Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, January 25, 1917, Sonntagsblatt, Image 11

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    see zweie-treu
Novelle von Bedo Wild-sem
Sein Nervensystem war nicht nichts
in Ordnung. Schon seit langem
quälten ihn Zweifel und Unsicher
heit; jegt aber, da der Tag heran
kom, an dein er in seinem Btpkan
»Andrvrneda« den Reuenhurger Ste«
überstiegen sollte, bemächtigte sich
diese Erkenntnis seines innersten Ge-'
mittels und drückte ihn zu Boden mit
grauenhaster Gewalt. Und setne
Feinde waren an der Arbeit. Die
Konkurrenzgesellschnst, die seinen Ri
valen Autour vorzusiihren sich nn
schiäte, sie entflrltete eine geheimnis
volle und unheilverkiindende Tätig
keit. Seine Freunde zwnr lächelten:
-unser Avinttker leidet nn Verfol
gungswnhnsinn Manchesrnal war
er daran, diese Ansicht siir richtig zu
halten. Dann aber, wenn er aus
versteckte heimische Andeutungen in
ten gegnerischen Blättern stieß, wenn
feine Wächter zur Nachtzeit oder am
ruhen Morgen fragwiirdige dunkle
Gestalten sich um M Ziel herum be
wegen sahen, in Dem die Andromeda
verwahrt wurde —- dann sagte er sich
selber: Nein, du bist nicht verrückt,
der Feind ist wirklich in Anmnrsch,
und vielleicht bereitet er jetzt einen
Hauptschlng vor.
Sein Vermögen loar nahezu ver
braucht, die mannigfaltigen Verbesse
rungen der Erfindung hatten imnter
neue Summen aufgefressen. Von
feinen Verwandten loar teine Hilfe
mehr zu erwarten, und die Geer
fchaft, die ihm ihre Unterstützung zu
" zuwenden begonnen hatte, erwartete
einen großen Erfolg — fonft würde
fie ihn fallen lassen, daran war nicht
zu zweifeln. Jm Verwaltungs-rate
nahm eine einflußreiche Minderheit
zu feinen ungunften das Wort.
Siegte sie, was follt. dann aus ihm
und feiner Familie werden? Und
erst gar, wenn er derunglücktet Er
dachte an Lilienthal, an Pichler, an
Ferrer, Lefeore und andre. Sein
Nervenfhftem war nicht mehr in Ord
nung.
Das ift für jeden Strebenden ein
arges hemlnnis. Dem Adialiler be
deutet es das ruchlofe Anllopfen des
Schickfals, den Vordoien des Elends,
des Untergangs, vielleicht eines ruhm
lofen Todes.
Der Startplah befand fich auf ei
nem Felde,das fich zwifchen dein
gruuroten, turmreichen Schweizers
ftüdtchen und dem Strande deo Sees
ausdehnu. Ein Dampfer follte der
»Androrneda« auf ihrem luge nach
den flhwarzen Jnrabergen eeiiber das
Geleit geden. Läng f aulelte das
lleine, goldbraune Schif am Ufer
dannn, in dessen Fugen die blitzt-laue
Blume« die wir »ftolzer heinrich«
nennen, in fteifer und stattlicher Fülle
wucherte.
Die Witterung war unbeftimmt:
warm ohne Sonne, windftill ohne
Freundlichkeit Blanle Möwen fchof
fen über die fchwarzgriine Wasser
breite, die don einer inneren Unruhe
erfüllt fchien. »Der See zieht« fagen
die Fifcher, toenn fie bei ruhigen
Lüften jene eigentümliche, leife zer
rende Gewalt der glatten tückischen
Fläche derfpliren
Der Aufforderung des Adiatilers,
es möge sich ein Fahrgaft für den
zweiten Sessel des Aeroplans mel
den, war erft in letzter Stunde ent
sprochen worden. Ein Artift aus
Befaneon wollte die Reife wagenJ
Ein befchäftigungslofer armer Teu
fel gewiß, in dessen Beruf es lag, daß
er feinen Hals rislierte. Die Mit
teilung war dem Luftfahrer schriftlich
zugekommen. Der Flugpassagier
tdnnte erft mit dem Nachmittagszug
anlangen.
