Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, January 11, 1917, Sonntagsblatt, Image 11

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    Meine Ädtin
Roman von Mate- Mis
(17. Fortuna-Hi
Wiss ioii ich Vieh dachte Lisa et
si1,.iiieind, yetnuoiieien nu- den Men
schen« zum Professor gehen und pas
p-.niiche Eisinunen in all oen Augen.
iiieiik
Don ieizenoi junge Mädchen mit
dein iigemviiligen Gesicht ging zu dein
eiiien see beioen Automobilr. Ec
ioiii neu eiicnchiei, in einee Linie. den
einen gegenüber. standen rote Tal
pen.
Sie sprach mii dein Chiiuffeuh der
, mit einer sxipflichienden Bewegung
grüßte. Dann kam sie zurück und
eizay ie dein Prokessvt etwas-, wokiivek
ei laut lachte — sein gutes, heiteres
Lachens
Lisc fah vie Kolonnnde hinab.
Zwei Hei-en iniiien, niii Pelz
niiinieln und syiiiioey oen Kragen
nomgeichugein
Dei eine vlieo stehen, zündete sich
eine Zigneeiie ins.
Iine Licht fininnsie über ein dani
leLs, eiiiiies Gesichi.
Es mai ;Ziiiie.
Eine Eiiekiiiiie fimifie Lihs Glie
dei.
Sie wollte sich Iieiiiinchen, ihm ent
gegeneilen — da siiiizie ons teizenve
Miioiizen inii oeiii Biioeniopf auf ihn
zu, schlang veioe Arme inn feinen
Puls nno iußie ihn iiui den Mund.
Jiikie zog sie ieichi an fich, oann
reichte ei iyi der Ann, fühiie sie zu
dem ekle-schielen eiuioiiiobii und stieg
niii idi ein.
Eil idiir Lifii, eils nenfpannle eine
eiserne zelliininer ihren Kopf
Sic inh« idie Jinre lächean die
lslelzdeile iiher Iie lliiie ieiiirr Be
gleiteriii breitete, dann iviir das Ali
ioniodil oeisihiurscidein Lifci rührte
sich nicht. Aug dein Stiminengeivirr
hörte fee einige Worte: »Ein schöner
Mensch — herrliche-l Spiel —- seine
Beim-, nein, Geliebte —- unerhörte
Technil iviie file ein dildschönei Kleid
— nii dageweseii.«
Es nur Liset. als oh sich schleimige
Oiniilen aus einein triiden Wasser
höhen
Dann slnule alles ob, verlies sich
— niir Uifii flunk- ndch iiiid starrte.
»Das iilso, daei also — —" mur
melle fie.
Mechiinifch feszie fie einen Fuß vor
den anderen, ging durch lange Stra
ßen — hiilbdunlei, häßlich — schlich
iin hohen häusern entlang, und
schließlich irsiiren eid wieder breite, hell
Lärm, ingendeni Verlehr.
Es war ihr, als oh ihr Kopf eins
gehöhlt fei, fie toniiie nicht inehr den«
ten. nichls fühlen, sie wollte sorl,
fort.
Ja. wohin?
Dis Hoiel schwebte ihr vor
Sie blieb stehen, grübeln, grübel
ie —- — endlich fiel ihr der Name
ein.
An der anderen Seite der Straße
siih sie eine Apotheke
Ja, das- iviir’s, ne iiiufzte Ruhe ha
ben, schlafen — —
Dag liiiid, das lleine, hilflofel
Lisa riat in die Apolhele iind sor
deiie ein SchlasinitteL Der Gehil
fe sprach mit ihr, es floß an ihr
vorüber-. Er zog nnd einer Verput
tiiizg eine lleine Glasrolle und sagte«
ein-nd von der Besserung. Lisa
iiirlte, ziihlte iind gins.
Dann niihiii sie einen Wagen und
fuhr ziiiii hom.
Sie löer einigt der weißen Plätt
chen in Wasser uiif und rranl.
Während sie sich entlleidete, fühlte
sie schon eine iodhlige Schwere. Dann
legte sie sich nieder und schlief ein
Arn nächsten Tage gegen Mittag er
wachte sie. Sie hatte einen iihlen Ge
schmack im Mund und der Kops
schmerztr.
