Tägliche Omaha Tribüne. (Omaha, Nebr.) 1912-1926, October 11, 1917, Image 7

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    MMe Omsha TrMse
Kchlhnt.
Eine Novcllette von Nina klekiner.
Der Wrand der Kesjeljchmiede.
Erzählung von r!iz Sänger.
(Juic Stunde verhältn!smäb!ger Ruh?,
die erste seit Beginn des FcldzugcS, war
für den Obersten und Komm?ndanten
. deö 20. Hlisarcincqiments gekommen. Die
letzten Vcfchle waren erteilt, die Ordern
flauen entlassen, und der Oberst war aU
lein in der Bauernstube, die ihm für
diese Nacht als Quartier diente.
Er öffnete die kleinen Fenster, vor de
neu ganz verdorrt die Blunlenstöcke noch
standen, die in Friedenszcitcn so iippig
geblüht hatten und für die nun längst
keine sorgende Hand sich mehr fand.
Frisch strömte die Nachtlust in den dum
Pfcn Raum und ließ die Brust des Jstan
ncS in tiefen, durstenden Aiemziigcn sich
heben. Die Flamme der auf den Tisch
zwischen den Fenstern stehenden Kerze
flackerte im plötzlich entstandenen Luft
zufli unruhig zusammen und verlöschte.
In der Dunkelheit, die nun in dem
Zimmer krrschte und in die nur die bei
den Fsnsterösfnmigen'als etwas hellere
Vierecke eingezeichnet waren, begann der
Oberst unruhig auf und ab zu gehen.
Immer rascher wurde sein Schritt, im
mer erregter sein Atcm, bis er sich auf
. stöhnend auf das primitive Lager warf,
, das an der rückwärtigen Wand des Zim
merz aufgeschlagen war.
Da saß er dann, vornüber gebeugt, den
Kopf gesenkt und in die Hände vcrgra
ben. Die Stunde dcr Ruhe,, nach dcr er
gelechzt, wurde ihm zur ärgeren Qual
als die Tage des Kampfes es gewesen.
. Während der nötigen Anspannung aller
Kräfte, wahrend dcr nnausgefctzten kor
perlichen Strapazen, war dcr eine Ge
danke in den Hintergrund gedrängt wor
den, dcr nun wieder kam und riesengroß
auferstand, wie er seit Jahren als fcro
vender Schalten sich reckte und seinen Le
benswcg verdunkelte.
Bor dcr Zeit war sein Haar grau ge
worden, scharfe Linien hatten sich in scin
Gesicht gcgriben und fein Herz war er
starrt vor Gram über die Schmach, die
fein Sohn Über ihn gebracht. Er hatte
nach dessen unseliger Tat den Abschied
nehmen wollen. Als Batcr eines, dcr die
, Reihen seiner Kameraden widerrechtlich
verlassen, ttt aus der Armee ausgcstoßen
wurde und dem fein Valcrland vcrschlos
f:n blieb, fühlte er sich nicht länger wilr
big, feines Kaisers Rock zu tragen. Aber
löheren Orkcs wußte man ihm Gcrcchiig
Zeit widerfahren zu lassen und der Vater
dürfte nicht entgelten, was alleinige
Schuld des Sohnes war. Mit fanati
schern Eifer hatte er sich dann seinem
, Dienst hingegeben, als könne er durch
verdoppelte Pflichttreue gut machen, was
fein Sohn voll aufbrausendem Trotz in
jugendlichcm Leichtsinn verbrochen hatte.
Stete vollste Anerkennung seiner Lei
ftunqen, ein rasches Avancement und
mancherlei Ordcnsauszeichnungen waren
dcr Lohn seiner Bemühungen.
Wer nie empfand er Befriedigung
darüber, nie konnte er das Eine bergef
i fl'N, das ihm jeden Erfolg vergällte und
jede Ehrung als nicht voll verdient
l erscheinen ließ. Je höher er stieg, desto
' demütigender war ihm dcr Gedanke an
die Schuld, die Blut von seinem Blut
, auf sich geladen hatte und die ach sei
riem Gcfuhl iniaesiihnt geblieben war.
Wie eine Erlösung aus u erträglichem
Truck dünkte ihn der Ausbruch des Kric
ges. Was in den Friedensjahren im
möglich war, jetzt war es in das Bereich
ivs Möglichen gerückt: dem Svhn war
Kitlegenheit gegeben, gut zu machen, was
er vcrbrochcn hatte.
Die Heimat rief ihre Söhne, auch die
verlorenen, zur Verteidigung auf. Und
das gekränkte Vaterherz rief mit, 'voll
letzter, banger Hoffnung.
Wenn dcr Sohn dem Ruft folgte und
für daS Vaterland zu streiten Zam, so
sühnte er Vergangenes und machte sich
der Berzeihung würdig,
Die Tage der Mobilisierung dergin
gen, keine Nachricht traf von ihm ein.
Den Weg zum Vatcr zurück, der ihm jetzt
offen gcsiandcn Ware, hatte der Sohn
nicht gesucht. Ob er den Weg zur Ar
mtt, den Weg, der die Ehre ihm wieder
gcben konnte, gesucht und qcfundcn
hatte? Der Oberst, wußte es nicht und
wagte nicht wrhr, daran zu glauben.
Die ganze Bitterkeit dcr Enttäuschung,
welche das Ausblcibcn dcs Sohnes ihm
verursacht ljatlc, ragte nun übermächtig
wüder empor und die aufgewühlten
Schmerzgcdanicn ließen den ermatteten
Körper die Ruhe nicht finden, der er nach
den 'aufrege ndcn Nampfcstagen bedurft
hätte.
Wie Ausgelöscht war jedes Gefühl des"
Stolzes, das seine Brust bei dem tapfe
rcn Vorwärtssiürmcn feines Regiments
erfüllt hatte, wie weggeweht die Genug
tuung über das Gelingen des Vorstoßes,
die vor wenigen Stunden ihn das Haupt
hoch erheben und ihm die Augen leuchten
gemacht. Vergessen war alles selbst e
leistet wie nach jedem seiner dienstlichen
Erfolge und einzig lebendig wieder nur
, der Gedanke an den Sohn, den er zum
zweitenmal und nun ganz verloren geben
muste.
