgezogen, un die Pforte
ging langsam auf. Rehbinder, vom
Lichtschein einer Hängelampe geblendet,
die hinter einer zweiten, offenen Tür
brannte, sah zunächst gar nichts. Tann
klang es von unten:
Bitte, treten Sie doch näher, lieber
Herr."
Er blickte vor sich hinab. Da stand
eine kleine, fcbicfe, unsäglich kümmerliebc
Gestalt in einem völlig farblosen Gc
wände und sah ihn von unten herauf
an. Er fragte:
Finve ich bicr Frau Traub?"
Die bin ich selbst. Litte, treten Sie
ein."
Wie mit maschinenmäßiger Selbst
tätiakcit trat Rehbinder ein. Die kleine
Person schloß die Ilurtür und folgte
ihm, bat ihn, sich zu fetzen, und nahm
an dem? tOT.de Tisch ihm aegenüber
Platz.
Nun, da er zu seiner leidigen Sitz
kleinhcit hinab gesunken war, erschien sie
ihm näher, toabrscheinlicher. Unter
seinen halbgesiblossenen Lidern hervor
sah er auf ihr kleine Gesiebt, das ganz
von feinen Runzeln durchzogen war.
Ein paar kleine, sehr hrlle, aber glänz
lose Augen stauten ihn an. auf dem
Haupte trug die Frau über spärlichem,
alatt gestrichenem Haar ein schwarzes
Häubchen. Sie hatte schiefe Schultern;
so saß auch der kleine Kovf nicht ge
rade, und das gab ihren Blicken etwas
Hilseflehendes, Rührendes. Jetzt legte
sie eine Hand über die Augen, beugte
sich etwas vor und fragte mit ihrer klei
neu Stimme, in der fast unmcrklich ein
fremder Akzent mitklang:
Hat Herr Wellet mein Manuflrip!
gelesen?"
Rebbinder ward verleaen.
Nein. Ich selber "bab's gelten.
Es, es" er suchte nach der. rechten
Wort und fand das dümmste es
hat mich sthr interessiert."
Ein leises, feines Lächeln kam von
drüben und verschönte den welken Mund
der alten Frau.
.Wirklich?"
Wie mit leise zitternder Hoffnung
ftlgte die Fraqe:
Glauben Sie. daß Herr Weller es
drucken wird?"
Rebbinder kaute an einer Antwort.
Ich claube ich boffe ich weiß
nickt recht."
Er murmelte etwas von anderer Ber
laasrichtung. Ueberfüllun? und der
gleichen. Plötzlich schämte er sich, brach
jäh ab und sagt::
Wollen Sie niir nicht mal erzäblen,
wie Sie zu dem Buch glommen sind;
ich meine, wie Sie auf das Thcnia ge
kommen sind? Das ist doch" und
nun wurde cr lebhast und hob beim'
Sprechen die Hände das ist ja ein
ganz ungewöhnliches Buck. da steckt ja
was drin! Donnerwetter!" er fuhr
sich durchs Haar, daß es nach allen
Seiten stand ich bin ganz warm
geworden dabei, wenn ich auch nicht
alles verstanden habe."
Er stand auf, holte das nuskrivk
aus der Tasche, legte es auf den Tisch
und klopfte nachdrücklich darauf. Dann
blätterte er, als wenn er allein wäre,
die Gegenwart der Frau ganz vergessen
hatte; er stieß mit dem Inöchcl auf die
und jene Stelle und brummte dazu:
Wo haben Sie das her?"
Es klang beinahe brutal, und doch
lag nichts Verletzendes darin, nur Be
wundcrung. Und jetzt ging er um den
Tisch und faßte die runzeligen Hände
der Greisin und sagte leise:
Das ist doch was ganz Wundervol
les!" Seine Hand wurde feucht, und er zog
sie jäh zurück. Er sah die rau wei
nen, ein paar Tranen, armselige Trop
sen. wie sie wohl ein erschöpftes Herz
noch einmal in einer bewegten Stund:
emporquellen läßt.