Aber sogleich standen die Ereignisse
des Abends vor ihrer Seele.
Sie erhob sich, ihr war schwinde
kiig doch das tolte Wasser ersrischte
e.
Hier sind wir nun beide in einer
Stadt, dachte Lise, vielleicht niir
durch wenige Straßen getrennt, und
ich stehe in einein häßlichen, duntten
hotelzimnier -«— sie blinte aus den
adgeschabten Teppich und die unsaudes
re Chaiselonguiiseete — iind Jinre
sitzt wohl mit dein eleganten Mäd
chen an einein tleicien Tisch —- Blu
men, KrisiJlL Sdisenoorhänge, gol
diger Wein in den Gläsern —- sie neh
rnen ein Gniielsriihstiich lachen iind
schnueii aus den Menschenstrom,.der
doriiderslutet —- iind da tonirnt oiich
eine«iinbehols.«iie Gestalt nzit eingefal
lenen Zügen iind grröteten Augen, der
Mantel schließt nicht recht, der tleine
Neisehiit hnt die lächerlich gewordene
Form einer dergaiegenen Mode, sie
sieht zum Fenster hin —- nein, nein,
es ist nicht möglich! Er würde mich
nicht draußen stehen lassen, er hatte
so ein tindergiites herzt
Lisa weinte st.ll in sich hinein.
Jhre Gedanken schlugen diete We
ge ein wie ein Sie nder in einein
Jrrgorten Schließt ch tehrten sie zu .
dein Beginn rill dieser Mühsale und
dergiingener Glückseligkeiten guriielz
sie sah sich als das ausrechte, gesunde
Mädchen« vornehme sichere Schönheit
und gesellschastliche Stellung, siihlte
wieder den tsstlichen Reiz, als sie
zwischen den hohen Garten-traurig
knit den hellen Schuhen von einem
Stein zunt andern sprang, und
hinter ihr ging der schöne, schlanke
Geiger mit dein verschlossenen Gesicht
eines seinen Diploniaten und den
jungen. seltsamen Augen, und er he
wunderte sie — sa, sie hatte es bei
jeder ihrer Bewegungen gesithlt,-er
bewundert rnich, bewundert mich gren
ernied
Dus hatte ihrem Blut den ersten
heißen Rausch gegeben.
Lisn oan de Sandt, dachte sie, nun
stehst Du hier wie eine rerlassene
Straßendirttet
Das Blut stieg ihr zu Kopi.
Wenigstens das, das eine will ich
haben: Mathem
Und eine andere Stimme sagte
wieder: und er war doch so linder
gut, so vor-nehm in jeder Regung iet
nes unverbildetetx Denkens.
Lisa tlingelte dein Stubenntiidchen
und fragte, ob unten im hotel diri
letcht ein Zettel sei. der das Kon
zert des oergangenen Abends in der
Philharinonie angeliindigt hätte.
«Nein, su ein-ur- haben wir nicht«
sagte das Mädchen, «da muß die
grindige Frau schon zur Philharmonte
gehen·"
Liia sriihsiiictte eilig und machte
sich aus den Weg.
Aus dein Zettel mußte die Direk
tion stehen, dte das Konzert arran
giert hatte, dort wollte sie sich nach
eres Adresse erlundigen.
Die großen Platate waren noch
nicht entfernt wurden. Konzertdtrels
totin Behr, ins Uitn und notierte sich
Straße und Ortuknuntnten
Sie winiie de: nachsten Broschie
und nannte die oldressn
Lisa hatte den Wagen schließen las
sen, sie driiate sich m eine Ecke, sie
wollt-. nichts von dein Straßenleben
sehen, und niemand sollte in ihr
schmerzoerzogenes Gesicht blicten tön
nen.
Die Fahrt tani ihr endlos lang
dor. Schließlich war auch das dor
iiber, und sie trat in einen großen
Buroranun Ein jiiiigerer Mann tuni
an die Ranipe und fragte nach ihrem
Begehr.
