Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, September 23, 1915, Sonntagsblatt, Image 9

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    Sonntag-Hatt de
Skaaks 0«aneiger und Il'cerold.
tiefes-freiwilliger Hine
land.
Novellrktc von Frone Krämer-.
Karlernst Mariens war neunzehn
Jahre alt und fühlte sich immer noch»
etwas befangen in seiner neuen Wür
de alz Leutnant. Das war auch alles
gar zu schnell gegangen —- wie im
Traume.
Vor sieben Monaten noch Schüler
des Gynaiiums, und gerade teine be
sondere Oeffnung der Primn, dann
innerhalb weniger Tage mit Not-Nei
Jepriifung als Kriegefreiwilliger in
die Laterne und in die graue Unl
form, auf den Exerzierplntz. ins Feld
und ins Feuer.
Grausenhaftes war an ihm vor
beigezogen Jn ungezählten Schwen
gräben hatte er gestanden, gelegen, ge
schossen, hise und Kälte empfunden
nnd geschlafen, von unfäglicher Mii
digteit übermältigt. Mit wildem
Hurrafchrei tonr er von dort ge
gen den Feind gestürmt. Dazwischen
wieder Matschlage und Marschtnge,
als wollte es nicht enden, zuweilen
aber auch ein ruhigeö Quartier, wo
man sich von wochenlangem Schinuh
saubern, in einem wirklichen Bett lie
gen und seine Gedanken ein wenig
sammeln konnte. Ein paar rasche
Zeilen nn Mutt;r, eine Karte nn ei
nen der daheimgebliehenen Freunde:
»Ich lebe noch!" » »Dann es geht
vorwärts!« — ·,L-ol!te ich fallen,
halte mich in gutem Gedächtnis!«
Karlernst Martens inufzte sich wohl
in all diesem kampfettoben außer
ordentlich bewährt und hervorgeton
haben. Schon in der fünften Woche
gab man ihm das Eiserne Kreuz,
später die Tressen eines Unteroffis
Hiers. Als er sich aber, in einem
heißen Gefecht, mit einer Schar von
seiner Iruppe abgeschnitten, durch
eine itarte feindliche Abteilung toll
tiihii durchschiug und seine Leute so
wie iiber funfzig Gefangene zurück
brachte. wurde er Otfizier - Stellver
treter, und nicht lange darauf tom
seine Ernennung zum Leutnant.
Wie eit. wiifter Traum erschien ihm
dies altes noch an dein Frühlingstage.
da er langsam den Laufgraben ah
schkiti. uin sich nach dein Unterstand
zu begeben, der schon unter den grü
nen Waldbäuinen tag.
lks war um Mittag, und die Leute
holten das Essen von den Feldiiichem
die an zwei Kilometer hinter dem
legten Schühengraben am Rande ei
i,es Dorfes standen
Der Tag war fchön und hie auf
ein ferne-, dumpfes Dröhnen in der
Luft so still, daß Kaeiernst Mariens
nach Wochen wieder einmal das wun
derbare Gefühl des Aueruhens hatte.
Freilich drüben — etwa sechshundert
Meter vor der ersten Linie —- tagen
die Franzosen. und in der Nacht konn
te man manchmal Gesang hören, der
von dort tam. Ader heute hatten sie
noch nicht geschossen und schienen auch
i.ictn die Absicht zu haben, einen An
grifi zu unternehmen Auch in ihren
Graden mochte e ietzt nach Eisen rie
chen nnd nach dem Duft von schwar
zem Wasser- -— — —
Als der junge Leutnaiit bei ienem
tinterstaiio angxlangt war, wandte
er sich zurück, atmete tief die milde
Luft ein und sat; einem Zug von
Leuten entgegen. die eden mit gefüll
ten Eimetn von der Feldtüche kamen.