Der Statt war aus sechs Uhr fest
gesett. Verschiedene Widerwärtig
teiten verzögerten die Absahrt in die
siebente Stunde hinein. Endlich war
man so weit, daß die Schraubenslijs
get angeworsen werden konnten. Der
Septembertag ging allmählich in
Dämmerung über. Der Aviatiter
bestieg seinen Sessel zur Seite des
Kupserzytinder5, in dem der Motor
arbeitete. Der Passagier war noch
immer nicht eingetroffen. Unmutig
gab der Lustsabrer das Zeichen zur
Klärung des Startplaszes. Da schob
ich noch eine dicht gedrängte Gruppe
- ran. Bei ihrem Anriieten war es
dem Aviatiter zumute, als wälze sich
das Unheil in sinsterem Schwarm
aus ihn her· Aber sein Wille schien
elähmt. Aus dem Menschentnäuel
olperte ein Mann in einem engans
liegenden dunklen Wollanzuge, sinn
log glohend aus wunderlichen tar
ren Augen« Die Angst schien eine
Züge zu einer Maske versteinert zu
haben. Einige von seinen Begleitun,
die dem Fahrer nicht betannt waren,
ießen den Menschen aus die Ma
chinr. hier« Mister Wilman,'·
trö zte einer, «ist der Signor Ma
lateta. Er ist nur etwas stets von
der Eisenbahnsahrt, sonst jedoch geht
es ihm gut, und er hat Courage.«
Das bleiche, regungslose Gesicht des
Fremden, sein leicht zitternden Kör
per strasten die Behauptung Lügen.
’,,Wenn Sie Furcht haben, dann soll
ten Sie lieber unten bleiben«, sagte
Wilmans Gebilse zum Fahrgastr.
Der aber schüttelte den Kopf. Da
drückte ihn Wilman in den Sitz,
legte ibm tie Arme aus die schmalen
Lehnen; der Gehilse streckte unter ei
nigem Gelächter die Beine des Arti
sten ans das Ins-breit Dann wie-s
derholte der Aoiatiler das Zeichen;
ein Trompetenton jubelte oon der
Stadtmauer, die Menge hielt gespannt
den Atem an. Jn diesem Augenblicke
rief eine Stimme aus der Menge:
»Sie haben eine Unglücksstiitte zum«
Starten gewählt, Monsieur! Genau
dort, wo Jhre Maschine steht, wurde
vor vierhundert Jahren der Ritter
Elaudius vom Stässis im Angesichte
seiner eigenen Burg um einen Kopr
tiirzer gemacht.« I
Was hatte dieser Zufall, diese lo-l
lalhistorische Reminis eng mit Wil
man und seinem Aussiuge zu tnn24
Dennoch huschten diese Worte iiber
sein Gemüt wie der Schatten einesi
Sturmoogelö. Aber schon rollte dass
Gestell über die Gleitschienen, und
setzt erhob sich die »Andromeda« un
ter schallendem hurrageschrei der Zu
schauer in die tiihle Abendlust und
surrte lustig aus die graugriine See
släche hinaus. Der tleine Dampser
war oorausgesahrenx bald holte ihn
die Flugmaschine ein; sie machte ei
nen anmutigen Bogen nach den roten
Turmspiszen des Schlosses Stäsfis
hin, und dann schwirrte sie in einer
Höhe von etwa 176 Fuß über den
Wassern, fuhr Schleifen und nahm
schließlich den Kurs nach den sernen
Höhen des Westusers. Wie eine Dop
pellibelle mit weißen, langen Flügeln
slirrte mit weißen, langen Flügeln
ten, und die eilig sinkende Sonne ließ
den Kupferzylindey den glänzenden
Leib des Nieseninselts, in sattem
Karmoisinrot glühen.
Der Motor arbeitete ausgezeichnet.
Wilmnn fühlte sich eins mit seinem
Apparate, die dumpfe Vergangenheit
ängstigte ihn nicht länger, die Luft
blieb ohne Regung, alles schien sich
nach den geheimsten Wünschen seiner
Seele zu richten.
Ob er sich eine ·Zigarette anziini
dete? Erst aber einen Blick auf sei
nen Luftpassngier, den Signor Mala
testal
Die Beine des Artisten ruhten noch
in der vorgeschriebenen haltung,
ebenso die Arme und der Obertörper
;. . . doch. . . allmiichtiger Gott, wag
war dasi Der Aviatiter glaubte,
lEiner Sinneötiiuschung unterlegen zu
. ein. . .