»Ich möchte die Berliner Adresse
des Herrn cindras Jrnre haben.«
Der Mann sah sie mit einem un
verschaniten Blick von oben bis unten
an: »Die tann ich Jhnen nicht ge
den-«
Ei war Lisa gar nicht eingefal
len, dasz man ihr die Auslunst der
iveigern tonnte:
»Die lönneis Sie mir nicht geben«-«
stiesx sie angstvoll hervor. »Ich muß
sie aber halten« ich brauche sie notwen
dig.«
Ein anderer Angestellte trat hinzu
und sprach leise niti deni Mann, der
noch ooe Lila stand.
Der ztsate die Achseln und wandte
sich ab:
»Eure Bittstellerin, weiter nicht5,«
hörte sie ihn halblaut sagen
»Mein Herr«, sagte Lisn, dor Zorn
erbleichend, «Jhre Vermutung ist
salsch —- ich wünsche dringend die
Adresse des Herrn Andras zu ersah
ren."
Jhre Stimme hatte in diesem Au
genblick eine so große Aehnlichkeit
mit der ihrer Mutter, daß Lisa er
schran. Jii,«so sprachen die Men
schen, die wußten, daß es leine Wi
derrede gab, wenn sie etwas ernstlich
wünschten.
Der Angestellte zauderte und sah
zu eitlem älteren Mann hinüber, der
an einem Pult arbeitete.«
»Sei-en Sie mai nach, Wille«, sag
te er gleichzeitig
»Was driin, here Schule
»Ach, die Berliner Adresse des
Herrn Andrasf trarf er nachlas
sig hin, wie unsäglich gelangtveilt.
Er schlug zweimal niit der Hand
vor den weitgeössneten Mund, als
ob er ein Gähnen verbergen wollte.
«·2lndras Jnire", ries der alte
Mann don seinein Pult aus her
über, ohne auszuseheiy «Berlin W.
Unter den Linden, Pension Neu
hauk.«
»Dante- fehc.«
Lifa machte sich eine Notiz und
gin
sie wurde ruhiger. Jch werde
Klarheit bekommen, dachte sie, und
das gab ihr Were Feftigleit.
Js- der Nähe war ein größeres
holel mit Neftaurani. Lifa ging
hinein, bestellte sich ein Glas Port
wein, eine Eierfpeife und Schreib
zeug.
Sie wollte nicht mit dem Portier
der Pension verhandeln; die Szene
im Biiw der Konzertoirettion hatte
sie belehrt.
Jn einem Briefe bat sie Jrnre,
sofort zu ihr zi. kommen, fie warte
unten am Eingang der Pension. Und
in einem zweiten Briefe, indem sie
damit rechnete, daß er vielleicht ausge
gangen fei, gab fie the Adresse an
und forderte ihn auf, sie zu benach
richtigen. wo und wann sie sich spre
chen könnten.
Sie wollte auf keinen Fall mit
Hofers oder dem fremden Mädchen
zufammentreffem
Dann zahlte fle, ging auf die
Straße und winkte einem vorüber
fahtenden Automobll.
Alles war strahlend beleuchtet, das
Leben eilte fröhlich ooriiber. - -
Die Pension, in der ere wohn
te, machte einen gepflegten Ein
druck.
Wie siirchtete Lisa, daß einer der
Drei, die sie meiden wollte, ihr be
gegnen könnte. Jhr herz schlug zum
Zekfpringem
Sie trat ans den Partier zu
»Jst Herr.Anbrnis zu Hausei«
»Nein«, sagte der Mann kurz und
benchtete sie taum.
Dann geben Sie ihm bitte diesen
Brief, sobald er nach Hause kommt.
Wann tann das seini«
Da wandte sich ver Portier ihr
zu.
«Jch lann teinen Brief übergeben,
vie Herrschaften sind heute stiih mit
vers ersten Zug nach Hamburg abge
re: .«
« Eine unnatürliche, lalte Ruhe hielt
Lifa aufrecht.