Das war ihm gerade recht, denn auch
ihm mußten sie seht sein Essen brin
gen, und er hatte ordentlichen Hun
ger, den hunger eines Neunzehnjähris
geil, der seit den. Frühstück nichts zu
F genommen hatte. als ein paar
iictchen Scheiolade und den Rauch
einer Zigarette, die er hie und da an
die Lippen führte, um einen langsa
men Fug daraus ,·,u tun.
ist lannte die Leute mit hen Ei
nem nicht; sie waren ekst zwei Tage
zuvor eingetroffen und lagen nicht
in seinem Graben. Wie sie aber in
seiner Nähe wnten und mit »Au
geis linke-" un ihni vorbeischtittem
viieb iein Blick tin einem von ihnen
haften.
iiin wunderliches Eint-finden über
tani ihn eift, dann ein stotte- Stau
nen. Ganz tot wurde das heaunges
ioettette Junglingdgesicht
Das war ju· · . Nein doch, ei
konnte nicht sein. . . llndenihnt. . .
Wie sollte denn das zusammenhän
gent. . . Gewiss, et hatte sich geirrt.
Freilich, der Itivc vierzigjiihtige. auf
nllend schlanke Mann mit dein et
was wie-ein leise angegeauten beau
nen Bart hatte ihn. . . das war
teine Täuschung. . hatte ihn auch
niit einem Wundern in den Augen
angesehen. .
«hallo, Sie, Gef eitet!« tief Leut
nuni Mariens einen an, der in dein
Zuge dei- Essenttiigek ist's letzter und
Ohne Gesösze ging
»Ja Befehl here Leiitnant!'· :
« .Gehöten Sie zu den Leuten»
hier7«' «
»so Befehl, Herr Leutnant!«
»Da isi einer darunter«. . . so und
to. . . Er schilderte den Soldaten,
»Den meinen Herr Lentnant«, ant
wortete der Gesteite, »den mit der
großen, runden Brille?. . . Ja, det
is auch sonne puszige Krulr. . .,.Pro
fessor" rasen wir ihm. ’n Lehrer aus
Berlin oder sowat» . . Kriegösreiwib
liger Söneland Herr Leutnant!«
Also doch. . . dachte Marten5. . .
Eöneland . . Sein Lehrer Wilhelm
August Söneland der Stille, der
Träumer. wie sie ihn in der Schule
nannten, wenn er einmal besonders
nett war· . . Der Oberlehrer sür
Deutsch und Geschichte an dem Ber
sliner Gymnasium, dessen .Bänie der
nunmehrige Leutnant Karlernst Mar
iens noch vor einem halben Jahre ge
drückt hatte, in steter Angst und Sor
ge nm den nächsten Kltissenaussas, vor;
dem er immer ein geheimes Grausens
gefühlt hatte. Denn da lonnte ihm
doch seine gute Schwester Elise, die
Lehrerin, nicht helsen, Ioie bei den
häuslichen Arbeiten dieser Art; da
mußte er schon im Schweiße seines ei
genen Angesichts so surchtbar schwere,
geistestiese Söse hauen siir herrn
Söneland und Gedanken entwickeln,
die sich doch nicht einstellen woll
ten...
Sein Lehrer Ssneland den er
troy allem doch außerordentlich hoch
schiitzte, )iriegssreiwilliger. . . als
ganz gewöhnlicher Soldat ohne Rang
und Abzeichen im Felde. . . Und
sein Schüler Karlernst Martens. die
sei jungen Kerlchen. das so schlechte
Aussage machte und in Geschichte auch
nur immer gerade noch mitrutschte,
war bereits Ossizier und der Vorge
setzte seines gestrengen Lehrers, der
vor ihm strammstehn und ihn mit
hörbarem Ruck grüßen mußte, wenn
er vorbeikam. wie eben seht.
Das war doch eine sonderbare Ge
schichte, und der Leutnant nahm sich
dor, seinem besten. jetzt noch in der
Schule schwisenden Freunde Tho
mann, der wegen allzu großer Kurz
sichtigteit untauglich war zum rau
ben Kriegshandwerh schnell ein paar
Zeilen darüber zu schreiben. Die
ganze Oberprima, soweit sie eben noch
vorhanden war, sollte ihre Freude ha
ben. . .
Jawohl, eine luriose Geschichte und
eigentlich zum Lachen. Aber Karlernst
Mariens brachte es doch nicht dazu.