Die Nacht schritt vor. er blieb in sein
duwpfcS rubeln versunken. Von brau
ß?n klangen die Sci.ritte der Wachtposten
und das' Stampfen und Schnauben der
Pferde hinein. -
Am Himmcl standen die blitzenden
St'rne. cchich srcuMich auf die grausi
(in Schlachtfelder herniederlächelnd wie
:rl ou? die im Frieden schlummernde
Erde. Wie ein dunkler, mit Silber reich
b:ksck!e: Vorhang war h:x Nackthimmel
Lllögchreitct und dcr silbrige Schimmer
drong durch die klrracn Fenster in die
Stube hinein nd zwang die müden
Aucn des ruhelofcn GrüblerS-auZ sich.
Unbewußt wohltuend berührt blieb sein
Blick auf dcr samtenen Fläche ruhen und
der tiefe Frieden, den der bestirnte Hirn
nul stets atmet und der sich dem bedrück
Un Menfchengemüt so manchesmal noch
mitzutcil'N vermag, wenn es sonst kä
r''N Trost m.chr zugänglich ist, tat auch
k lier feine Wirkung. Die quälenden Ge
Unken verebbte nach und nach und m
Gefühl des Losgelöstseins von der
Schwere seines Zlummers überkam den
Oberst. Die Starrheit seiner Haltuisg
licfz nach und das lang unterdrückte
RuhcbcdürsniS machte sich geltend. Er
streckte sich auf dem Lager aus. den Blick
unverwandt nach dem Fenster gerichtet,
bis die Lider sich schlössen und dcr Schlaf
ihn übermannte.
Doch nicht lange blieb er der Wirklich,
seit entrückt.
Bon fernher klang Pscrdegctrappel,
das sich rasch näherte. Dadurch schon
halb geweckt, brachte dcr sckMrfe Ruf des
Postens den Oberst ganz zum Bewußt
sein. Er schreckte empor, sprang auf und
eilte zum Fenster.
Eben sah er, wie dcr Reiter vom Pferd
glitt, taumelte und an die vom eiligen
Lauf noch zitternden Flanken des Tieres
sich lehnte.
Mit raschen Schritten verließ der
Oberst das Haus und trat auf die
Gruppe zu.
Stramm nahm der Posten Aufstel
lung.
Der Reiter bemühte sich vergeblich, die
vorschriftsmäfjige Haltung zu geminnen.
Er versuchte sich aiifaiirichlen, taumelte
aber wieder an den Leib des Pferdes zu
rück. Die Hand auf die Brust gepreßt,
stieß er mühsam iit knappen Worten die
inhaltsschwere Meldung hervor, die zu
überbringen er mit Todesgefahr über
nommcn hatte und sank dann lautlos zu
Boden.
Bei dem Klang der Stimme des Sol
daten war der Oberst zurückgeprallt und
bemühte sich starren Blickes die Dunkcl
heit zu durchdringcn, um die Züge dcs
Mcldendcn ausnchmcn zu können.
Als er umsank, war es einen Moment,
nls wolle der Obcrst zu dem Gestürzten
sich hinabncigcn. Doch im nächsten Au
genblick stand er wieder aufrecht, und al
les Persönliche trat zurück hinter dcr
Pflicht, aus der eben gehörten Meldung
die nötigen -Schlüsse zu ziehen. Mit un
bewegt Stimme gab er dem Posten Be
fchl zum Alarm zwecks sofortigen Auf
bruches. Und unbewegt erteilte er den
herbeieilenden Offizieren seine Weisungen
und winkte einigen Soldatcn, sich des
Bewußtlosen anzunehmen.
Dann eilte er in das Haus zunick, um
nach wenigen Augenblicken marschbereit
wicdcr zu kommen.
Inmitten des aufgeregten Hin und
Her. das die bis jetzt so stille Dorsgasse
durchwirbelte, trat er zu dem Zusammen
gcbrochcncn heran. Die Soldaten hatten
ihn aus dem Getümmel getragen und
seitwärts, wo der Weg zur Kirche empor
führte, an die Nasenböschung gebettet.
Dcr Oberst hieß sie mit stummer Hand
bewegung sich nun zu entfernen.
Allein geblieben, kniete er neben dem
gungtzloscn Körper nieder und hob mit
unsicherer Hand die kleine Laterne. Der
blasse, ungewisse Schein zuckte über ein
junges Gesicht, bei dessen Anblick das
Herz des Obersten nbcbte.
Dcr Stimmcnklang hatte ihn nicht ge
täuscht es war fein Sohn, der da dor
ihm lag. Aber erstarrt in eisiger Ruhe,
vom Tode überschattet waren feine Züge.
Die Laterne hastig wegstellend. riß der
Oberst den Wafftnrock des Sohms auf.
Das blutgctränkle Hemd wies die Stelle,
wo die feindliche Kugel eingedrungen
war.
Er preßte das Ohr an die entblößte
Brust.
Kein Atemzug hob sie, nicht ein leise
stcs Zittern dcs Herzens war zu vcrspu
rcn.
Er nahm die Hände die LcbcnS
wärme war aus ihnen gewichen.
Und so, die Hände des Sohnes in sei
nen haltend, den Blick unverwandt auf
das blasse Gesicht gerichtet, verharrte der
Obcrst kniend.
Nicht Schmerz war es, was 'hn an der
Leiche seines SohncS bewegte, vielmehr
eine wehmütige Freude, wie man. sie em
pfindet, wenn man verloren Geglaubtes
ob auch zu spät, doch noch wieder findet.
Es waren rauhe, orbeitSgewohnte
Hände, die er hielt, und die Uniform des
Gefallenen war die eines gemeinen Eol
daten.
Mit Genugtuung sah es dcr Oberst.