»Alle vieri herr und Frau Pro
fessor Hafer ebenfallsi«
»Nein, Herr Professor Hafer war
nur drei Tage in Berlin, er ist var
einer Stunde abgereist, ich glaube
nach Köln. Frau Profesxor Hafer
und here Anbras haben i re Tour
nee nach Amerita angetretem Der
Zug hnt viretten Anschluß an das
Schiff.« ·
,,ilnv die junge Dntne?«
»Von einer jungen Dame, die die
Herrschaften begleitet hätte, weiß ich
nichts. Aber es mag ja sein« baß
sich noch eine Klinstlerin der Tvurnee
angeschlossen hat. Wie gesagt, vaö
weiß ich n-cht, bei uns hat vie Dame
nicht gewohnt.·«
»« dante Jhnen.'·
»Es-te sehr.«' Der Portier öffnete
die Tiir.
Lisa stand auf der Straße.
Stunrme Verzweiflung schob sie
zwischen Automobilen, Wagen und
Fahrt-ödem hindurch· Das Klin
geln und Tuten erregte sie nicht, der
jacnmernde Aufschrei ihrer Seeke
verschlang alles andere.
Da lvar eine Steinbank, zwei
Männer retelten sich darauf, die
Hände in den Hosentaschen, Tücher
um den Hals getniipft.
Lisa setzte sich neden sie, um«
tlannnert von , einem heißen Weh,
das langsam ertaltete, erstarrte, sie
unfähig machte, irgend etwas zu
tun oder zu denken.
Sie fühlte einen ziehenden Schmerz
im Rücken.
Jch lebe doch noch, dachte sie. —
-— — Sie mochte sehr lange so ge
sessen haben.
Ein Schutz-nann, der sie beobach
tet hatte, trat an sie heran und
fragte, ob sie fremd in Berlin ser.
«Ja —- nein —- ich wohne im
hotet Kolberg.«
»Wollen Sie nicht nachhause ge
hen- Es ist talt heute.«
,-,Ja, sehr talt.«' Lisa zog sich
zusammen und zitterte.
Als sie aufstand und einige
Schritte gegangen war, wurde der
Schmerz heftiger.
Sie wandte sich zu dem Schuh
mann nnd bat ihn, ihr doch ein
Automobil zu besorgen.
Er tat es und half ihr in den
Wagen.
Jrn Hotel legte sich Lisa sofort
zu Bett und nahm mechanisch von
dem SchlafmitteL
Dann tlingelte sie dem Mädchen.
Sie bestellte Tee und etwas zu es
sen. »Aber bringen Sie es nnr
selbst," fügte sie hinzu.
»Das Mädchen tam nach einer
Weile mit dein Tablett, ordnete al
les ans dem Tisch und schob ihn
an das Belt.
Lisa war so durchfroren, daß sie
immer noch zitterte.
«Gnädige Frau sind talt,« sagte
das Mädchen freundlich, »ich weroe
gnädlger Frau sofort eine Tasse
heißen Tee einschenken«
»Bitte, tun Sie dag!"
Das Mädchen hatte ein sympa
thisches Gesicht.
»Ich sireiche der gnädigen Frau
auch ein Butterbrot.«
»Ja —- und wenn Sie Zeit ha
ben, bleiben Sie bei mir, bit ich
fertig bin.«
.Gerne, aber ich muß dann die
Türe auf einen Spalt stellen, damit
ich das Klingeln höre.«
«Gut.«
Das Mädchen sprang behende anf,
öffnete die Tür ein wenig und
machte fich daran, Lifa zu perfor
gen. Aber fchon nach den ersten
Bissen konnte Lifa nichts mehr ge
niefzen.
»Gnödige Frau sind wohl trauli«
fragte das Mädchen bedauernd.
«Jch fürchte, io-«
»Aber den Tee müssen gnädige
Frau trinten. Jch gieße ordentlich
Num hinein, das hilft gegen alles.«
Lifa trank den Tee, der ftark war
wie Geog.
Es tat ihr wohl, dafz das fremde,
freundliche Mädchen sich um fie bei
mühte.
»So, Fräulein,« fngte fie herzlich,
nehmen Sie die ganze Platte fiir
fich, verzehren Sie es nur hier« ich
bin fett fehr miidr.«
«Melen Dant, gnädige Fragt
Nicht wahr, Tee mit viel Rum, das
tut gut. Ich hatte einmal Influ
enza —- —« Sie fing an, eine Ge
fchichte zu erzählen, die Lifa nicht
hörte.