Weit es möglich —- der dunkle,
stille Mann aus dein zweiten Siye
shatte aus seinen breiten Schultern
»teinen stopr
) Diese Wahnvorstellung mußte au
genblicklich aufgehoben werden.
istranipshast packte der Aviaiiter die
Ibeiden Lentstangem dann schielte er
semichiossm nach nnir hinüber. nich
tig: am Nachbarsitze streckte sich o ne
ist-sung eine schwarze topslose e
stritt
Also war er, Wilman, doch ver
riickt gewordent Und er hatte sichs
eben noch so wohl gefühlti Aber das
war nur die «Euphorie« gewesen, je
ner Zustand lügenhafter Helle und
Heiterkeit, der (wie er einmal gelesen
hatte) dem Sturz in geistige Todes
nacht vorauszugehen pflegt. s
So tief erfchiittert war schon sein
seelisches Gleichgewicht, daß die al-"
berne Bemerkung jenes Schweizer
Landniannes —- oder wars ein be
zahlter Agent seiner Feinde gewesen?
—- törperliche Form für ihn anneh
men tonntei Denn gewiß ioar
nberhaupt tein Passagier eingestiegen
—- diis hatte er sich nur eingebildet
—, sondern die Tradition von der
Enthauptung jenes Claudius von
Stäffio hatte im iiberreizten Hirne
des Luftfahrers dieses Sputbild er
zeugt
Und zugleich tam eine stößige Bö
iiber den See von Südwesten her.
Er mußte lavieren, auftreuzen
. . . .alleo mit dem Gefühle, daß er
neben ihisi faß —- der Bote des To
des!
Die »Andromeda« kämpfte mutig
gegen den Wind. Das Danipsschiss
da unten würde sie nun bald wieder
eingeholt haben· Man wunderte sich
gewiß über die Mandver des Aviaii
ters. Und daß sein Gesahrte leinen
Fiops besaß, das ionnte bei der zu
nehmenden Dämmernung gewiß nicht
wahrgenommen werden. Ein Schnur
ren, Ticlen, Pochen hatte Wilman
nun schon eine gute Weile lang ge
stört, ohne dasz er es wußte. Jn
das Surren seiner Propeller hatte
ed sich eingeinengt — pochte, iickte,
schnurrte es so in seinem Hirneii
Nein, in der Brust des lopslosen
Mannes arbeitete jener eigentümliche
Ton.
Wieder schielte der Aviatiler nach
seinem Nachbar hin. Er hatte dort
ein intzes Geräusch vernommen,
wie ein leises Knicken oder Kra
chen. Richtig: das rechte Bein des
Signor Malatesta war verschwun
den.
Dieser gräßliche Vorgang war ein
Gleichnis siir Wilmans Los. So
zerbröckelien nach und nach sein Ver
trauen, sein Mut, seine Ausdauer,
seine einst so gesunde, sesie Körper
lichleiii So waren seine Freunde
von ihm abgefallen, einer nach dem
andern, wie hier Glied um Glied
von dem gespenstigen Begleiter siell
Denn eben löste sich auch der zweite
Fuß von dem dunklen Rumpf und
tiirzte ins Gestell des Fliegers, der
alsbald aus dein Gleichgewicht zu ge
raten drohte. Noch ein paar Sekun
lden jedoch hatte die »Andromeda« den
ilästigen Gegenstand abgeschnitelt
und ließ ihn in die Tiese verschwin
den.
Jedt aber bedrohte den tief verstör
ten Aviatiter eine noch weit schreck
lichere Erscheinung. Gerade vor sich
in der Luft glaubte er sich selbst zu
sehen; wcigrecht ausgestreckt, die hän
de auf. der Brust getreuzt, schwebte er
da als Toten mit fahlen, eingefal
lenen Zügen. Ganz tu der Ferne je
doch —- rvelch bittrer und grausamer
hohn — erschien inmitten der finste
ren Ubaldhänge des jensettigen ilferö
die kleine Lichtung« der freundliche
helle leu, auf dem zu landen er sich
nenne en haue.. .
Und beim Anblick-e jener Lichtung,
jener grüngoldenen Bergsviese tam
ihm die Kraft zurück. Er dachte an
Weib und Kind. Daß er so da
läge, ein starrer Toter — das durfte
nicht geschehen. Seine Gegner foll
ten diesen Triumph nicht haben. Und
du gnmsiV Numpfnnsrinu Sriu
splln alle Nhcht ümr chn vutin
ren!
Doch da legte sich der rechte Arm
As düsinn Torioö mtt essunnn
Griff auf Wilsnans Schulter-! Zu
gleich stürzte der linte Arm des häß
lichen Fahrgastes wirbelnd in die
Tiefe hinab.
Vllleni die neuguvonuene LBillens
traft blieb dem Luftfahrer getreu.