Etwas Wunderliches war in ihm,
das durchaus nicht mittun und sden
Gedanken, dem Freunde ein paar lu
stige Zeiten zu schreiben über die Be
gegnung, nicht gutheiszen mochte.
Aber seine Schwester Elise sollte
schleunigst einen Bericht bekommen
Der war ja, wie er wußte, Oberlehs
rer Söneland gut bekannt, aio älterer
IKollege freilich, da er an derselben
Höheren Töchterschule in deutscher Li
iratur unterrichtete, wo sie selbst die
« Jüngsten m die Geheimnisse der fran
Izösischen und engtiichen Sprache ein
izusiihren hatte. Das war auch geeig
3rseter siir sie und ihr etwa-«- schwärme
"risch veranlagtes Gemüt als siir die
Jungen, denen mehr das Spaßhaste
ider Sache eingeleuchtet hätte. Ein
sstrenger, wenn auch beliebter Lehrer,
der seinem Schüler auss Wort und
ohne mit der Wimoer u zuaen, parie
ren und doch tnirs end in seinem
Innersten denten mußte. daß dieser
"seibe Leutnant vor ein paar Mona
ten noch pslichtgemäß zu bibbern hat
te, wenn er trotz aller Einsiüsterungen
die Punischen Kriege heillog durchein-»
ander brachte. ’
Nach dem Essen schon schrieb Leut-i
nant Martenz den Brief an seinei
Schwester schilderte ihr wie
Herr Oberlehrer Söneland mit ei-s
nem Subpeni und Kasseeimer an ihml
vorbei marschiert war, ein Feld
grauer mit schweren, lehmigen Stip
seln und einer Unisorm, so herge
nommen und verschmuht, daß dem
immer mit peinlicher Sorgfalt geklei
deten Mann gewiß vor sich selber«
graute. l
Die Sammelstette site die Feld-«
post besnnd sich un einem weiter ent-«
sernten Unterstand, zu dem Leutnants
Mariens sich begab, als er tin Lausel
des Nachmittags wieder aus demj
Schüyengrnben kam. Gerade hob er
den Denckel dee ungesiigen Knstens,
Inn diesem seinen Brief onst-vertrau
en, da erschien ein Soldat, nahm diel
vorgeschriebene haltung an und war-I
tete: Sönelanv, und wieder fühlte er,l
daß er rot wurde. Aber er gab sich
einen Ruck streckte mit lebhafter Herz
tichteit dte Band aus und ries, vor
Vesnngenheit etwas stotternd:
»Herr· . · here Oberlehrer«. . .
»Ja Beseht, here Leutnnnt!'· ant
wortete Söneiand mit heller Stimme
(tn ver Schule sagte inmi, er spreche
Amor) and ergriss die band desi
jungen Ossiziers, um sie kräftig zuj
schütteln
Dabei entsiel ihm der Brief, den«
er in seiner Recht-n gehalten, und es
W —
geschah, daß here Leutnant Karlernst
Mariens, seine Würde völlig verges
send, sich schleunigst bückte, das
Schreiben vom Boden aufhob und es
dem Soldaten reichte.
»Wenn ich bitten darf, Herr Ober
lehrer«, sagte er fast schüchtern. Sei
ne Gedanken waren wieder in der
Schule.
«Zu Befehl, Herr Leutnant!« gab
Söneland stramm zurück, aber in
scinen großen, blauen Augen hinter
den runden Brillengläsern war ein
Lächeln.
,,Wiewohl sich’s nicht recht schicken
mag, Herr Leutncmt«, fuhr er leiser
fort, und da dieser verlegen drein
iah und ganz im Banne seines Schul
respektes zu sein schien: »Aber sehr,
sehr hiibsch ist es doch von Ihnen,
mein lieber Karlernst Matten-. . .
Auch daß Sie mich nicht vergessen ha
ben. . . Ja, wenn man so seinem al
ten Lehrer plötzlich über den Kopf
wächst wie Jonä der Terebinthenbauni
dazumal in Ninive«. . .