Aber, aber," sagte er verleaen und
trat von ihr weg. Er bückte sich unier
dem Deckenbalken der Mansarde hin
durch und fand an der ZNauer ein tan
nenes Regal, auf dem unten ein paar
Tassen und Gläser. Teller u Bestecke
lagen, alles sehr verbraucht, doch sauber.
Auf dem obersten Brett aber standen
wohl zwei Dutzend Bücher, alle offen
bar viel gelesen. Mit geübtem Auge er
kannte er in dem Tammer hier an der
Seite die Titel: es war der 7?aust".
Schillers Gedickte. Kants .Stritt der
reinen Vcinuns:", ein Werk von Her
bart, eins von Rosenkranz, eins von
Alexander Jung, dann wieder ein Band
Schiller, Gedichte von Novalis und
von Mörüe, in einem ganz stockflecki
gen Eremplar Hölderlins Hyperion".
Tie Wahlverwandtschasien", ' Spino
zas Eihik". eine Bibel. Ro'teck .Welt,
geschichte" in fünf winzigen Bändchen.
Zwischen zwei Bändchen Lessing steckte
ein Buch, das et nicht kannte; er zog
es heraus, schlug es aus und sah sich er
staunt nach der Hausfrau um.
Hebräisch? Ein Gebetbuch?"
Sie nickte. Er behielt den Band mit
den krausen Zeichen, die et nicht ver
stand, in den Händen und setzte sich
wieder. Und sie. durch seine fragenden
Blicke ermuntert, begann zu erzählen,
mir ihrer dünnen, feinen Stimme, ci
Köpfchen gesenkt, die Hände vor sich auf
dem Tisch.
Ich stamme au! Rußland. Mein
Vater war ein orthodoxct Rabbiner in
Dünaburg. ' Ich habe keinen Schul
unterricht gehabt, nur im Hebräischen
wnrde ich unterwiesen. Als ich vier
zehn Jahre alt war. verheirateten mich
meine Eltern mit einem Geireidehänd
ler aus der Gemeinde. Mit fünfzehn
Jahren bekam ich mein erstes itin'.', es
ist gestorben; auch alle andern sind tot.
Vor" sie dachte einen Augenblick
nach vor fiinfundvicrzig Jabrcn
zog mein Mann hierher. Eine entsetz
liebe Krankheit befiel ihn, und n, zwei
Jahren wat et tot. Seitdem bekomme
ich eine Kleinigkeit von der Gemeinde
und von ein paar Familien. Solange
meine Hände noch nicht verkrümmt wa
ren, fertigte ich Handarbeiten für ein
Geschäft. Verwandte besaß ich nur in
Rußland; ich weiß nicht, ob sie noch
leben."
Das alles war ruhig erzählt worden,
langsam, wie jemand eine Sprache
spricht, die er spät gelernt hat, gelegent
lich mit Worten, die der alltäglichen
Rede etwas fremd geworden sind. Nun
sank Flora Traub ganz in sich zusam
men. Dann richtete sie sich ein wenig
auf und fuhr fort:
Sie haben mir fo freundliche Worte
gesagt, ich will Ihnen weiter erzählen.
Meine Ehe war nicht glücklich. Denken
Sie, zwei Menschen als willenlose,
unbefrae Kinder zuiammengegeben.
Mein Mann kannte nur sein Geschäft
und den Talmud, meine Kinder starben
klein. Ader der Acltefte ging noch zwei
Jabrc zur Schule, da habe ich seine
Bücher behalten und an denen richtig
Deutsch gelernt. Und während mein
Mann lernte, laut im Talmud las,
habe ich in einer Ecke ,esessen und
Teutsch gelesen. To ging mir ja eine
Welt auf, aber mit ihm kam i, immer
weiter auseinander. Und dann sein
entsetzliches Sterben. Und dann star
ben mir alle meine Kinde., schöne, hoff
nungsvolle Kinder."
Sie schwieg.
Als ich ganz allein war," fuhr sie
nach einer Weile fort, da ging ich ganz
zu meinen Büchern. Ich war verzwei
felt und verzagt. Aber ich kam wieder
ins Licht. Das wissen Sie ja aus mei
nem Buch. Ich möäue eL fo gerne
drucken lassen. Sehen Sie. ,ch kann
nickt mehr ausgehn, denn ich bin halb
blind, und meist ist hier .in rauher
Wind, den ich nicht mehr vertrage.