«Jener sirnh sichte Flut mußte er
reicht werden. Und mit übermensch
slicher Energie schüttelte er den feind
Tseligen Arm von sich ab. Rumpf und
sArm wackelten, trennten sich im
IIsallen —— und versanken iur Lib
’grund. »
i I I I
An Bord des kleienen Dampfers
befand sich auch Monsieur Roulande,
Hder Direktor der Konkurrenzgesell
Ischaft Er unterhielt sich mit ei
nem tleinen, gewöhnlich aussehen
den Manne. Beide sprachen sehr
lei e.
Waben Sie Malatesta auch richtig
instruiertt Wir haben ihm seinen
zerlegbaren Menschen teuer genug be
zahlen miifsen. Jch sehe aber nicht,
daß der Trick wirkt.«
»Lassen Sie dem Mechanismus
nur seine Zeit,« bemerkte der andre.
»Mein Gott, ich wünsche dem Wil
man ja nichts Böses —- nur daß er
seinen Flug unterbrechen muß, da
mit niichstens unser Mann seinen Re
tord macht und den Preis gewinnt.
Holla! da fängt die Maschine schon
zu schwanken an. Er hängt ganz
schiesp
Operngliiser nnd Krimstecher wa
ren auf die »Andromeda« gerich
tet. Ein Herr näherte sich den bei
den: ,,Wilman wirst Ballnst aust«
»Unsinn!« sagt ein andrer, »die
»Andromeda« ist doch lein Luft
schtf !«
,, chade, daß man bei der ver
wünfchten Dämmerung so fchlet
sehen kann. Jch vermag den Pa -
sagier nicht so recht wahrzuneh
men!«
»Er kämpft gegen Böenl Er bleibt
zurück! Gleich werden wir ihn über
uns haben!«
Jetzt kreiste die ,,Andromeda«, ei
nem ungeheuren abicht nicht un
iihnlich, gerade ii er dem Verdeck
des Drimpfers. »Dömon der Lüfte,
laß ihn jetzt irre werden,« murmelte
die Stimme des Direktors Rou
lande.
Da fuhr ein Gegenstand sausend
und pfeifend durch die Luft! Wie
im Traume nahm ein Augenzeuge
wahr, daß ein schwarzer Arm, eine
wachsbleiche Hand auf das Schiff
herabsaustenl Und wie vom
Blitze getroffen, taumelte der Di
rektor und schlug lang aufs Verdecks
hin. i
I I I
Davon aber wußte er nichts, der
Aviatiter dort oben. Er hatte sich
in eine ruhigere Luftschicht emporge
tärnpft. Jn 600 Fuß Höhe surrte
die »Andromeda«' dahin. Das Ge
birge tam eilends herangeriiclt. Die
Wipfel des Fichtenwaldes dnfteten.
Eben verglomm die Abendröte, und
ein rötlicher Schleier wob sich um
die Waldmassen. Jetzt lag die Lich
tung unter ihm. Leicht und sicher
senkte sich die Flugmafchine, ohne Ne
gung stand sie auf dem stillen Feld
in einer Blumenwildnis. Jetzt war
ctilllez wieder vernünftig und rein und
ar.
Der Luftfchiffer fragte nicht mehr
danach, was an seinen Bisionen
Wahrheit gewesen, was Einbilbung,
und wie sie entstanden fein mochten.
Er trant den Atem des Waldes und
genoß die Seligkeit des Erfolges.
Und schon klangen durch den Abend
freundliche, kräftige Stimmen. Neid
lofe, froh bewegte Menschen eilten
herbei, um den Sieger zu feiern.
— Ein Mündchen. Tramwai
genfiihrer (zu feiner teifenden Frau):
»Nun sei aber still, Weib; jetzt habe
ich genugt«
»So — so genug! Nagele doch
lieber gleich eine Tafel an die Stu
bentiir: »Das Sprechen mit dem
Wagenführer ift streng verboten«t"
Merkwürdig. Patient
,,Ach, herr Doltor, diese Nacht bin ich
wohl zehnmal aufgewacht, und trin
mal tonnt’ ich wieder einschlafen«.
— Es zieht nicht. Richter
(zum Angellagten): »Das Leugnen
nützt Ihnen nichts, denn Jhr Kollege
hat bereits alles gestanden«.
Angeklagter »Aber, Herr Richter,
das ist ja schon ein alter Witz von
Jhnen«.
Yet Fee-eigen
Erzählung von Hannö Kant«
Herb und liihl war der Abend.
Jch stieg von der Biesegg her nber
die letzten Hangwellen an den See
hinunter, an dem Baldigbiihl in den
deirfchbäumen liegt.