Sein Sohn War gekommen und hatte
sich dem Vaterland zur Verfügung ge
stellt, mutig alle Konsequenzen seines
Jugendstreiches auf sich nehmend. Im
Mannschaftsdicnft hatte er sich abmühen
müssen, unterstehend manch einem von
jenen, mit denen früher innige Kamerad
schaft ihn verbunden hatte. Viel Selbst
zucht und ein eiserner Wille zur Erfül
lung der freiwillig übernommenen Pflicht
hatt: dazu gehört. 5iicht leicht war e
ihm gemacht worden, seine Eclrnld zu
büßen. Aber er hatte sie gebüst, voll
und ganz, durch seine letzte Tat. Mit dem
Einsatz feines Lebens hatte er die Mcl
dung llberbracht. von deren rechtzeitigem
Eintreffen so vieles abhing. Bis zum
letzten Atemzuge hatte er dem Vaterland
gedient. Dem Vatcrlande, daS auch ihn
wieder rief von dcr Leiche des Sohnes
hinweg.
Das Getümmel im Torf und in des
sen Umgebung war immer lebhafter ge
worden und drängte den Oberst aus sei
ncr Verfunkeicheit.
Er blickte um sich.
Seine Leute waren bereit und harrten
ihres Führers.
Es war Zeit, den letzten Abschied zu
nehmen, kurz, wie es Eoldatenart und
wie es der Augenblick gebieterisch for
derte. Ein letztes, stummes Gebet, ein inniger
Tank zu Gott trotz allcdem. Denn ge
tilgt war der Makel, der den Sohn von
ihm getrennt, gesühnt fein Vergehen und
rein durste sein Bild in der Erinnerung
leben.
Das grüne Reis, das seinen Tschako
zierte, nahm der Oberst und legte kS dem
Toten in die gefaltelen Hände.
Noch ein letzter Blick in doS stille Ge
sicht - dann riß er sich los. Nach außen
hin mußte sein persönliche Empfinde
Auf zwei Eisenträgern, die vor der
großen, geräumigen Halle lagen, faßen
sich die sechs Männer gegenüber. Es war
ein sehr schwüler Tag, und aus dem
Tore der Halle, in dcr sie gearbeitet hat
ten, wälzte sich langsam und schwer ein
grauer Dunst heraus, der an der Bor
derwand des Gebäudes hochstieg und in
der flimmernden Luft zcrran. Es war
Vcspcrpause und so ruhig, wie es, eben
in einem großen Fabcikhose sein kann;
die Männer trankcn einander zu, aber das
war nicht das Zutrinken fröhlicher Ge
seilen. Einer sagte ein Scherzwort
man kann es nicht wiederholen und
alle lachten. Man hört es sonst kaum,
dieses Lachen; es war nicht das Lachen
dcr Freude.
Die Kcsschchmiede, von denen hier
die Rede ist, die hatten ihre eigene
Sprache. Die harte Arbeit macht harte
Hände, straffe Arme und schroffe Ge,
danken. Harte Arbeit muß getan sein;
so nahm es den Kesselschmieden niemand
schief, daß sie sich und anderen Worte
und Redensarten als Kosenamen zukie
sen, die sonst als unflätige Kosenamen
und schwere Veleidgungen gelten. Die
sechs Männer trugen im Hochsommer,
an solchen Tagen, wie heute einer war,
nur Hose und niedrige Schuhe, und
wenn man sie sah, hatte man das Gc
fühl, einer elementaren, urgesundcn
Kraft gegenüberzustehen. Hören durfte
man sie, nicht. Bei der Arbeit machten
sie einen Lärm, daß einem normalen
Menschen bald alle Sinne schwankten;
in den Pausen war das, was das Ohr
an ihnen hatte, beinahe noch weniger
genießbar; darum verdachte es auch dem
kleinen Kalk niemand, daß er sich ab
seits setzte, obwohl er zu den Kessel
schmieden gehörte.
Er war zart und fein gebaut, aber das
sah man nicht so; denn bei der Arbeit,
die ihm zugewiesen war, wurde er im
mer so schwarz im Gesicht, und seine
Kleider Karen so verraucht, daß man
nur noch zwci helle Punkte an ihm be
merken konnte, und- das war das Weiße
in feinen Augen, ie immer so seltsam
verloren in diese Welt der Arbeit und
Härte hineinsahen, daß man meinte, er
hätte sich irgendwie verirrt.
Er saß immer, gerade wie heute, in
einiger Entfernung 'und hörte auf das,
was feine Arbeitsgenossen als Untcrhal
tung zueinander sagten. Gewöhnlich
waren sie sehr laut. An diesem Tage
lag die Julihitze wie eine Last auf ibnen,
und daß sie so still waren, das heißt,
daß sie nicht schrieen, das war etwas
Unheimliches für den kleinen Kalk.
Die Kesselschmiede hatten auch eine
ganz ungewöhnlich! Unterhaltung heute.
Warum muß dcr . . . uns gerade in
eine der bude hineinstecken!"
meinte der Lotzel, d:r der Größte und
Derbste war von de scchsen, und daran
fcfifoj er einen Fluch, der auch nicht
besser klang als feine Beschwörung.
In Kassel habe ich in einer Kessel
schmiede gearbeitet," sagte der Wenzer,
da war es im höchsten Sommer nie so
heiß, die war aus Eisen und Beton und
gut gelüstet."
Ich hab's dem Alten auch schon ge
sagt," ergänzte der Gool, aber solang
diese . . . bude nicht wegbrennt, so leyig
können wir uns hier schinden. Wenn
einer von uns kaput geht, so wird ein
fach ein anderer eingestellt."
Was sagst dii, wegbrennt!" rief der
Lotzel und riß seine großen Augen, in
denen das Weiße gelb war, weiter auf.
Wegbrennt!" sagte er leiser und sah
eincn nach dem anderen an. Und alle
verstanden mit einem Male, daß außer
der Julihitze noch etwas anderes in der
Luft lag, was das Blut stocken machen
konnte.