»Aber, Herr Oberlehrer, dasiir —
dasiir kann ich doch eigentlich gar
nichts. Hab’ ja nur meine Schukdigs
leit getan wie alle anderen. IT
werde doch nicht — kann d
nicht« —
So ein ganz tlein wenig nahm er
sich’s doch übel, daß et den Schüler
in sich noch immer nicht ganz zu un
terdrücken vermochte und sich sogar
iibek den Scherz des Lehrers so freu
te, als könnte ihm dies bei der näch
sten Zensnr zugute kommen. Wenns
jener nur nicht gleich fragte, war- mits
dem Wunderbaurn des Propheten Jo-;
nas eigentlich los war. So ganz geii
nau hätte da Herr Leutnant Karlernst
Mariens nicht Bescheid gewußt, eher
ware ihm noch die vielgefiirchtete
,Vier« im Notizbiichlein des herrn!
Söneland sicher gewesen.
Aber der Kriegsfreiwillige dieses
Namens fragte nicht. Dagegen nahm
er die Einladung des jungen Offi
zers, ihn doch in seinem Unterstanb
auszusuchen und an seinen allzu zahlsi
reichen Liebe-gaben teilzunehmen, mit
herzlichem Dank an. Als sich dann»
Martenj entfernt hatte, öffnete Säue
land den Brief, der ihm vorhin zu
Boden gefallen war. suchte auf den
vier beschriebenen Seiten eine leere
Stelle und schrieb:
»Nun, mein verehrtes Fräulein
Elise, habe ich Ihren lieben Bruder
Karlernst wirklich als Leutnant an
getroffen. Er schreibt Ihnen wohl
auch darüber, und fo wird Jhnen
Meldung und Betätigung in einem.
Wie denn Goethe sagt. daß Memoiren
von oben und unten sich begegnen
müssen. Bleiben Sie mir auch wei
ter gut, selbst »denn das Zitat nicht
völlig stimmen sollte.". . .
Leutnant Martenö hatte seinen
Lehrer als Gaft im Unterstand und
bewirtete ihn siirstlich mit all deins
Guten, das er in seinen vielen Was
teten sand. Söneland ließ sich Esseni
und Trinken ohne Gewissensbedenkenl
schmecken und planderte dazwischen
mit feinem Schüler iiber die Prima
nnd anderes, erzählte auch, wag ihn
veranlaßt habe, freiwillig in den
Krieg zu ziehen. Jn seiner Jugend
sei er nicht einmal als »Landsturm
ohne Wasse« zu brauchen gewesen«
nm fo mehr hätte es ihn gefreut, dasz
er als Vierziger dem Vaterlande;
Kraft und Blut geben dürfe. Mitl
habe er ja müssen! Ein Lehrers
der Geschichte -—· wie sollte der nichts
mit eigenen Augen sehen und anij
eigenen Leibe erfahren wollen, wies
Weltgeschichte gemacht werde! Er!
habe bisher keine Ahnung gehabt,«
die sei ihm erst ausgedämmert, alr
er zum ersten Male im Feuer gestan
den sei.
Der Kriegöfreiwillige Sönetand
schrieb dann auf die Bitte des Leut
nantj einen Brief an seine Primit,
und was Martens gestern wie hohn
erschien, da er an Thomann über
die Beg nung berichten wollte, das
llang hier ganz rnders. »Der Schiis
ler ward zum Führer, der Lehrer,
der ihn erzog, lernt ihm gehorchen.
Seltsam scheint diese Wandlung und
manch einer mag lächeln darüber.
Laßt ihn! Er hnt diese wunderbare,
große Zeit nicht erfaßt Die Jugend
voran, Freundes Zeige sie, was wir
zu machen wußten aus ihr. Jeyt don
nern die Kanonen. Jmmer näher
und näher. . . Huren, nun kommen
wir wieder damal«
Sie kamen daran. Schon in ver
Frühe des nächsten Morgens gab es
Sturm. Die seindlichen Gräben
wurden genommen. Zwischen dem
zweiten und dritten wurde Leutnunc
Mariens von einer Schrapnellkugel
genossen
Kriegosreiloilliger Söneland san
ihn zu Boden sinken. Er sprang
hinzu, nahm den Betousztlosen aus
und trug ihn von der besonders ge
säbrdeten Stelle, belastete ihn zit
ternd, schnitt ils-n den Rock aus« aus
dem das Blut quoll. Die linke Schul-«
W
ter und ver Oberarni waren verletzt,
schwer aber nicht tödlich. Sönelano
hatte die Freude, seinen Schüler aus
der Betäubung erwachen zu sehen; er
til-ergab ihn den herbeieilenden Sa
nitiitgsoldaten und stürmte dann zu
riick, den anderen nach.