Seit ich zuletzt in Baldisbllhl die
Ferien verangelt, verrndert und ver
liebt hatte, waren es nun zwölf Jah
re. Jm Dorfe tannte mich keiner
mehr, seit der alte Dieriter, der ge
fprachige Fischer-Kaki Und der Ster
nenwirt nicht mehr am Leben waren
und die fchöne Renate aus dem
»Sternen« an den Comerfee hinab
geheiratet hatte. Die übrigen Valdig
viihler haben mich damals nnr »den
Fremden genannt.
Der Wind pfiff hell zwifchen den
Baumstämmen hindurch und schüt
telte das junge Lan an den Zweigen,
daß die großen Tropfen, die der Mor
genregen ins Geäft geworfen hatte,
dumpf ins Gras fielen. Jch schwang
meinen Butel hoch nnd fah im Herab
fchreiten, wie der Abend allmählich
die großen Nebeltiicher über den Waf
fern zufammenzog.
Als ich durch die Dorfgaffe fchriit,
bewegten sich da nnd dort hinter den
Fenftern die getlärten Vorhangtiicher
und gilxelnde Augen duckten sich schel
mifch dahinter. Jm »Sternen« warf
ich mein Ränzel von den Achfeln,
hing Stock nnd Hut ins Gaftzimmer,
bestellte lühlen Moft und wunderte
mich, wie bei den neuen Wirtsleuten
alles geblieben war, wie ehedem, als
der Siernenwirt noch mit waidgei
rechtem Stolz im Hinweis auf die
Rehhörnchen und die ausgeftopfien
Waffervögel, die in der Gastftnbe
hingen, von feinem Nimrodleben er
zählt hatte. Auf der dunleleichenen
Kredenz standen auch noch die hell
gescheuerten Zinnteller, die Karaffe
und der blaubebxiimte Steinkrug, den
der Fischer-Wart einmal, ohne abzu
setzen, vor mir geleert hatte.
Jch saß am halbgeiiffneten Fenster
gegen den See zu. Zwischen der
Lande und dem .,Sternen« pfiff der
Abendwind wie ein Lausbub die zu
gestuhten Platanen an. An ihreni
fleckigen Stämmen vorbei strichen dies
feuchten Nebel landwiirtg und durchs
das Abendgrau schlich die Einsamkeit. l
Jch empfand sie trauriger, als auf
Hallen meinen Fahrtem zumal mir mit
einemmale der alte Dieriker, der Fi
scher-Kari, der Sternenwirt und seine
Renate mangelten. Jch hörte die
Abendstimmen, das Gluckfen der
Strandwellen, die tropfenden Platai
nen, die schnarchende Wanduhr,
spürte die feuchte, fifchelnde Seeluft
und verfiel in eine lederne Stim
mung, die mich leicht enttäufchte. Jch
hatte mich in lauten Städten nach
der Baldisbiihler Einsamkeit und ih
rer Seeruhe gesehnt, und nun, da ich
ihr begegnete, fanden wir zu einan
der keinen Zusammenhang mehr.
Wie ich so den einschläfernden
Stimmen der Dämmerung lauschte,
mass als wandelten fchwermiitige
Geigenlieder über den See. Jch ver
nahm sie aus der Ferne nur schwach,
allmählich etwas deutlicher, und als
die Wirtin die Petroleumlampe auf
den Tisch trug, strich der Geiger die
letzten Takte eines gemiitvollen Volks
liedes. Da kam die Wirtin von sel
ber aus das Spiel zu reden:
»Heute spielt der Kapitän wieder
einmal schön auf, gelt?-«
»Ja, bigoscht, der kann’s. Jst’s
ein Gast von Jhnen2«
»Nein, ein Hiesigey der Kapitän
Dieriler. Er ist halt manchmal ein
bißchen ein Spaßiger. Daheim geigt
er nie. Nur wenn das Wetter um
schlägt, rudert er mit der Geige hin
aus, dem Wasser zulieb, sagt er. Er
hat seinen Sparren, wie sein Vater
selig.«
»Der Chueri Ticriter — im »Wie
fengrund««t«
Die Wirtin sah mich groß an, weil
ich in Baldisbiihl Bescheid wußte und
da ich ihr erzählte, wie ich vor Jah
ren diesem Seenestchen ein paar Wo
chen Ferienseligteit verdankt habe,
wurde sie zutranlich und erzählte mir,
was ihr von meinen alten Freunden
noch in Erinnerung war, und daß
der junge Dieriter einmal Lehrer-,
dann Schiffslassier und schließlich so
gar Kapitän der Dampfschwalbe ge
wesen sei, nun seit des Vaters Tod
im ,,Wiefengrund« wohne und sich
un Dorfe fast nie blicken lasse. Nur,
wenn er auf dem See gespielt habe,
steuere er seinen Kahn dem »Sta
nen« zu, um noch ein Weilchen beim
Abendschoppen in den Zeitungen zu
blättern. Jn ein Gespräch lasse er
sich aber dann gewöhnlich nicht ein.