Eben ging dcr Heizer über den Hof.
Der Lotzel rief ihm, gab ihm ein Stück
Geld und hieß ihn ein'c neue Fuhre Bier
holen, drüben in der Brauerei.
Bald nachher stanken die Kessel
schmiede ihre doppelte Lage. Das war
nicht so selten der Fall, aber sie mach
ten sonst dabei immer auch den doppelten
Lärm. Heute taten sie es nicht. Dabei
war doch eigentlich Anlaß genug da,
denn dcr Lotzel, der sonst gar nicht zu
den Freigebigen gehörte,, hatte nach der
zweiten noch eine dritte Lage gespendet.
Nachdem diese angefahren war, er
tönte die Dampfpseife, die ade in der
ganzen Fabrikanlage, zu der die Kessel
schmiede gehörte, zur Arbeit rief. Es
war das Sonderrecht der Kesselschmiede,
daß sie so langsam wie nur irgend ög
lich sich von ihrem Eiscnsttz erhoben.
Aber merkwürdig, auch von diesem
Rechte machten sie heute keinen Gebrauch.
Sie gingen sogleich, nachdem daS
Signal verklungen,, in die große, weite
Halle zurück und griffen nach ihren
Werkzeugen. Aber sie schimpften nicht,
bevor sie anfingen, und gerade heute
war doch Grund genug dazu. Der stau
bige schwarze Boden strahlte eine
glühende Luft aus, die war dick, wie sie
nur in einer schlechtgelüftcten Arbcits
halle fein kann. In dem schweren, un
beholfenea Holzfachivcrk, welches das
Dach trug, zogen mühsam Rauchschiva
den hin und her, als wollten sie einan
der bedrängen, und stießen sich einander.
Sie fanden in die fernsten Winkel des
geräumigen Baues und machten aus dem
Dachwerk ein schmarzgraues Ncbelmecr;
nur die Ausgänge im Dache, durch die
abgetan sein, einzig die Pflicht trat wie
dcr in ihr Recht.
Sein klarer, ruhiger Kommandoton
durchklang die Nacht. Mit kühl erwägen
dem Kopf und eiserner Hand führte er
scin Regiment zu erneutem Kampfe.
Und nur im innersten Herzen bebte
das Erlebnis dcr letzten Stunde, dies für
immer Verlieren und doch Wiederbesitze
des geliebten Sohnes, in halb schmerz',
chcn, halb freudezitternden Schlägen
naH.
sie eigentlich in daZ Freie gelangen
sollten', die fanden sie merkwürdigerweise
nicht.
Kein Billigdenkender, der hier herein
gcschcn hätte, würde den Kesselschmieden
beftritten haben, daß sie ei hartes Los
hatten, an solchen Tagen ganz besonders
hart. Darum genossen sie auch einige
Vorrechte, die zwar nicht verbucht waren,
aber dennoch nicht weniger scst standen.
So hatten sie das Recht, gcgen die Werk
stattordnung, die sonst in der ganzen
weitläufigen Anlage von Baulichkeiten
galt, auch außer der Vesperzeit sich Bier
holen zu lassen. Davon machten sie jetzt
Gebrauch.
Wicdcr zahlte der Lotzel, und er
schickte den kleinen Kalk mit einem Hen
Zclkorb in die Brauerei hinüber.
Kaum daß er draußen war, ging We
kel in die anstoßende Schmiede, wo ge
rade heute niemand war. weil die
Schmicde sonstwo zu tun hatten; dort
holte der Wckcl eine Pctrolcumlanne.
Währenddem sammelte dcr Lotzel einige
Bäusche von Putzbanmwolle, wie sie über
all in der Kesselschmiede herumlagen.
Sowie dcr Wckcl das Petroleum brachte,
nahm ihm der Lotzel die Kanne ab und
benoß damit die Bäusche. Eben ging die
Tür auf; der kleine Kalk war's. Er
trug seine Bierflaschen in der Hand und
hatte nichts bemerkt.
Er stellte die Bierflaschen hin, und
dann kroch er in die enge Röhre aus gc
walztem Eisenblech, denn da drinnen
hatte er eine Winde gegen die Nieten zu
setzen, die ihm die anderen funkcnsprü
hend hereingaben.
Der kleine Kalk konnte in dcr Kessel
schmiede gerade deswegen gebraucht wcr
den, weil er so klein war; sonst waren
da nur Männer mit starken Armen und
Stahldrähten statt Nerven verwendbar,
aber zum Anhalten der Nieten in den
sogcnanntcn Vorwärmcrn mußte man
sich dieses schmächtigen Jungen bedienen.
Er tat es um den Lohn, den seine
Mutter und Gcschwister so sehr gut
brauchen konnten, und er nahm alles,
was sonst damit zusammenhing, als ein
Martyrium, dem nicht zu entgehen war.
Jetzt wartete er auf die Nieten; daß
ihm lange keine hincingegcben wurden,
daS war einfach damit erklärlich, daß sie
ja wieder Bier hatten, die Kesselschmiede.
Auf einmal kam das Gehämmer; drei
hatten sich auf einen Lokomobilkcssel gc
setzt und fingen an, die Nähte und Nie
ten zu verstemmcn". Gleich darauf hörte
der kleine Kalk, wie der Gool die Feld
schmiede in Tätigkeit fetzte. Dcr Gool
hatte dort die großen, fingerlangen Nie
ten zu wärmen und dann dem Kalk in
den Vorwärmer hineinzureichen. Die
drei, die an dem Borwärmer zu tun hat
ten, hieben mit ihren schweren Hämmern
die glühende Niete herunter. Einer setzte
den Abplatthammer auf, wodurch die
Niete einen formgcrechten Kopf bekam,
und nach kaum einer Minute war diese
Niete erledigt.
Auf dem Lokomobilkessel setzte die
anderen ihre lärmende Arbeit fort, und
der kleine Kalk wnrjcte auf eine neue
Niete. Es ging Minuten, sie Zam nicht.