Mit einer leichten Verwundung
kam er wieder. Aus dem Verband
pfatz fand er den jungen Leutnant,
der tunstgerechi verbunden auf der
Troge lag. Er sollte in den Lazaretts
zug gebracht werden. Jn die Heimat
ging es, nach Berlin.
Leutnant Karlernst Mariens sagte
«Ach. Herr -Oberiehrer, jetzt ist aber
sur mich die Weitgeschichte wieder
aus.«
»Für zwei, drei Monate. mein
Junge,« antwortete der Rriegssrei
willige Söneiarb und streiche-te sei
nen Vorgesetzten »Uni) Hchivester
Eiiie wird nun zu tun haben Was
ich mir sehr schön bente', siigte erl
hinzu, während aus seinen großen
Augen ein Leuchten kam Diesrnal
aber nicht durch die runden Brillen- (
giiiser Die hatte eine tückische Kugel
mit einem Fetzen Haut iiber dein Ohr
in die Lust geschleudert. -
»Und ich«. sagte Karlernst Matten-J
mit schwache-n Lächeln, ,,darf ich ihr
wohl einen schönen Gruß bestellen von
dem Herrn Oberlehrer, der heute seine
Reisepriisung bestanden hat siir das
Eiserne Kreuz?«
»Ja Beseht, Herr Leutnant!« ant
wortete der Kriegssreiwillige Sism
ianb und gab dem herrn Leutnant
Karlernst Mariens einen Kuß aus die
Stirn.
—
Yie patriotenligm
Sitz-Je von W. Johannes-.
Die Erde darnpfte und der Regen
rauschte eintonig wie ein Gießbach
vom dunkelgrauen himmel. Seit Ta
gen, seit Wochen ging das so, man
konnte glauben, daß zu allem andern
in diesem Unglücksjahr Frankreich
auch noch ersäuft werden sollte. Herr
Juleö Baroche stand, in einen seite
nen Schlafrock gehüllt, aber sonst ser
tig zuin Ausgehen angekleidet an veni
hoben, breiten Fenster seines elegan
ten Frühstückszirnrners und starrte in
den trüben Morgen hinaus. Er roar
groß und hager und hatte ein schma
les, faltiges Don Quichotte-Gesicht,
von dessen Kinn ein weißer Knebel
bart wie ein dicker Eis-zausen her
unlertropftr.
Das Frühstück stand unberührt. Die
slackernden Flammen des Kammer
ers warfen zitternde Reflexe auf den
kostbaren Perserteppich, sie spi elten
sich in dein schweren Silbergechirr,
das aus der Damastdecke des Tischcs
stand und in ihrem Schein golden
ausgliihte. —- Jules Baroche sah
nichts von der ganzen Herrlichkeit
Zeit einer Stunde starrte er hin
über nach dem Städtchen Beauville.
das er bis vor kurzer Zeit als Bur
germeisier beherrsciit hatte. Seine
Van lag etwas von der Stadt ent
fernt neben seiner Fabrik auf einer
Anhöhr. Er konnte ganz Beauville
überblicken, dag, in einen feuchten
Dampf gehüllt, han« schwarz und
cnelancholisch vor itnn lag init dem
viereckigen Nathauinursn in der Mit-»
te. Wie ein drohend erhobener Find
ger sah dieser Turm von ferne aus.
Jules Baroche stöhnte. Jetzt toar es!
halb zehn Uhr und er hatte sich feier-?
lich verpflichtet, unt zehn Uhr den«
Major Rocholv zu erichießen, den die!