Aber ich lebe mit vielen Taufenden.
Wenn ich in meiner Mansarde sitze,
dann ist mir's, als ob viele weinende
Augen zu mir hereinsähen und Trost
suchten. Ich habe ihn mir gefunden,
ich möchte ihn gern weitergeben."
Flora Traub schmieg, und Rehbinder
schwieg auch. Nachdentli, sah er auf
das Manuskript. Er schlug es sorglich
zu. Der Liebe Ewigkeit" las er auf
dem Titel. Wie mit liebender Hand
fuhr er über die Worte. Tann stand
er auf, steckte die Papiere entschlossen
wieder in de Tasche und reichte der
Frau die Hand,
Ich will sehen, was sich tun läßt.
Was ich irgend machen kann, soll ge
scheben, das' verspreche ich Ismen."
Warten Sie noch einen Augenblick,
lieber Herr."
Sie zog die Schublade des Tisches
heraus und bolte aus einein vergilbten
und an den Rändern bröcklich geworde
nen Umschlag einen Brief mit schönen,
ctAiraktcristischen Zügen.
Sehen Sie. das hat mir Karl Ro
fcnkranz über das Buch geschrieben."
Rehbinder las. Es waren warine,
ermutigende Zeilen.
Aber einen Verleger hat er auch
nicht cnuiDin. So ist das Manuskript
von einem zum andern gewandert, noch
einmal abschreiben konnte ich's nicht"
sie hob die gotischen Hände und
für einen Abschreiber habe ich kein
Geld."
Rehbinder bat, den Brief bis morgen
behalten zu dürfen. Sie sah ihn aber
so ängstlich und hilfeflehend an, daß er
sich nur die Worte genau abschrieb und
ihr dann das Dokument zurückgab. Sie
barg es sorgfältig und begleitete ihn zur
Tür. Da sack er unwillkürlich:
Ich danke."
Und dann:
Sie werden bald von mir hören,
hoffentlich Gutes."
Er stieg -die beiden Treppen hinab
und stand unten ausatmend still.
Hier war es noch windstill, es lag
Frost in der kühlen, nun völlig klar ge
wordenen Lust. Rehbinder zog eine
kurze Skaapsciie aus der Tasche, stopfte
sie. setzte' den Tabak in Brand, das alles
noch im Schutz: der Hauswand, und
trat dann erst den Heimweg an. Er
sprach ab und zu ein lautes Wort vor
sich hin, grisf wieder nach dem Manu
skript. wie um zu fühlen, ob es auch
noch da Ware. Ei kam an der schönen
katholischen Kirche vorbei; Laternen
licht fiel auf das hohe Srruzifi?, das.
zwischen jetzt nackten Bäumen einaeqit
tert, auf dem Kirchenplotz zw, Siu
feei übet der Straße stand.
Auf feinen Schirm gestützt, blieb
Rebbinder breitbeinig stehen, bis ein
Fleisch.eigeselle das menschliche Ver
kehrsbindernis nielü eben sanft mit sei
ner Mulde ansti,ß. Rehbindet fühlte
leinen Schmerz, merkte nur, daß er im
Weg: war, und stieg langsam, wie im
Traum, die Stufen chinan. ben störte
ihn keiner, der nicht'gerade zur Propstei
wollte. Der Mann starrte zu dem Hei
land empor. Aber scin Selbstgespräch
schwieg. Nur wie ein warmer Strom
zog es"ibm durcks Herz, mit Tank und
dein Gefühl, das uns überfällt, wenn
wit ohne Vorahnung im grauen Täm
Met eines Alltags eine große, reine
Freude gefunden baben.
Und, ein paar Worte fielen ihm ein,
die in dem wunderbaren Buche standen,
das er wie ein lieb-es Wesen an seiner
Brust fühlte.
Ewige Liebe", hatte es da geheißen,
.halte du mich fest. Menschen können
mich fallen lassen, und ich selbst kann
mich sinken lassen bei dir ist daS
Ende der Keile, die vom Himmel, von
Sott in unsere Herzen fuhrt. Laß
Ströme des Segens daran hernieder
gleiten in jcdcö gebeugte Gemüt.