So etwas war nicht selten, leicht gab es
unter den Kesselschmieden kleine Mei
nnngserschicdenheiten, die sich immer erst
in zünftigen Auseinandersetzungen aus
leben mußten; aber das war dann im
mer so laut, daß man auch im VorwLr
mer drinnen noch genug davon zu hö
ren bekam. Diesmal war es ganz still,
und es blieb still. Die Niete kam nicht,
nd jctzt hörten sogar die anderen, die
auf dem Lokomobilkessel saßen, mit ih
rem Gehämmer auf, und niemand sagte
ein Wort. Diese Ruhe hatte für den
kleinen Kalk etwas Unheimliches. Lang
sam und vorsichtig kroch er in seiner
Eisenröhre nach vorn und steckte ncugie
rig den 5eopf hinaus. Er sah, wie zwci
von dcn Kesselschmieden aus drtn Fach
werk der Halle hcrabklettcrten, und wie
alle anderen nur a,if diese zioci aufpaß
ten.
Er wußte nichts, er wußte gar nichts,
vbcr er hatte augenblicklich das Gefühl,
daß hier etwas geschah, oder geschehen
war, das nicht recht war. Wie sie so
lauernd dastanden, diese sonst so geraden
und aufrechten Männer, wie sie neugie
rig hinaufschauten in das Fachwcrk! Wie
sie jetzt auf einmal, auf ein Zeichen Lo
tzels,' alle an ihre Arbeit gingen, ohne
einen Laut zu sagen, das war nicht ihre
Art. Kalk überlegte und kroch zunächst
nicht in seinen Borwärmer zurück; was
doch eigentlich das Natürliche gewesen
wäre. Und so eis rig hatten es die an
deren, daß jie das zunächst gar nicht
merkten; ein zeder war auf scincmHlatz:
der Gool wärmte eine neue Niete, die
drei saßen auf dem Lokomobilkcssel und
hämmerten wieder, und die anderen bei
den hatten die Hämmer erfaßt und war
toten auf die Niete. Der Gool nahm
die nun glühclkde Niete in die Zange und
Wollte sie gerade hincingeben, da be
merkte er, daß Kalk zngcfehen haben,
mußte. Der große, schnige Mann stand
mit dcm sprühenden Eisen und stand wie
versteinert und zitterte doch am ganzen
Körper. Aber wer wußte, ob es aus
Zorn oder vor Furcht war?
Der kleine Kalk wußte es nicht, er
wußte nur. daß ihm irgend etwas das
Herz im Leibe zusammcnkrampfte, und
jetzt wollte er schnell in seinen Vorwär
mer hineinkriechen Aber jetzt war cs zu
spät. Auch die anderen beiden, die auf
die Niete warteten, hatten ihn entdeckt,
und auf ihren Gesichtern war derselbe
Schrecken und dieselbe Wut. Und der
eine von ihnen, der Lotzel, warf den
Hammer auf die Erde und olles, was
nun weiter geschah, wußte der kleine
Kalk erst viel, viel später in seinen Zu
sammenhängen zu erfassen.
Zunächst packte ihn der Lotzel an dcn
Schultern, riß ihn aus seinem Vorwär
mer heraus und schrie ihn an: Was
weißt du? Auf dcr Stclle heraus da
mit: was weißt du?!"
Er wußtegar nichts, und wa! im
mer gewußt hätte, er war in diesem Au
genblick nicht fähig, irgend etwas zu fa
gen.' Und während er noch mit wanken
den Knien stand, fiel aus dcm Gebälk des
Dachfachwerkcs ein brennendes Etwaö
herunter. Der Lotzel hatte es nicht ge
sehen, aber die anderen. Zwci sprangen
gleichzeitig darauf zu und stampften mit
den Füßen darauf herum. Der Lotzel
hielt noch dcn Kalk an den Schultern
fest und schüttelte ihn, als wollte er eine
Antwort hcrausrüttcln.
Dcr junge Mensch wußte immer we
Niger. Das waren doch seine Acbeitsge
nossen, mit denen er täglich zusammen
gewesen, seit mehr als einem Jahr, und
wenn ste ihm auch fremd geblieben, er
hatte ihnen nie etwas zuleide getan, nie
etwas in die Wege gelegt; und nun faßte
ihn der eine so an, und die anderen lie
ßen es geschehen, sie schienen sich sogar
nicht einmal darum zu kümmern.
Und weil sich alles in ihm aufbäumte,
und weil alles in ihm zu brechen drohte
und er kein Wort sagen konnte, so wurde
das Gesicht, das er vor sich sah,
das Gesicht des Lohcl, immer hef
tiger, und auf einmal flammte in
diesen Augen, in denen das Weiße gclö
war, etwas Furchtbares auf. Und wenn
auch der kleine Kalk nicht wußte, was
es war, weil er Aehnliches in feinem Le
den nie gesehen, so empfand er dach,
daß etwas ganz Entsetzliches um ihn
herum sich begab, etwas, das ,ihu an
ging, und er stieß einen Schrei es,
einen fürchterlichen Schrei, und machte
gleichzeitig den Versuch, sich zu befreien.
Er kam los, er raunte, was ihn die
Füße trugen, hinter der Feldfchmicdc
hindurch nach der Tür, die zur Schmicde
uhrte. Er erreichte sie, riß sie auf und
chric wicdcr, schrie einen ganz unbc
chreiblichen Laut hinaus. Aber die
Schmicde war leer, und ehe er oie an
dcre Tür, die aus der Schmied: ins
Freie führte, erreichen konnte, hatte ihn
einer der Männer am Hemdärmel gefaßt.
Sie waren keine Mörder von Be
ruf, und sie verstanden sich schlecht dar
auf. 5!.cincr von ihnen hatt: je mi dem
Gedanken auch nur gespielt, legend einen
Ncbenmeuschen umzubringen. ai aller
wenigsten einen Arbeitsgenossen: cbcr
nun sie einmal auf dcr Bahn des Ler
brechcns waren, die unbändige Hitze, der
Alkohol, die augenblickliche Verwirrung
das alles half zusammen, und sie
hatten alle nur den einen Gedanken, die
sen Zeugen stumm zu machen für im
mer.