Deutschen als OrtstommandantenI
etngeseht hatten und der sent als-l
nungslos dort im Rathaus saß. I
Wie ein wüster Traum erschien ihml
das fett. Jrntner wieder fuhr er sichs
mit der feuchten Hand über die Stir-l
ne, als ob er damit seine Gedanten
wegwischen könnte, aber sie knicken
nicht. Wie ganz anders hatte er sich
diesen Winter vorgeslellt! Als der
Krieg ausbrach, war er eben im Be
griff gewesen, sein Amt als Bürger-·
meister niederzulegen Die Leinwand
fabrit, die er aus kleinen Anfängen;
zu hoher Blüte gebracht hatte. solltei
sein Schwiegersohn übernehmen, der«
seht irgendwo in einein Schützengtcp
ben lag und et selbst wollte einmal
ausatmen, zum erstenmal seit dreißig
Jahren einen vergnügten Winter in
Paris verleben. Alles war nicht«-,
alles hatten ihm die Preußen verdor
ben mit ihrem Krieg. Wenn sies
durchaus die Welt erobern wollten,
so konnten sie damit doch wenigstens
warten, bis er gestorben war.
Wie er sie hnszte, diese Preußen,
Diesen dicken, alten Major, der da drü
ben in seinem einstigen Amtszimmer
snsk und mit einem Dutzend Land
wehkleuten ganz Benuville in der
hand zu haben glaubte. —— Glaubte!
Varoche pfiff durch die Zähne· —
litlaubteH Seit Wochen war die
istntriotenlign heimlich am Wett, jeder
Mann in Bcanville ir)tts-.ie, was er zus
tun hatte, wenn die Stnkmgtocke län-;
M
tete. Wie ein Blitz mußten sie über
die tleine Besaßuiig kommen, die
hilsloo war, wenn der Kommandeur
sehltc. Mit Begeisterung hatte er
gestern abend, als die entscheidende
Sitzung der Patriotenliga in seinem
Hause stattfand, sich selbst erboten,
den Major aus sich zu nehmen« Es
war der schönste Augenblick seines
Lebens gewesen. Alle jubelten ihm
zit, drückten ihm die Hände, umarm
ten ihn. Ganz Frankreich würde
dein Beispiel von Beauville solgen und
sich erheben wie ein Mann, wenn erst
einmal an einem Platz reinii Tisch
gemacht war, wenn sie sahen, wie
leicht es qing.
Jetzt, im kalten Licht des Morgens
stiegen dem Bürgermeister allerlei Be
denken auf. Er war seiner Sache
nicht mehr so ganz sicher wie am
Abend vorher, als der schwere Wein
t
die Begeisterung mächtig aufslamneenf
ließ. Ohne daß er sich’g selbst recht
eingestehen mochte, bedauerte er fast,
sich so sehr in den Vordergrund ge
drängt zu haben· Er hatte noch nie
einen Menschen erschossen — das war
aiich so eine Sache. Würden seine
Hände nicht zittern, würde er nicht
den Mut verlieren?
te man nie sicher, wie so etwas auss
ging. Wenn etwa der Major zuerst
schoß? Juleg Baroche wurde ganz
talt bei diesem Gednlen.
Und dann wuß-.
Die Uhr über dein Kamin schlug
dreiviertel zehn Uhr. Mit einein
energischen Entschluß schlüpste Jules
Baroche aug seinem Schlafrock und
kleidete sich vollends an. Der Diener
brachte den lleberzieher, die Gumini
schiihe und einen Regenschirin. Als
er das Zimmer wieder verlassen hatte,
steckte Jules Baroche einen kleinen,
niedlichen Revolver in die Tasche, die
sich komisch bauschte, als stecke ein
Apfel drinnen. Gut, daß er sich we
nigstens von niemandem zu verab
schieden brauchte. Frau und Tochter
waren im Süden. Er wars einen
langen, schmerzlichen Bna auf ven
lieb gewordenen Raum und dann
ging er. Als die Haustür hinter ihm
ins Schloß fiel, schauerte er nerviis
zusammen. Er war fertig mit dem
Leben. Mit zögernden Schritten ging.
er hinab zur Stadt. Nur ein ganz
aufmerksamer Beobachter hätte mer
ten können, daß sic) in Beauville et
was vorbereite Es standen troh des»
Regenwetter-s mehr Männer als sanft:
auf den Straßen umher, die Jules!