In leifen Wogen flutete - der
Wunsch in mir heran, daß der Ka
pitän auch heute abend landen möch
te, und ich an ihm das freundschaft
liche Ebenbild seines Vaters fände. .
Wenn man ganz stille hinhorchte,
vernahm man regelmäßige Ruder
schliige, dann wurden sie wieder leiser,
wetcher und erstarben nach und nach.
Ich gab die Hoffnung schon auf, als
aus sinnlicher Nähe beseelte Töne in
die zarte Melodie »Leise, leise, from
me Weise« hiniiberzitiertem Nach
ein paar Tatten gewann das Spiel
unverlilnsteltes Temperament und
Sicherheit. Dieriler spielte schön,
rein und torrelt. Ich hätte ihm viel
leicht lange zuhören lönnen, vielleicht
hätte mich aber jene Sehnsucht und
jenes Heimweh gepackt, das die Seele
zu Schmerz und Wehleiden führt.
Aber Dieriter brnch mit einemmale
ab, und spielte was mir ganz uner
tliirlich war, einen frischen, alten
Löndler. Da mertte man es heraus:
alles tonnte bei dem Geiger nicht in
Ordnung sein.
Als die Dunkelheit vollkommen un
ter dem Fenstersliigel saß, trieb Die
riler seinen Kahn wirklich vor dem
,,Sternen« an die Lände. Der Gar
tenties knirschte, und mit sicherm, se
ftem Schritte trat der Seegeiger in
die Gaststube. Ein altes Schiffs-s
manns-Käppi saß ihm etwas schief
auf den gebleichten Haaren. Aus
unruhigen, tümmernden Augen floh
ein lichtgeblendeter Blick. Er streifte
mich unfreundlich. Wie ein verlots
terter, vagierender Musikant, mit ver
tniipftem Wams, aus dem Geigen
hals nnd -ngen hervorlugten, mit
struppigeu Schnauz- und nebelfeuch
ten Schläfenhaaren setzte er sich in die
Ecke. Die Wirtin tischte ihm seinen
Schoppen auf. Er tat bedächtig ein
paar große Züge, musterte mich, und
sing an, mit der Wirtin über das
Wetter zu sprechen. Mit einem Hin
weis auf ein gutes Obstfahr, verband
die Frau einen Gedanken an den al
ten Dieriler mit mir, und zog mich
geschickt ins« Gespräch. Als ich bonI
damals erzählte, und auf den Wunsch
Izu sprechen tam, der mich aus den«
Stadien wieder ins stille Baldisbühl
gefiihrt hatte, lächelte Dieriter aus
schonen großen Blauaugen, und ich
sah, daß ihm diese alten Erinnerun
gen wohl taten. Mit jedem Schlucle
wurde er gemütlicher. Er ähnelt
darin ganz seinem Vater. Auch schlug
er mir die Einladung zu einer Fla
sche Wein nicht ab, und fliefz ab und
zu mit mir an. Als die Wirtin
hinausging, urn meine Kammer zn
rüsten, legte er feine Schleifen in die
aufgestützten Hände und lud mich
ein, ihn über die Bucht heimzugelei
ten, um meinen Kopf vom »Wirku
grund« auf dem Landweg bis zum
,,Sternen« ein wenig an der Nacht zu
kühlen. Da die Wellen leise Innr
rnelten, und ein sanfter Spätwind die
großmiichtige Finsternis durchzog, war
ich mit feinem Vorschlage gerne eins
verstanden, umsomehr, als es mich
freute, in dem Sohne den alten be
freundeten Vater wiederzuertennen
und ich zudem eine unverwellte Zu
neigung zu diesen Leuten im Valdig
bithler ,,Wiesengrund« hergebracht
hatte.