Lifa lag lang ausgestreckt tm
Bett, die Schmerzen tamen und
gingen. iie wußte, was var zu be
deuten halte. Ganz ruhig lag sie
da —- — und dann hüllte sie der
Schlaf in einen weichen Mantel.
Füissunddreißigstxs l
Kapitel.
»Die: können Sie nicht bleiben,·
Frau Andriis, und ein Krankenhaus
nimmt Sie nicht aus, höchstens eine
Privatllinih Ei handelt sich ja
lediglich darum« daß Sie ganz ru
hig liegen, teine einzige unnaiige Be
wegung niachen."
Der Arzt sah mit Teilnahme in
Lisas schmal gewordenes schönes
Gesicht. Sie hatte schon mehrere«
Tage in dem trostlosen Hgielziinnter
gelegen, und wenn ihr Gemüt noch
so zerrissen war, diese lange, tör
perliche Ruhe hatte sie physisch ein
wenig ersriicht.
Jhre großen, duntelblauen Augen
schienen immer ioie aus einer ver
suntenen Welt zu toniinen, ihre Haut
war inattiveiß — man sah an eini
gen Stellen das zarte blaue Ge
äder —- und dieser seine Kopf ruhte
in einer blonden haarslut.
Der Arzt hatte einmal ein er
truntenes junges Mädchen ini dunk
len kalten Wasser gesehen. Man.
hatte das Eis zerschlagen, unt sie
zu finden. Da hatte er sie its-u
sehen. «Um das blasse Gesicht, weit
in das slutende Dunkel hinein, floß
langes hellblondes Haar. Es beweg
te sich hin und her, als ob es lebte.
Ein Mann hatte sie vertassrn,
und sie ioar besinnungslos diesen
lesten Weg gegangen.
Vieles uno Ienumenrates Denken
war nicht seine Art, aber ihm kain
die Erinnerung an das ertrunkcne
Mädchen-als er Lisa anschaute.
Merkwürdig, daß so schöneFrau-·
en verlassen werden, dachte er; denn
wenn Lifa auch niemals von ihre-n
Manne sprach, so wußte der Arzt
sofort, dasz sie nicht zu jenen ge
hörte, die die Großstadt als Ver
stoßene augspie und durch Straßen
trieb.
»Ich könnte die Kosten siir den
Aufenthalt in einer tilinik nicht
aushringen,« sagte Lisa matt.
Der Arzt hatte diese Antworters
wartet. Lisas feine und oielsach ge
slickte Wäsche halte ihm gleich bei
seinem ersten Vesuch eine Geschichte
erzählt; er hatte schrn mit seiner
Frau, die Mitglied mehrerer mild
tätiger Vereine war, gesprochen.
»Da könnte ich Jhnen einen an
deren Vorschlag machen. Es gibt
hier in Berlin Heime siir Mutter
und kleine Kinder, eine Art Zu
sluchtssiätken — ich muß-Ihnen das
geradeheraus sagen — ich könnte
Sie in so einein Heim im Osten de:
Stadt unterbringen."
Lisa schwieg, ihre ahirrenden Ge
danken mußten sich ersk sammeln.
Der Arzt mißdeutete ihr Schwei
gen. Er stand aus, er war ein viel
heschästigter Mann.
,,Nach Florenz zurückkehren kön
nen Sie nicht,« sagte er achselzuks
tend. »Haben Sie denn gar keine
Freunde oder Verwandte in Ver
lin?«
»Nein, niemanden«
»Ich habe wenig Zeit, Frau An
dras. Soll ich das Veti in dem
Heim fiir Sie bestellen, dann telet
soniere ich sosort, ich lasse Sie iti
einein Auto hinfahren. Sie kön
nen doch ein wenig bezahlen, sagen
wir eine Mark oder zwei Mark am
Tag, ich weiß das nicht genau.««
»Ja, das kann ich,« sagte Lisa
erleichtert, das Geld ihrer Schwe
ster mußte ja noch siir lange Zeit
ausreichen —- »wenn Sie so freund
lich sein wollen, mich anzumelden,
dann wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
«Nun, das ist vernünftig gespro
chen,« sagte der Arzt lachend, »ich
schicke Ihnen um fünf Uhr mein
Auto, dann habe ich Sprechstunde
und brauche es nicht.«
Er hielt ihr seine Hand hin.