Baroche mit gespannter Aufmerksam-!
teit nachbliclten Vor der Kirche,den1.
Rathaus gegenüber-, traf er Jean Lip (
barbe Er war ein kleiner, dickers
Mensch mit einem scharf geschnitte- i
nen Gesicht« der sich einbilde, ein!
Doppelganger des ersten RapolronY
zu fein und der nicht wenig stolz dar-s
auf war. Er hatte die Aufgabe, iinl
rechten Moment, sobald der Leim-we
ber mit dein deutschen Major fertig.
war, das Zeichen nun Lauten derI
Sturmglocle zu geben. Darauf war-!
tete er, die Arme iiber die Brqu ver
schräntt, und starrte in Die Luft. Irrt
leg Baroche begrüßte ihn
»Viel Glück, « iaqte L iharbr.T ann
zog er die Brauen how es fiel ihm
auf, daß Baroche treidevleich war. l
»Nun.'« fraate er verwundert
Jules Baroctie hörte die Frage gar
nicht, es laa ihm wie ein Nebel truf
allen Sinnen. tsine ungeheure Aus
regung hatte sich seiner bemächtigt, er
zitterte an allen Gliedern nnd beiasz
nur noch so viel Zelbstbel)errschnna,
das-, er geradeaug lief. tsr wuszte,
das-, er nmtehren würde, wenn er ietzt
nur erst stehen blieb. Sein Here
schlug wie ein Hammer. lfr stolpers
te die Rathaustrrppe empor, sah wie
durch einen Vorhang die Landweliri
leute, die in eine-n Petrterrezinnner die
Wache hatten und klopfte endlich im
ersten Stock an die Tür seines ein
stigen Amtsziiiiitters.
»Herein!« schrie drinnen jemand so
laut und energisch, daß der Bürger
meistet zusmninensuhr.
Der Mnsor war eben mit dem
Frühstück fertig. Der Diener stellte
das Porzellan auf einem Servierbrett
zusammen, als Jüleg Baroclse ein?
trat. Majot Nochow vertniillte rsie
Serviette, wars sie aus den Tisch undl
erhob sich. Er war groß und breit,l
mit einem glatt rast « «
Gesicht ’ !
»Ah, welche Ueberraschung!« sagtes
er liebenswürdig in nusgezeichneteinl
Französisch — ,,Willtominen, Herr
Bürgermeister! —-« l
Er schob dem Besucher selbst einenI
Stuhl zurecht, während der Dienerl
hut und Schirm des Bürgermeisters
nahm und schüttelte ihm kräftig die
Hand. Baroche setzte sich änng ch
Und widerwillig und deckte die Linlei
über die gebauschte Tasche, welche den
Revolvee barg· Rochow schob ihm
die gefüllte Zigarrentiste zu. Der
Fronzose wollte abwehren aber sei
ne Zigarre brannte, ehe er selbst nmfk
te, wie.
Jnles Baroche fühlte sich immer
unbehaglicher. Aus dem mächtigen
bartlosen Gesicht des Offiziers sehen
ihn ein Paar graue, scharfe Augen
ruhig und durchdringend an. Ner
vös wandte er den Blick und sah auf
die Hand des Alten, welche die Zi
garre hielt. Es war eine große
schwere Hand, wohlproportioniert, mit
starten Sehnen. Wen diese Hand er
griff —! Der Bürgermeister schauder
te, wenn er das zu Ende dachte.
»Nun darf ich wohl fragen, was
Sie zu mir führt?« Jules Baroche
fuhr auf, als ob er eben aus einem
Traum erwachte. Er fühlte, daß er
erblaßte, aber er nahm sich zusammen.
Er hatte sich eine große Rede zu
rechtgelegt. Nicht wie ein Räuber
wollte er den Major überfallen, den
ganzen Schmerz Frankreich-, die gan
ze Wut des Volkes wollte er ihm ins
Gesicht fchleudern, ehe er zum Revol
ver griff.
»Herr Major«, sagte er und ver
suchte. sich drohend zu räuspern,
»Nordsrantreich ist verwiiftet, die Be
wohner verarmt, die Industrie ver
nichtet . .