Wir lösten den Kahn, stießen ab,
und fteuerten eine Weile durch dies
glänzende Dunkelheit See-ein. Die-Z
riler sprach keine Silbe mehr. Als
tvir einige hundert Meter vom Lande
entfernt waren, und aus dem »Ger
nen« und den übrigen Baldisbühler
Häufern die weichen Lichter wie liebe
Augen zu uns herüber sahen, ließ
Dieriter die Ruder sinken, griff nach
Geige und Bogen und spielte lang
sam und sicher das Liedchen, das ich
vor Jahren die Baldisbiihler Mäd
chen an einem Sonntagabend am
Wieshang singen gehört hatte:
»Anneli, sind er alli Tag — Hin
der ein Hus im Gärtli?«
Mit leiser, rauher Stimme beglei
tete er sein Spiel:
»Ach, tnin Schatz chnnt niimme meh,
Wird en fchwerli wieder gseh
Hinder ein Hus im Gärtli.«
Dann legte er die Geige wieder
weg und ruderte dein »Wiesengrund«
zu. Langsam furchte der Kahn die
plätschernden Wasser. Einmal hielt
Dieriier inne, wandte sich zu mir,
und als er sah, wie ich ruhig in die
tiefe Schönheit der Nacht hinaus
blickte, sagte er fast wehleidig: »Viel
leicht wissen Sie von diesem See auch
mehr-, alr- dasz er nur schön sein
lann.«
Jch nickte, und Dieriter sah wieder
von mir weg: »Ja, wenn man ihn
halt lieb hat! Aber lieb haben und
lieb haben müssen, ist nicht das
Gleiche. Einmal habe ich ihn auch
bloß lieb gehabt. Damals, als er
mir am Morgen beim Erwachen mit
seinem goldigen Gesicht ins Bett hin
ein gesehen hat, aber jetzt muß ich
ihn lieb haben. Halt, weil er mir
das Teuerste.aus der Heimat geholt
hat« Als ich einst drüben in Stand
bach Lehrer war, hat er mein Lieb
von mir hinweg ins nasse Grab ge
nommen, wie sie mich an einem
Psingstmontag hat drüben besuchen
wollen. Daraus habe ich nicht mehr
Schule halten mögen in einem Zim
mer, in das hinein der See mir im
mer zugesehen hat, wie ich an die
Schultlassen gebunden war. Er hat
so lang gelockt, bis ich zu ihm hinaus
gegangen, und als Schiffsmann bei
ihm geblieben bin. Jahrelang habe
ich ihm ins Aug Und in die Seele
gesehen. Er hat mich nie gewollt
und die Liebe nie zurückgegeben, aber
« losgelassen hat er mich auch nicht, der
See. So bin ich alt geworden, und
wo der Vater gehaust, hat·s auch siir
mich ein ruhig Wintelchen, wo ich
warten kann, bis ich wieder die Geige
nehmen und hinaustreiben muß, just
an die Stelle, wo die Baldisbiihler
den umgetippten Kahn meines Mäd
chens gesunden haben. Da tann ich
schöner spielen, als ein Seminarist
im Examen, und allemal chohlet’s
mir mehr, weil es nicht gar so lang
mehr gehen kann, bis er mir mein
Lieb zurückgibt. Denn der See ist
besser, als die Menschen. Ich habe
es erfahren, darum verstehen sie mich
nicht. Aber ich will nichts von ihnen
erbettelt haben, und von Ihnen weiß
ich schon, daß Sie nicht über mich
spötteln. Sie sind lein Solchen wie
die andern.·«
Dann trieb er den Kahn an die
»Wiesengrnnd-Länder«, reichte mir die
Hand, wies mir den Weg gegen den
«Sternen« und schielte mich an dem
Haus vorbei auf die Straße.
Als ich schon eine Strecke Weges
hinter mir hatte, tam er mir nach.
»Ich würde Jhnen zu einem Aufent
halt eher den Staadbaeher »Seehos«
empfehlen. Sie finden dort vieles
besser, und — es ist wegen uns
Zweim. Verstehen Sie?«
Ich tannte seine Zweifel und ver
sprach, ihm den Wunsch zu tun.
Am andern Morgen, als die Flut
glitzerte, gluctsten die Wellen. Die
riter trieb das Boot an die Liinde
Und brachte mich nach Staadbach.