Niemand sagte es, und sie halfen dcch
einander, niemand legt; es auch dem
Kalk, und er sah sie alle g'eichzcitiz. Er
sah sie oder hörte sie, oder vielleicht fühlt?
er 'bloß ihren augenblicklichen Hzß und
fühlte ihre Hände, die nach ihm griffen.
Noch einmal gelang es ihm, ,ich los
zureißcn, der Hemdärmel blieb in der
Hand eines 'Verfolgers. Aber er taste
in die Kesselschmiede zurück, nachdem er
gesehen, daß einer ihm zuvorgelomnen
war und an der Tür der Scbmiede stand
und sie schloß, ehe er ste erreichen konnte.
Die Tür in der Kesselschmiede war noch
offen. Er Üef darauf zu, doch wieder
war einer der Männer schneller näher
dabei als er.
Er sah jetzt n,ur noch Hände, die nach
ihm griffen aber gerade jetzt lug
eine Flamcngarbe zu einer der Da.hlu
ken hinaus. Das gab en Aufleuchren
in dcm Raum, und einen Augenblick sa
hen alle dahin.
Blitzschnell erfaßte der kleine Kalk die
Gelegenheit und er wußte nicht, ob
es das schlimmste oder das gefcheiiest?
war er kroch, ehe ihn einer sih, in
einen der Vorwärmer, die am BoSen
lagen.
Er hörte, wie Männer nach ihm
schrieen, er hörte, wie Werkzeuge ,,'nhcr
flogen, hörte eine Schimpferei, hörte,
wie Scheiden klirrten, und wie Türen
hastig aufgerissen und wieder zugeworfen
wurden; er rührte sich nicht mehr.
Es waren vielleicht Sekunden, es war
eine entsetzlich lange Zeit, in dcr er daj
Gcsühl hatte, daß man nach ihm suchte,
und daß diese gierigen Hände und diese
wütenden Blicke ihn vernichtcn wollten.
Aber es wurde still. Dann rief man
Feuer", und dann vernahm er eine
Weile nichts mehr als das Knistern der
brennenden Balken. Es wäre wohl Zeit
gewesen, aus dem Vorwärmer Hindus
zugchen, aber der junge Mensch blieb;
er kauerte sich zusammen, so sehr er
konnte, und wenn er auch wußte, daß
über ihm das Haus brannte, er konnte
kein Glied mehr rühren, und schlimmer
als hundert brennende Häuser waren
diese Hände, die er immer noch fühlte,
und diese Augen, die er immer noch sah.
Er atmete kaum, und er meinte, daß ihm
das Herz stillstünde, bis er den Lärm
derjenigen hörte, die nun auf das Feuer
aufmerksam geworden waren.
Jetzt begann ein Rufen und Rennen,
wie es auf jedem Brandplatze ist. Man
rief sogar sehr bald nach dem kleinen
Kalk, und vielleicht hatte er es vernom
men; aber er kam nicht. Er lag Zusam
mengeknäult in seiner Eisenröhre, und
alles, waS in der nächsten Zeit geschah,
ersaßte er nicht mehr. Die Halle stand
in wenigen Minuten in vollen Flam
men, kein Mensch dachte auch nur im
entferntesten daran, daß da drinnen noch
ein armes Menschenkind fein konnte,
dem ein paar entsetzliche Minuten die
Sinne verwirrt und die Glieder gelähmt
hatten. Nur einmal noch zuckte dieses
Menschenkind zusammen; dos war, als
das brennende Gebälk des stürzenden
Daches mit furchtbarem Krachen auf die
Eifenröhre niederrasselte.
Großfeuer in den Werken der Firma
so und so. Niedergebrannt: die Kessel
schmiede, die Schmicde. Vorraisschuppen
und eine angebaute Scheune. Leider ist
auch ein Menschenleben zu bcklagen; ein
junger Arbeiter ist in dcn Flammen um-gekommea."
S stand eS am anderen Morgen in '
der Zeitung. Aber am Mittag, als man
mit dcn Aufräumearbeiten so weit war,
kam man zu den Vorwärmcrn, und als '
Feuerwehrmänner mit Haken und Aex
ten die verkohlten Balkenstllcke von dcn j
langen Eiscnröhren hcruntcrzogen, vor
sichtig und mit Bedacht, denn man suchte
nach den letzten Resten eines Umgekom
menen, da hörte man auf einmal ein
angstliches Stöhnen.
Die Arbeit war unter guter Leitung,
und fo gelang es bald, nicht einen Toten,
aber eincn ganz wirren Menschen aus
dcr Eisenröhre herauszuziehen. Er war
wenig dankbar für feine Rettung und
zerrte und zog an dcn Händen, die ihn
befreit hatten, und sowie man ihn los
ließ, wollte er wieder in die Röhre hin
ein.
Man brachte den Kranken in gute
Pflege. Körperlich erholte er sich bald, I
aber mit seinem Geiste schien cs anders
zu scin. Wenn eine Tür ging, zuckle ;
er ängstlich zusammen, und manchmal
schrie er auf: Sie kommen!" Dann :
verhüllte er fein Gesicht und stöhnte, baß
es zum Erbarmen war. Sonst war er
klar, doch sprach er wenig, und über :
alles, was mit dem Brande zusammen
hing, durste man in feiner Nähe nichts
verlauten lassen; denn dann zog er die
Glieder an sich, den Kopf ein und tat
gerade so, als wenn er wieder in der
Eisenröhre drinnen wäre. Er wünschte,
zu den Seinen zu kommen, was auch
gewährt wurde.
' Seine Mutter war nun fortwährend
um ihn, und wie einem kleinen Kinde
mußte sie dem Sechzehnjährigen nach und
nach beibringen, daß es gar nichts gäbe
in der Welt, vor dem man sich zu fürch
ten brauche, sofern man nur ein gutes :
Gewissen habe. Und was der Kunst der
Aerzte versagt geblieben, dcr miitter ,
liehen Sorgfalt und 'Pflege gelang es.