»Vielen Dant, Herr Doktor, Sie
sind sehr gütig.«
»Ach. da ist nicht viel zu danken,
das ist ganz einfach. Also ausWies
versehen Anfang März, dann besu
che ich Sie in der Chariiö oder wo
sonst Sie liegen mögen. Leider
habe ich keine Klinik, sonst würde
ich Jhnen heistehen, wenn der kleine
Erdenbiirger ernstlich kommen will
— kommen mußt« fiigte er lachend
hinzu.
»Aus Wieder-sehen, Herr Doktor,
und nochmals herzlichen Dant. Jhi
re Rechnung schicken Sie, bitte,zuln
heiln.«'
Lisa errötete, nls sie das sagte.
Ja, ja —- gewiß, Frau Andrnö!«
eies er von der Tür zurück, und
Lisa hörte seinen schnellen Schritt
verhallen. . .
Das Heim lag in einem großen
Häuserbloct Ueber die graue, lan
ge Straße mit vielen Grünlramläs
den, Destillen, Handlungen aller
Art, die die kleinere Bevölkerung
mit billigen Waren versorgen, tat-?
tetten die Elektrischen, liesen spie-l
iend und schreiend viele Kinder,"
gellten die Ruse der Kutscher und
Radfahrer.
Aus den dunllen hauöeingängem
die zu den Bösen siibrten, und aus
den Kellergeschästen quoll ein säuer
lich sadee Geruch wie von verdorbe
nen Begetabiliem
Jrn hellen Lichtlegel der Laternen
blißten die Betten der Friseueliiden
und lächelten geschmintte Wachätöpse
mit getiirmten Frisurem schienen die
großen leischstücke in den Fleischer
laden s·rmlich zu bluten und lock
ten Back- und Zucker-waren aller Art.
Lisa hatte immer einen inten
siven Widerwillen gegen Fleischerlä
den gehabt, sie lehnte sich in das
Autoinobil zurück und schloß die
Augen
Wie viele solcher Straßen mochte
es in Berlin gebens
Endlich hielt der Wagen, Lisa
stieg vorsichtig aus und sah sich nach
irgendeinem Menschen um, der ihr
Handgepäck tragen sollte.
Da schoß auch schon ein kleiner
Junge heran, einer der vielen, die
stets hinzuspringen, wenn ein Au
tomobil hält, um durch eine Dienst
leistung, und sei es nur das Oeff
nen und Schließen des Schlages, ei
nen «Sechser" zu verdienen.
Er nahm das ziemlich große Ge
päctstiick. Lisa ging langsam hin
ter dem Jungen nach dem Hinter
haus.
Der dunkle Torweg, ver Vor mir
lleinem Gestrüpp und ringsum die
himmelhohen Mauern mit den vielen
erleuchteten Fenstern: das alles war
so fremd.
s Hoch oben ein Stück grauer htm
sniel von dem vielen Licht der gro
sßen Stadt rötlich bestrahlt.
Es war Lisa, als ob eine dicke
Staubschicht iiber allem läge und
ihr in den Mund dränge. Aber
das war wohl nur Einbildungz es
war ja ein klarer Wintertag.
Der Junge stand schon in dein
schlecht beleuchteten Flur und wint
te. Er hatte geklingelt, und ein
ältliches Mädchen mit einer kleinen
Schwesternhaube steckte den Kovs
durch die Tiir und nahm das Gehört
in Empfang.
Das alles ging so schnell, Lisaz
Blicke und Gedanken konnten kaum
solgen
Sie war in ein Zimmer gesiihrt
worden und saß mit vier andern
Frauen in einer Reihe, aus einem
gelben Stuhl an einer grüntare
zierten Wand.
Wie Kleinigkeiten ost hasten blei
ben, während große Gemütsbewe
gnngen den Menschen nnitlamrnert
halten, siel es Lisa auf, wie häß
lich das Gelb der Stiihle und das
Griin der Tapete nebeneinander aus
sahen.
Am Tisch, in der Mitte des Zim
mers saß eine Frau mit melierteni
Haar und etwas verlnissenern Ge
sicht.