Pflanzen wachsen mit Kraft von unten,
ihre Wurzeln sind im Erdboden; wir
wachsen mit Krast von oben, unsere
Wurzeln sind bei dir von Ewigkeit zu
Ewigkeit."
Das hatte er gleich behalte. Und
darüber kam ihm eine Fülle anderer
Bilder wieder, die da! Buch enthielt,
ost ausgemalt mit dem Parallelismiis,
den Flora Traub offenbar aus der
Psalkiundichtung ihrer Vorfahren über
kommen hatte, mit jener seherischen
Schaucnskraft, die sich nicht genugtun
kann in der eindringlichen Tarstellung,
Hinausrufung eines Gefühls, bis sie es
ganz und gar ausgeströmt zu haben
glaubt.
Rehbinder hob die Arme empor,
schüttelte den Kopf, dann sah cr noch
einmal zu dem Ehristusbild auf und
ging langsam weiter.
Er hatte des Weges nicht acht und
fand sich plötzlich auf einem schräg ab
fallenden Platz, von dem ringsum
schmale Gassen hinwegsiihrten. Er
blieb stehen, nicht gleich imstande, sich
zurechtzufinden.
Nun, was tut's." sagte cr wieder
laut, jedenfalls muß ich hinab."
Und da er im undeuili.ben Schein
einer Ecklaterne eine nach unten sich
rcnde Steintrcppe gewahrte, stieg cr
vorsichtig Stufe für Stufe hinunter.
Er geriet in eine sckmalc. krumme
Straße. Wagen rasselten durch. zu
meist mit Bierfässern, andere hielten
vor Brauereien, hier und da deuteten
rote Laternen unsaubere Zincipcn an,
aus denen Gejohle und wüster Gesang
tönte. Rehbinder eilte weiter, immer
noch hinab. Jetzt kannte er die Gegend
wieder. .Hier lag eine große Zeitungs
druckcrei, in der cr ost geschäftlich zu
tun hatte. Und nun stand er schon auf
atmend am Fluß.
Er reckte und dehnte sich in den
Schultern, dann überschritt er die Holz
brücke, bog zum Domplatz ab und be
trat über den Beischlag das alte Haus,
in dem er wohnte. Er schloß fein Ziin
mer auf, machte Licht, verwahrte zuerst
das Manuskript und zog dann einen
alten Hausrock an, immer die Pscise
im Munde. Dabei begann er zu sin
gen, und es klang seltsam, wie die
Töne, von dem Mundj.ück behindert,
gebrochen, ihm aus dem Munde auollen.
Er bereitete sich ein einfaches Abend
essen, aß und fetzte sich dann mit einem
Buch zur Lampe, nachdem er die
Abendzeitung kurz überflogen hatte.
Aber auch der auf gut Glück heraus
gegriffene Band fesselte ihn nicht.
Tu sollst mich hören stärker be
schwören," murmelte cr und grisf zu
Raabcs Schiidderump", der ihn noch
immer festgehalten hatte.
Umsonst.
Immer wieder gingen die Blicke zu
dem Schrank, in' dem das Manuskript
lag. Er nabm es heraus, las darin,
zog endlich die Kitung wieder heran
uno begann auf dem weißen Rand: zu
rechnen.
Darüber wurden ihm die Lider
schwer, er entschlummerte in schwanker
Haltung, fiel endlich mit dem .Kopf auf
den Tisch. Durch ein in der Tiir aus
gespartes Loch kam ein schlanker,
schwarzer Kater herein, rieb sich au
Rehbinders Knie und sprang ihm end
lich auf den Schoß.
Davon erwachte der Schläfer, sah
einen Augenblick in die Lampe, die dem
Verlöschen nahe war, entkleidete sich
schnell, dreht: die Lampe auö und warf
sich ins Bett Der Statrr sprang ihm
zu Füßen, nistete sich in die dicke Feder
decke, und nach wenig Sekunden gingen
nur noch die Atemzüge der beiden
durchs Zimmer, während auch draußen
das Leben verebbt ivar und ,r dann
und wann die'Schrittc eines Verspäte
lcn oder des Nachtwächters außr dem
regelmäßigen Schlagen der Tomuhr
vom Leben der Stadt Kunde gaben.