Jch hörte ihn noch etliche Abende
geigen. Einmal kam er auch schon
jam Vormittag zu mir herüber, und
schlug mir einen Spaziergang vor,
lerwies sich als lieber Führer und war
sleutselig und ausgeränmt. Beim Ab
schiednehmen hielt er meine Hand sest
in der Seinen. »Ich danle Jhnen«,»
sagte ek dabei, »daß Sie mich verste
hen, und nicht über mein Spiel söps
peln, wie die andern, und dafür, daß
alles unter uns geblieben ist. Jch
muß halt mirs-zieren, ob ich will oder
nicht. Manchmal düntt es mich ein
fältig, aber wenn der See tust, tann
ich nicht widerstehen. Sie muß Mu
sik haben, und Geigen spielen hat sie
zu Lebzeiten immer gerne gehört. Le
ben Sie tvohl.«
Jch sah ihm nach, wie er trotz
seinen Jahren rüstig ausgriss, rasch
vorwärts kam, mitten im See an
hielt und lange, lange über Bord in
die kühlen, wandernden Wellen hinab
stlh.
Schmerzkünftler. .
Sigismund Hosmaam Konsistorial
und Stadtprediger in Celle, hat nn
Jahre 1698 ein aufsehenerregendeö
Buch geschrieben, das m kurzer Zeit
sechs Auflagen erlebte. Er eifert in
seinem Buch leidenschaftlich gegen die
Neuerer, welche die Folter abgeschafft
wissen wollten. Zum Beweis dafür,
daß die Folter nicht einmal gegen die
»harten Knaster" ausreiche, schildert
er die Vorgänge bei der Folterung
des Räuberhanptmanns Christian
"Miiller, eines Menscher-, »der mit
aller Schmach, Schimpf nnd Marter
ein Gefpött trieb.«
Müller machte zum Hohn aus der
Tortur ein Studium. Da an den
meisten Orten die Folter nach dem
Stundenglas abgemessen wurde und
er noch immer dies Maß überstanden
hatte, glaubte er auch in Celle ihr
trotzen zu können- »Im Anfang,« sag
te er zum Gefängniswärter, »tut es
etsag weh, nachher achtet man's nicht
mehr.« Man kannte ihn in Ceüe als
Eifenfresser und griff ihn deshad mit
Schnüren und Beinfchrauben aufs
unbarmherzigste an. Er trotzte aller
Marter. Als man ihn los band, rief
er lachend aus: »Wenn mir nur die
Beine erst wieder heil waren« dann hät
te ich wohl Lust, noch ein Gängelchen
auf dein Eisenbrett zu wagen.« Ein
mal ließen ihn die Richter während
der Folter peitschen, daß das Blut
ans den Striemen spritzte. Nach der
Exelution zeigte Müller den Leuten
von der Wache seinen rotgeftreiften
Rücken und meinte dazu, man habe
es mit ihm, einem Sachsen, so weit
getrieben, daß er die rote lüneburgi
fche Livree angelegt habe. Müller, der
nur durch Aus-sagen seiner Genossen
überführt werden tonnte, wurde mit
ihnen am 23. Mai 1699 gerädert.
Der alte Chronift Lauterbach er
zählt: »Als der Richter einen Verbre
cher wegen einer großen Untat, die je
ner nicht bekennen wollte, mit der
Feuerfolter aufs heftigftc Eingreifen
ließ, widerstand diefer, fo dafz der
Henker, an dem Erfolg der Tortur
verzweifelnd, den Feuerbtand aus
löschen wollte. Wie dies der anuifit
fah, rief er dein Henker zu: »Weder
Meister, ich habe hier ebenfalls noch
etliche Haare, die brennt mir doch
auch ab!« Der Meister tat i m den
Gefallen. Er hat ihm die Li ter an
befagten Ort gehalten und gebrannt,
daß es geftunten. Da habe der Bube
gesagt: »Da rechts, lieber Meister, da
juclet mich auch noch!« Er geftand
nichts, und man mußte den Kerl lau
fen lassen.«
Der französifche Räuberlöntg Louis
Mandrin wurde an acht verschiedenen
Stellen »gezwickt«, ohne daß er einen
Schmerzenslaut ausstieß.
In Nördlingen wurde die Ulmertn
Marie Hohl von 1598 bis 1594, alfo
während eines ganzen Jahres, in
fechsundfünfzig Torturen aufs gran
famfte gefoltert, ohne zu bekennen.
Der Nördlinger Rat mußte sie auf
Betreiben der Ulmer freilassen. Die
Lehrersfrau Katharina Lips legte
1672 tron fürchterlicher Folterung im
Hexenturm zu Marburg lein betraut
nts ab und mußte freigelassen wer
den. Später wurde sie unter nichtis
gem Vortvand wieder eingezogen, vier
mal getvippt und fechzehnmal ge
fchraubt, fo daß die Knochen lnaclten,
aber fie blieb ftandhaft und wurde
aufzer Verfolgung gesetzt.