»Ja, ja,«' erwiderte Rochow, als
der Franzose eine kurze Pause machs
te, »das ist traurig, ich weiß es; aber
wir beide werden es wohl nicht än
dern können.«
»Unsere Industrie ist beruichiet,«
wiederholte Baroche, der den Faden
seiner Rede in der Erregung plötzlich
verloren hatte.
Der Major blies eine mächtige
Rauchwolte gegen die Decke. Er ver
stand nicht, worauf der Franzose hin
aus wollte. Er war doch wohl nicht
nur deshalb gekommen, um sich Trost
zusprechen zu lassen.
»Bei Jhnen hier ist es übrigens
nicht einmal so schlimm«, sagte er.
»Nicht schlitnm?« Baroche reckte
sich empor. »Nicht schlimm? Wie
können Sie das sagen! Wissen Sie,
was ich sonst verdiente und was ich
ietzt derdiene"?«
»Wenn Sie auch jetzt nur fünfzig
Prozent . . .«
,,Fiinfzig Prozent!« Der Bürger
meister wurde rot wie ein Krebs und
rang die Hände. »Wie können Sie
das sagen. Jch sehe zu! Sehen
Sie ...·"
Er stand auf, um näher an den
Major heran zu kommen, hielt die
sem die gespreizten Finger vor die
Augen und begann zu reden, zu rech
nen. Er rechnete seine Ausgaben vor
nnd seine Einnahmen, Punkt fiir
Punkt. Je länger er sprach, desto
mehr geriet er in Eifer. Er hatte die
Putriotenligu, den Revolver in seiner
Tasche, die Befreiung Frankreichs —
alles vergessen. Er Our nur Ge
schäftsmann
»Und so steht es mit allen von
uns, wir gehen zugrunde,« jammerte
er, »und wer hilft unsi«
Der Major begann zu verstehen.
»Du-«- ist ein merkwürdiget Un
full,« sngte er, nachdem er eine Weile
geduldig zugehört hatte. »Ich have
heute morgen,« er nahm ein großes
Kitvert von einem Seitentisch, »Auf-«
trag erhalten, große Warenvorröte zu
requirieren, und dachte eben darun,
Sie zu mir bitten zu lassen, als Sie
selbst kamen. Es handelt sich unt
große Wurenposten derscksiedenfter
Art«
Damit entsaltete er einen großen
Bogen vor JuleH Baroche, dem platz
ilich das-Z Sonderbare der Situation
zum Bewußtsein kam. Statt diesen
fMann zu erschießen . .. Ach wag,
dachte er. Und dann zog er sein No
tizbnch um sich die Aufträge zu no
tieren, die ihn persönlich anainaen.
Eine Stunde später ging es im
Nebenzimmer des ersten Wer mein-n
kants von Beauville sehr erreat zu
Jean Labarbe todte oor Wut und
nannte den Bürgermeister einen Vec
täter und einen Spion es fehlte we
nig, so wäre zuletzt hier noch Blut
geflossen. Aber es gelang, die beiden
zu trennen und als Baroche ungefähr
anszählte, was der Major alles
brauchte —- gegen bares Geld — wur
den die Gemüter bald ruhiger. Die
Diskussion nahm lzusehends sanftere
Formen an.
»Was sollen toir,« wagte endlich ein
Weinhändler zu sagen, ,,einen Men
schen erschießen, mit dem wir Oste
sehäfte machen können. Hast du nicht
gehört, was er an Wein kaufen will.
Wenn wir den Auftrag teilen . . ."
Seine Worte sollten Labarbe gu
ten, aber umsonst sah er sich Ietzt nach
dem Napoleonslopf desselben um.
Während noch die Wogen der Erre
guna hoch gingen, war Ladarbe ge
räuschlos verschwunden Jetzt war er
schon im Rathaus, denn er wußte,
daß est- anßer ihm noch ein Dutzend
andere Weinhändler in Beanvtlle gab.
-.-·
wer-listed
Urimfiihrcn kostet lseiinntliiti Neid
Hei-am ihr Trctnci nnd Barte-n;
Bett-under m Liedern eitlelsxlxiellz
Teuisciyland hat unste- Millmtdenl
(