Rehbinder erwachte mit erfrischtem
Kopf. Es war ein rechter Winterlag,
alles besroren. Die Pflastersteine klnn
gen ordentlich vor Frost, als cr ins
klontor ging.
Heute war Herr Wcller offenbar vor
züglicher Stimmung, Rehbindet hatte
den Ruf in das Privatburean nicht erst
abgewartet, sondern war gleich nach des
Chefs Erscheinen mit der Post und
sonstigcn Eingängen eingetreten.
Alles wickelte sieh in gewohnter Weise
rasch ab, Sie hatten die Arbeit für den
Vormittag durchgesprochen, Rebbinder
aber zögerte noch, rückte auf seinem
Stuhle hin und her.
Weller wurde aufmerksam.
Na. was haben Sie noch?"
Herr Wcller (bei diesen Worten kaen
das gestern zurückgewiesene Manuskript
wieder zum Vorschein), wir sprachen ge
stern über ein Buch von einer hiesigen
Dame."
Weller wußte nicht gleich Bescheid.
Dame? Keine Ahnung."
Ich meine das philosophische Man'
skript. das ich Ihnen zuletzt vorgelegt
habe."
Ach so. Das mit der Lieb und der
Ewigkeit. Ja, das haben wir doch ab
gelehnt." Ich habe cj inzwischen ganz gelesen.
Es ist ein ungewöhnliches Buch."
Lieber Rehbinder." sagte Weller.
Hari bat es abgelehnt. Der hat einen
guten Riecher. Ich hab noch nie Glück
g'habt, wenn ich was brachte, was der
zuiickgewiesen hatte."
Ja. abet ich glaube, Sie tun ein
gutes Werk, wenn Sie cS verleaen. Tie
Verfasserin lebt hier, ich habe sie kennen
gelernt."
Sie kennen sie?"
Weller wurde fthk vergnüg. Er
schlug Rehbinder aufs Knie uns schrie:
lli ihc a;rirnan!"
Dabei lachte er anzüglich.
Rehbinder sah ihn groß und ernst an.
Unwillkürlich schlug Mller die Augen
nieder. "Dann sagte der Prokurist:
.Herr Wellcr, hier habe ich ein Urteil
von Karl Rosenkranz übet das Buch.
Ich habe daZ Manuskript eben überkal
kulieri: die Kosten werden für fünfzehn
hundert Exemplare in einfacher, guter
Ausstattung etwa neunhundert Mark
scin. Wei einem Ladenpreise von einet
Mark und fünfzig haben wit sie mit
etwa neunhundert Exemplaren wieder
herein. Sollten aber die Kosten binnen
einem Jahr nicht gedeckt scin, so komme
ich siir den Schaden auf. Hier ist eine
Polire.'
Er griff in die Tascke. Unter seinem
ganz sachlichen Bortrag war Wellcr ru
big und ernst geworden, nun packte er
Rchbinders Hand und sagte:
Re, lassen Sie stecken. Ich lasse mir
nicht von meinem Prokuristen Garantie
geben. Entweder oder Rehbinder"
cr lachte schon miedet die blaue
Blume! Also geben Sie das Ding mal
her mit dem Brief von Rosenkranz.
Sorgen Sie dasür, daß mich keiner stört.
Um elf sage ich Ihnen Bescheid."
Rehbindet ging leise hinaus. Er ar
bcitrte mit einem gespannten Lächeln um
die Mundwinkel, lauschte ab und zu nach
der Berbindungslür, bis diese gegen elf
Uhr aufgerissen wurde.
Rehbinder, kommen Sie mal rein!"
Er stand schon drin und zog die Tür
hinter sich zu. Wcller setzte sich nicht erst
wieder. Die Brille saß ihm auf der
Stirn, vor ihm lag das Manuskript.
Er pustete ein paarmal, dann sagte er:
Hm! Hm! Na. Ob's mcinct Frau
gefallen wird (Rehbinder Lachte: Pcnc
lopc, Pcnclopc!), weiß ich nicht. Aber
egal! Ich hab' nicket alles verstanden.