Sie hob den Kopf und sah zu
der Nenangelonnnenen hinüber.
,,Sind Sie die Frau, die Doltor
Tewes angemeldet hat?« fragte sie
»Ja-«
,,Schwester! —- Schwester Jda!«
rief die Frau mit einer durchdrin
genden Stimme.
Sie wandte sich wieder an Lisa:
»Ich schreibe Jhre Personals-n
nachher aus.«
Schwester Ida lam herein. Lisa
erhob sich schnell.
»Vorsichtig, vorsichtig, Frau An
drasf sonst haben wir nachher die
Bescheiung.« Sie sagte das lä
chelnd, als habe sie soeben einen gu
ten Wiß gemacht
Die Frauen, die an der Wand
saßen, lachten, bis aus eine, die die
ganze Zeit in ihr Taschentuch hin
eingeroeint hatte.
Aus dem schmalen Korridor
brannte eine tleine Petroleuinlainpe
mit einem blauen Behälter. Am
hintern Ende des Ganges waren
dicht nebeneinander zwei braune
Türen.
Man hörte das hohe und unwil
lige Geschrei ganz lleiner Kinder,
die Lust war gesättigt von Kaum
len- nnd Milchgernch, vermischt mit
deni Dunst schlecht geliifteter Schlus
räume. -
Die Schwester, die voranging,öss
inete ganz hinten rechts die eine oer
braunen Türen und ließ Lisa ein
treten.
Jn der Mitte des Zimmerg stand
»ein großer Tisch mit einer rotgeinm
JsterteSno Decke.
Frau Frau Andra5,« die
’Schwester wandte sich sreundli
Lisa, »hier ist also Jhr Bett, sie
wies aus ein niedriges Feldbett, »ich
will Jhnen beim Ausileiden behilf
lich-sein«
Dann Vckllks Ilk clllg olls Jlilll
mer.
Lisa sah zweifelnd ihr Bett an.
Es war sauber, und als sie sich hin
legte, fand sie, daß es nicht so un
bequem war, wie es aussah.
Aus dein Tisch brannte eine ileii
ne Lampe, in den Ecken des Rau
mes war eine unersreuliche Dun
kelheit, die wenigen Einrichtungsi
stücke schienen zusamniengesucht; nur
die Dürstigieit machte sich überall
breit nnd rückte nah an die schöne,
blonde —- einsi so unglückliche —
Lisa von de Sandt heran.
Sie schloß die Augen und ließ
ihre Gedanken wandern.
Wenn sie sich schmerzlich zu dem
verlorenen Geliebten stahlen, riß Li
sa sie zurück.
Nur nicht dorthin, nicht in die
kurze, selige Heiligkeit schauen: vor
wärts in das noch dunlle Land, in
dein lleine Kindersiiszchen neben id
gehen würden.
Und doch wurden die Augen wie
der heiß und feucht. i
ere! Jnnel schrie ihr armes
Herz. Wir haben die zarte Dass
nung glückseliger Stunden s on so
unendlich lieb gehabt. wir bede —
Du, mein ere, und ich —- und
nun soll ich das kleine Dändchen
fassen und allein hindurchgehen
durch eine Welt von Arglist, Ver
stellung und Grausanileitl Jch kann
es ja nichts — —
Und was sie schon so ost erschaut
halte in diesen langen Tagen ttess
ster Qual, das ladte auch sent wie
der ihre Seele wie linder Regen ein
verdorrteö Land: sie sah das kleine,
weiße Haus mit den Ranlen der
Passiongblumen über der Tür, den
Liliengatten und die langen, wehen
den Nosenzweigez diese Stätte des
Friedens, der Güte. Sie sah zwei
treue Gesichter über ein Veilchen ge
beugt, in dem ein kleines Kindchen
schlummerte. · « « » 4 «
Du soust doch eine Petniat haben,
mein kleines Liebes, dachte Lisa.
Wenn die Mutter wieder draußen
ist unter Fremden, dann will sie
an ein stilles, seines Nestchen den
ten, in dem Du Deine knospenden
Glieder reitst. i
Lisa sprach in sich hinein zu dein
jungen Leben, das sich da regte und
das wuchs. Sie war so einsam,
ihr einziger Gesäbrte war ihr uns
geboreneö Kind: es war ihr unbe
wußt zur Gewohnheit geworden in
ihrer hilskosigkeit zu dem httfiosek
sten zu sprechen, das ed gibt.