Er verlor die Angst langsam wieder,
sprach ruhig und verständig über die ge
schchenen Dinge und über das Leben,
das et vor sich hatte. .
Mit dem Feingefühl der befolgten
Mutter vermied sie alles, was irgend
mit dein Brande zu tun hatte, und so
erfuhr er gar nichts von allcdem, was
durch Wochen hindurch Spalten in den
Aitungm gefüllt hatte. Sie hätte ihn
auch weiter davor bewahrt, aber eines
Tages kam eine gerichtliche Untersuch
ungskommission, die ihn vernehmen
wollte, zunächst ein Arzt, den er von der
Klinik kannte.
O ja, Herr Doktor, ich bin ganz ge ,
fund, und man kann mich fragen, was
man will." So behauptete er ,dem
Manne gegenüber, zu dem er großes
Vertrauen zeigte.
Das ist sehr schön. Daß die Schul
digen verhaftet sind, wissen Sie wohl?"
Wer ist verhaftet?"
Die sechs Kesselschmiede; sie haben
auch eingestanden, dcn Brand gelegt zu
haben."
Jetzt zum ersten Male erfaßte Alfred
Kalk die Dinge, wie sie waren, und jetzt
begriff er auch den Haß der Männer,
denen er nie etwas zuleide getan; aber
sein erster Gedanke war doch: Nun bist
du sicher vor ihnen," feine erste Frage:
Dann werden sie wohl eine Gefängnis
strafe bekommen?"
O nein," fagte der Arzt, da werden
wohl so an drei Jahre Zuchthaus für
jeden abfallen!"
Alfred Kalk machte große Augen.
Wenn jemand anzündet, bekommt er
dann drei Jahre Zuchthaus?"
Unter diesen Umständen wird eS
kaum billiger gehen."
Es ist viel; aber sagen wir einmal,
wenn jemand eincn anderen, oder sagen
wir, wenn mehrere eincn anderen um
bringen wollen und alles tun, um ihn
umzubringen, wieviel bekommen sie
dann?"
Dcm Arzt war diese Frage ein Be
weis, daß dcr Kranke immer noch an
Verfolgungswahngedanken litt, aber er
gab seine Antwort sachlich. Wenn
mehrere Personen einen Mordversuch
machen, das meinen Sie doch?"
Ja, das meine ich."
So ein glatter Mordversuch, ohne
mildernde Ncbcnumständk, das gibt
fünfzchn Jahre Zuchthaus."
Für alle miteinander?"
O nein! Für jeden einzelnen."
Ganz schnell machte das Gehirn AI
frcd Kalks eine Rechnung: sechsmal
fünfzehn, das sind neunzig. Neunzig
Jahre Zuchthaus! Das war so etwas
Ungeheuerliches, daß Alfred Kalk das
Gefühl hatte, darüber darfst du in die
sem Augenblicke nicht entscheiden.
Als 'er. dann noch fragte, ob die fcchse
auch ganz sicher eingesperrt feien und
nicht auf die Straße gehen könnten, zog
der Arzt feine Schlüsse und bat die Her
rcn vom Gericht, ihre Fragen auf das
Allernötigste zu beschränken. Das taten
sie, und so war die Vernehmung sehr
schnell beendet und hatte in der Sache
nichts gebracht, als was man bereits
wußte.
Noch vor der Schwurgerichis-Ver-Handlung
hatte Alfred Kalk wieder Ar
beit gefunden, und zwar im selben Be
triebe, aber nicht in der Kesselschmiede,
die jetzt in Notbauten untergebracht
war, sondern als Bureauausgcher. Man
wollte an dem so seltsam Geretteten
etwas von dem gutmacben, was er bei
dem Brande hatte erdulden müssen, gab
ihm bei leichterer Arbeit einen höheren
Lohn und behandelte ihn sorgfältig und
rücksichtsvoll.
Ueber alles, was mit dem Brande zu
sammcnhing, sprach er auch jctzt noch
nicht. Natürlich wurde er zu der Ver
Handlung vor dem Schwurgericht als
Zeuge geladen.
Die Vernehmung der Angeklagten vor
dcn Geschworenen bot keinerlei Ueber
raschung. Sie waren geständig, alle
sechs. Der Tatbestand schien vollständig
klar zu fein: sie hatten verabredet, die
alte Kesselschmiede anzuzünden, um eine
neue zu bekommen; dem Inhaber wäre,
nach ihrer Meinung, dadurch kein
Schaden erwachsen, da sie ver
sichert war. Den Alfred Kalk hatten
sie nicht eingeweiht, we.il er nach ihrer
Ueberzeugung doch nicht mitgctan hätte.
Als dann daS Fcucr rascher um sich
grisf, als sie erwartet hatten, da ver
gaßen sie, es ihm überhaupt zu sagen.
daß er sich retten sollte; so wäre es ge
kommen, daß er in dem Vorwärmer
blieb und fast das Leben eingebüßt
hätte. Da alle, fcchse ganz gleich aus
sagten und offenbar ihre Tat tief be
reuten, fo war kein Anlaß, ijjnen nicht
zu glauben. Für die Brandstiftung
konnten sie bestraft werden, dafür, daß
sie ihren Arbeitstollegen nicht gerettet,
nicht. -
Als Alfred Kalk in den große
Schwurgerichts! trat, richteten sich
alle Augen auf ihn. Er wußte unge
fähr, was die Angeklagten gesagt; dem
es hatte zur Genüge i den Zeitungen
so gestanden, und aus der ganzen Art,
wie er vernommen wurde, entnahm
er, daß man auf nichts Besonderes von
seiner Seite gefaßt war. Er hatte sich
auch vorgenommen, alles geheimzuhal
ten, was' ihn betraf.