Aber wcnn man auch ein alter Esel ist,
so viel merkt man doch: es ist was drin.
Und dann drucken Sie 's also in" er
verschluckte das übrige trenn Sie fo
'n Esel sind ich hab' mich eben selbst
so gcnannt, Sie dürfen mir's also nicht
übelnehmen , sich Ihre Tantieme zu
schmälern, ich hab' nichts mehr dagegen.
Aber nun bitte, hopp! daß es hier wenig
sieiis noch zu Weihnachten zurechtkommt.
Für draußen ist es ohnehin zu spät. Ho
norar aber erst nach Verkauf von tausend
Exemplaren. Das Risiko ist mir doch zu
groß."
Rehbinder Ivar schon hinaus. Er ging
selbst zur Druckerei, schrieb an Frau
Flora Traub. der er die Annahme be
stätigte. Auf den Umschlag setzte cr
Durch Boten" und steckte das Schrift
stück, als cs kopiert war, ein.
Wieder stand er am Abend vor Flora
Traub. Ganz kurz sagte er:
Angenommen."
Sie sank, keines Wortes mächtig, in
den alten Sessel am Tisch. Tie Hände,
die kleinen, verkrümmten Finger hielt sie
vor's Gesicht. Und als sie herabzog, lag
vor's Gesicht. Und als sie sie herabzog,
lag auf den trüben Augen ein heller
Glanz.
Rehbinder schob ihr den Bricf hin,
reichte ihr die Brille, sie las und fand
dann cingefaltct einen Hundertmark
schein. Das erst? Honorar", erläuterte er.
Sie aber schob das Geld ocktlos bei
seile und las immer wieder das ersehnte
Schreiben.
Fast allabendlich in der nächsten Woche
erschien nun Rehbinder in der kleinen
Mansarde auf dem Cackbeim und half
lora die Korrekturen lesen. Er be
wunderte die Sicherheit, mit der sie noch
hier und da ein Wort änderte, den Sinn
eines Satzes durch eine kleine Wandlung
klarer herauszubringen wußte. Und end
lich kam cr mit dem Paket, in dem ihre
zehn Freiexemplare lagen. Immer wie
der fuhren ihre Hände über den schmalen
Rand der Bände.
Da bat cr sie:
Schenken Sie mir eins,"
Wortlos reichte sie ihm eins hinüber.
Er bat:
Schreiben Sie Ihren Namcn hinein."
Sie setzte die Brille auf, schrieb und
reichte ihm das Buch. Er las:
Erlösung ist verheißen denen, die
eines guten Willens sind. Menschen, seid
gut!"'
Das Fest war vorüber, das neue Jahr
war da Floras Buch hatte zuerst kein
Aufsehen erregt, aber es war langsam in
manche Hand getommen. an manches
Herz gedrungen. Niemand fast wusste,
daß die Bersasserin in der Stadt selbst
lebte.
Tann war eine Debatte in einer der
Zeitungen entstanden, Sätze des Werkes
wurden aufgcgrisscn, von den einen re
spiktvoll bekämpft, von den andern be
geistert gepriesen. Wcller wurde auf das
Buch angesprochen, es ging" Plötzlich,
und Rehbinder hörte ein knurriges Lob,
Sehen Sie mal an, Früchte von der
blauen Blume! Na, geben Sie die
zweiie Auflage in Druck."
In einem Kreise stiller Menschen, dem
Rehbinder zugehörte, bildete .Der Liebe
Ewigkeit" seit Wochen fast den einzigen
Gesprächsstoff der allwöchentlichen Zu
fammenlünste. Jeder fühlte sich tief da
von berührt. Immer wieder wurde über
das Werk mit Liebe gesprochen. Endlich
mußte Rehbinder mit seiner Kenntnis
herau-koinmcn. Was cr berichtete, schien
unwahrscheinlich, seltsam. Der Wunsch
entstand, Flora Traub kennen zu lernen.
Rehbinder wehrte sich. Er wußte, daß
hier keine Neugier sprach, fondern die
Teilnahme schlichtet Herzen, die danken
unv hören wollten. Trotzdem hatte er
arr Bedenken, die jedes Umgangs Ent
wöhnte in den Kreis einzuführen.