Ja, Du Armes, Du wirst hier in
dem grenzenlos öden Hinterhauö der
Großstadt Deine Augen ausschlagen,
aber dann nehme ich Dich in meine
Arme und trage Dich sortz wir
stellen Dein Bettchen zwischen hohe
Blumen, und vom Meere kommt der
kräftige hauch und macht Dich iraeu
und braun.
Braun, ach Gott, schlank und
braun, wie Dein Vater, und seine
stablblauen Augen werden inich an
schauen! — — Doch still, ich darf
Dich nicht stören; Du willst leben«
willst mein Glüct sein — — «
Sechsunddreißigstes
Kapitel. «
An zwei Nuchinittngen in der Wo
che war keine Sprechstunde, dann
ging Fräulein Merlan regelmäßig in
die Stadt oder zu Bekannten. So
war es auch heute.
Und Schwester Jda kam und bat
Lisa, doch bei den stindern zu blei
ben; sie habe so arge Ziihnschinerzen
und wolle zum Arzt gehen.
Der Arbeit ungewohnt, durch das
Geschrei der Kleinen erregt, lies sie
fortwährend yin und her und ver
sorgte die ungeduldige Schar nach
besten Kräften.
Aber diese Kräfte waren nicht
groß.
Als Schwester Jda gegen Abend
nach Hause koni, gab es kein Besin
nen mehr. Sie brachte Lisa in ein
kleiner- 8inuner, den einzigen abge
sonderten Sitjltifmunn den diese
ärmlich-e Zuflnclnsstutte besaß, und
yier wurde Lisa Mutter. «
Einen Monat zu früh hatte der
zarte dunkle Itnabe seine Mutter be
freit. Tie kleine Lebensslamme aber
wuchs stetig, und die Mutter erstarkte
niit dem Kinde. — — — «
Wie steh die kleinen Glieder straff
ten und rundeten, so erhoben sieh
auch in Lifas Jnnern Keime des Ge
fundens. i
Sie hatte das Lachen verlernt und
die Freude, aber sie fand die Kraft
dns Erdceieh ihrer Seele vom Un-.
traut zu befreien, das die tiefe Ent-.
täuschung ihres Lebens gesät hatte.
Wie ein schiichtekner Versuch, ein
rührendeö Hintasten zur Schiiiiheit,
waren zwei kleine Bilder über Lifas
Tisch, der dicht am Fenster an einer
kahlen Wand. stand: eine Madonna
von Raifael und Peruginos Anhe
tnng des Kindes. «
Lifa hatte sich ihien Koffer-, den sie
vor ihrer Abreise gepactt hatte, durch
Franeesca in das Heim schielen los
sen.. Die tleincn Bilder lagen zwi
schen den Kleidern —- herzbeivegende
Andenken — aber nichts er chiittekie
fie fo sehr wie det Anblick es Bil
des icon Donatellos David.
Als sie das nnaerahinie Blatt her
vorzog nnd die göttlich schöne Bron
zefiguk niit dein gesenkten, feinen
Kopf sah, war ihr, als hätte sie eiis
giftiges tlteptil angefaßt. Sie schlen
derte dag- Bild znkiiet und ka-ing
auf.
f
Aber tangtatn, wie magnetiich nn
gezogen, kehrten ihre Augen zu dem
jungen David zurüc
Mit bösen Augen starrte sie ihn
an und konnte ihn nun nicht lassen
Sie wollte ihn nehmen und zer-.
reißen, aber ihre Hände bebten. --
Man vernichtet nicht Io leicht. was
man nngebetet hat.
Sie nahm das Bild nnd legte es
mit Sachen, die sie in dieser Herberge
für Verstkßene niemals gebrauchen
würde, unten in ihren Kasse-. «
Doch eine plötzliche, heiße Sehn
sucht durchschnitt, tvie mit einer
scharfen Klinge, ihr Jnneres, das
all diese Zeit über to ohne Manq
und Farbe war
(Fortieh»ung Lolgtx