Als er aber vor dem Richtertische
land und die Nähe dieser sechs Männer
llhlte, die er bis dahin noch nicht ange
ehcn, da überfiel ihn auf einmal wieder
diese Angst, diese heillose, unsagbare
und entsetzliche Angst. Können diese
Hände wirklich nicht mehr nach mir
greifen, und wenn sie wieder frei sind,
werden sie es dann nicht tun?" Erst als
der Richter recht freundlich auf ihn ein
zusprechen begann, wurde er für Augen
blicke diese Angst los; aber er erzählte
nicht, fondern ließ sich vom Richter alles
erzählen und bestätigte bloß.
Es ist auffällig, daß Sie ptm dem
Brande nicht früh genug etwasgemerkt
haben."
Darauf war schon schwerer zu ant
Worten. Sollte er lügen? Er sagte nichts,
der Richter wiederholte noch einmal den
selben Gedanken. Da wurde ihm enge.
Sollte er vor Gericht die Unwahrheit
sagen? ,
Er schwieg, und der Richte? sowohl
wie die Zuhörer mochten Wohl der Mei
nung sein, daß sie es mit einem Geistes
schwachen zu tun hätten. Die fcchse aber
auf der Anklagebank, die wußten, daß
es in diesem Augenblicke um den große
ren Teil ihres Lcbcns ging,, um das
Wohl und Wehe ihrer Familien; vier
davon waren verheiratet. Sie waren
jetzt nicht mehr in dcr Kesselschmiede, sie
hatten seit langer Zcit keine harte Arbeit
mehr getan; sie dachten und fühlten jetzt,
wie andere denken und fühlen, und sie
wußten, an diesem einen Menschen hing
jetzt alles. Ein einziges Wort von ihm,
und alles mußte ans Licht kommen,
gerade so wie es gewesen war.
Die Pause durfte nicht lange mehr
dauern, und der Richter selber lenkte ein.
Sie werden wohl auch unter der Hitze
und dcr schweren Arbeit gelitten habe
an dem betreffendem Tage?"
Ja." sagte Alfred Kalk, und er
meinte, damit um die gefährliche Stclle
herum zu sein. Jetzt aber hatte dcr Herr
Staatsanwalt eine Frage.
Glaubt der Zeuge, aus dem Berhal
ten der Angeklagten, an dem Tage oder
sonst, nicht die Möglichkeit zulassen zu
können, daß ihn die Angeklagten mit
Absicht in de Eisenrffkr ließen, um
ihn auf alle Fälle nicht als Zeugen ihrer
Tat zu haben?"
So gewunden diese Frage war, fo
einfach war ste für Alfred Kalk. Jcht
fiel ihm auf einmal diese menschliche
Erbärmlichkeit ein, die sechs Männer zu
Bestien gemacht; er sah sich wieder ge
hetzt wie ein verfolgtes Wild, er sah sich
flchm mit dcn Blicken, er sah die Mör
derangen und er wußte, daß er es
jetzt in der Hand hatte, für das alles
Sühne zu nehmen. Noch hatte er nicht
da hinübergeschen. wo sie saßen; aber
diese Augen hingen an seinem Munde,
das fühlte er. Und zugleich fühlte :
jetzt kniet ihr alle vor mir! Jetzt hatte
er die Macht, er war jetzt' dcr Richter,
mehr als der Richter, der vor ihm faß,
es je sein konnte. Das waren Sekunden,
gerade so schwer wie jene, in denen er
vor dcn Händen dieser Manncr floh.
Damals handelte es sich um ein Wen
schenlcben, jetzt um neunzig Jahre Zucht
haus. Das waren für Männer, die be
reits dreißig bis vierzig , Jahre ' ihres
Lebens hinter sich hatten, wohl . bi
Mcnschcnleben, wenn nicht mehr. Und
dann war er vor ihren Händen sicher
für alle Zcit.
Vier Menschenleben gegen eines? Das
war zu viel. Dafür wollte er nicht die
seelische Verantwortung auf sich neh
men.. Er dacht gerade an die vier, die
Frauen und Kinder hatten, die er
kannte, und die gute Väter und leine
schlechten Männer'waren. Das entschied.
Er begann zu sprechen: Meine Ar
beitskollcgen sind fönst immer fo zu
mir gewesen, daß ich mir das nicht er
klären könnte, und außerdem habe ich
ihnen nie etwas zuleide getan
Als er das gesagt, wandte er sich ein
mal nach dcr Anklagebank. Zwei sahen
zu Boden, der Lotzel und der Eool;
vier sahen ihm ins Gesicht und da
war es: die Antwort auf feine Aus
sage! Niemand sonst mochte- es der
stehen; er verstand es. In einem Augen
blicke den Tank für vier geschenkte Le
den! Jetzt fühlte er sich frei. Jetzt wußte
er, daß ihn diese Hände nie mehr fassen
wollten, und daß ihn diese Augen nie
mehr mit Haß ansahen. Jetzt genoß er
dcn Dank für sechs königliche Geschenke.
Dcr Rest der Vernehmung tvar ein
fach. Auf eine Anfrage des Vorsitzenden
Richters gab der Gerichtsarzt die Aus
kunft, er halte es für möglich, daß der
Zeuge durch die nachfolgende zeitweise
Verwirrung seines Geistes in der Er
Innerung auch an das, worüber er aus
gesagt, beeinträchtigt scin könnte. Darum
schlug der Richter vor,, von einer Ver
eidigung abzuseilen. Der Staatsanwalt
hatte dagegen nichts einzuwenden, da die
Aussagen des Zeugen in keinem Punkte
mit denen der Angeklagten in Wider
spruch waren,
l So wurde dcr kleine Kalk nicht der
i eidigt.
Als er bald darauf das Gericht'.
gcbaude verlaß, hatte er das Gekükt.
soeben den größten und herrlichsten
Augenblick seines Lebens genossen zu
haben, und still vor sich hin sinnenö.
ging er heimwärts.
MWänge gibt es ü&neTI und nur
unser ist die Schuld, wenn wir sie über,
mäßig empfinden.