Wider sein Erwarten zeigte sie sich
rasch bereit, als er bei einem seiner hau
figen Abendbesuche eine Andeutung
machte.
Menschen, die mich sehen wollen, von
denen ich lernen kann, will ich auch sehen,
hören." '
Acht Tage darauf holte Rehbinder
Flora ab. "Sorglich leitete er sie über
die Treppen. Unten stand eine Droschke.
Flora atmete die scharfe Winterluft ein,
hustete einmal auf, bat dann aber mit
viel freierer Stimme:
Können wir nicht lieber gehen? Ich
bin seit so vielen Jahren nicht draußen
gewesen,."
"Es war windstill. So gingen sie.
Wie eine Mutter ward die Greisin von
Rehbindet betreut.
Nach einer Viertelstunde hatten sie das
Haus erreicht, in dem seine Freunde
ivartetcn. Ein schlichter Saal, voll ge
drängt mit Menschen, deren leise? Ge
sprach verstummte, als Rehbinder Flora
zii ihrem Platz führte. Der Leiter der
Versammlung kam zu ihr, sie zu begrii
ßen; ernte folgten. Sie mühte sich),
eines jeden Zuge zu erkennen, sagte je
dem ein Wort aus beglückter Seele.
Dann trat der Leiter an ein Pulk.
Liebe Freunde!" sagte er.. .DaS
Buch .Der Liebe Ewigkeit" beschäftigt
uns nun seit Monaten. Wir alle arbei.
tcii an uns, wir alle suchen nach dein,
einen, was not tut. In diesem Buch
Ipben wir einen starken Helfer gesunden.
Es hat uns viel Neues. Schönes, diel
Altes schöner gezeigt. Es hat uns warm
gemacht; es hat uns besser gemacht.
Heute ist die Verfasserin bei uns, wir
wollen ihr danken. Wir dürfen ihr tuU
leicht sagen: Du bist die unsere, oder
noch besser: Wir möchten die dcinca
sein."
Der Redner hielt, sehr bewegt, inne.
Flora stand auf. Zuerst sah man
kaum, daß die kleine Gestatt auf den
Füßen stand. Tann war eine atemlose
Stille, und in diese hinein sprach sie:
Liebe Freunde! Ich war immer
allein, seit mein letztes Kind starb, aber
nie einsam. Viele Herzen fühlte ich mit
dem meinen schlagen. Jetzt sehe ich, daß
ich mich nicht getäuscht habe. Was rniä
alle zusammenhält, das habe ich nie deut
licher und heiliger gefühlt als hier." :
Bis dahin hatte sie ohne Stocken gc
fprochen. Vieler Augen waren voll Trä
neu, wie die Greisin so stand, in ihrem
schlichten Gewand, und mit ihren halb
blinden Augen emporsah. Nun sagte si
stockend:
Ich dank' euch ollen. Der Lieb
Ewigkeit "
Da sank sie um. Rebbinder fing sie
auf. Noch war eine heilige Slmnmheit
rinasuml)cr. Tann löste sich die Starre,
die Näckssten traten heran, alle wußten,
was geschehen war. Still zog alles an
der Entrückten vorükr, keiner sprach
mehr ein Wort, indem er den Saal der
ließ, wo Rebbinder und der Sprecher
einer Vollendeten die letzte Wacht hielten,
Ciit sensationeller
Arauttnsro.
Im Jabre 1000 hielt sich an der Uni
versität Erfurt, die bekanntlich in den
damaligen Zeiten im Inland: wie Aus
lande einen sehr angeschenen Ruf genoß,
ein aus Ungarn gebürtiger reicher Ka
valier namens Johann o. Laubet stu
dienhalber auf. Da er großen Auswand
trieb und vielseitig gebildet war, gelang
es ihm bald, in die ersten Pa!rizicrfal
mitten der Stadt eingeführt zu werden.
So verkehrte cr auch häufig bei dem
Junker Rupcrt Wecgmann, dessen an
mutige Tockter Angelika sein leicht ent
zündliches Herz bald in lichlc Flammen
setzte. Kurz entschlossen hielt der Stu
diosus um die Hand der holden Mais
an, die ihrerseits die Neigung voll er
wiserte. Anders dachten aber darüber
die Eltern, denen die Jugend und der
leichte Sinn des Bewerbers mannigfache
Bedenken einslößien. Da die Hindernisse,
die sich der Verbindung der jungen Leute
entgegenstellten, unüberwindlich erschie
nen, kamen beide überein, nach der Stadt
Wcißcnsee in Thüringen, wo Verwandt l
es Herrn v. Lauber wohnten, zu ent j
fliehen. Als daher am 24. September
Mutter uns Tochter der Frühmesse im ' "Vfc
Tome beigewohnt hatten und beide die 1
große steinerne Freitreppe herabstiegen,
kam ihnen plötzlich der stürmische Lieb '. , '
heibcr entgegen, riß die Tochter von der
Seite der erschreckten Mutter weg und
eilte mit ihr dem Johannisior zu. Allein
zum, Unglück für die Kidcn Lwbcndcn
waren wegen der Friibpredigt die Flügel
noch verschlösse,!, und sie sahen sich daher
genötigt, einstweilen auf dem Fcstunas
wall zu warten.
Welch ein Schrecken, als mitten in die
Zukunsispläne dir zwischen Furcht und
Hoffnung schwa!!keneen Herzen Plötzlich
ein Trupp von Stadtknechten unter der
Führung ihres Hauptmannes'platzte, der
die Durchbreinier verhaften wollte! Der
ergreift jähe Verzweiflung den Unglück
liehen Kavalier, er zieht in einem An
falle von Wahnsinn den Degen und ver
setzt dem sich ängstlich an ihn anklam-
mernskn ziasajen zevei l,a in oie .
Brust, so daß sie entseelt zu Boden sinkt,
währen cr in den Ruf ausbricht: "
.Sollst du mir versagt bleiben, darfst
du auch keinem andern angehören!"
Trotz seines Widerstandes wurde der Ra
sende endlich von den Stadtknechten gc
fesselt nach vem Rathaus geschleppt. Hier
saß er ein volles Jahr in strengster Haft,
bis das Urteil gesprochen wurde; es lau
tete nur auf finf Jahre Festung, die
in Raab in Ungarn verbüßt werden soll
ten, und auf eine Geldbuße von zweitau
send Talern, eine für die damalige Zeit
allerdings hohe Summe. D?r adelige
Ungar hatte sich demnach jedenfalls mäch,
tiger Fürsprecher zu erfreuen. DaS er
mordete Mädchen wurde ; mit großer
Feierlichkeit im Erfurter Dome beige
fetzt. Tie unglücklichen Eltern schenkten
das aus rotem Atlas gefertigte, do,i
ihrer Tochter am Tage der Ermordung
getragene Kleid der Seirche zu einet AI ,
tarbekleidung, nachdem sie in den Stoff j
zur Erinnerung an das unselige Ereig 4
nis an der Stelle, wo der Degen hin V.
durchgedrungen war, ein goldenes Herz X
hatten hineinsticken lassen.
(
Ein unersiillter Wunsch. Tie fitU
tiker waren bei den Schriftstellern schon
in früheren Zeiten ebenso gefürchtet wie
heutzutage. Am 10. Juli 1083 war in
Paris der berühmte französische Ge
schichlschreibcr Fran?oiH Edes de Mc
zeray gestorben. Bei der Ordnung sei
nes Nachlasses fand man ein Goldstück,
das sehr sorgfältig in Papier gewickelt
war. Auf dem Papier stand von Me
zerays Hand geschrieben: TieseS Gold
stück hab, ich seit meinein dreißigsten
Jahre aufbewahrt, um dasür ein Fen
ster auf dem Gröveplatz zu mieten,
wenn einmal ein Rezensent gehängt
wird.'
Die Vernunft ist das höchste Gesetz
der Philosophie. Wahr ist ihr, was sie
durch Vernunft- und Erfahrungsgründe
wa5 auf einS hinausläuft bewäh
nn kann. Nicht dak Hellige ist wahr,
fondern das Wahre ist heilig.
J