Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, January 10, 1913, Zweiter Theil, Image 11

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    Iet;enidäimnernns
Novelette von Joachim Kühn.
«Gute Nacht, Onkelchenl Und ar
beite nicht mehr zu lange. Neulicls
trachte ich um zwei Uhr aus, da war
es bei dir noch immer hell. Der
kirrte Band eilt doch wirklich nicht
o.«
»Und ich sehe dich morgen noch?"
»Gewiß, beim Frühstück. Mein
Zug geht erst um elf Uhr. Und der
Kosser ist schon gepackt.«
Er drückte ihr stumm die Hand
nnd sah ihr noch, wie sie in ihrem"
hellen Sommertleid leichtsiißig den
Gang zu ihrem Zimmer hinnbhutkb
it- »Meine Arme - Marie... so
jung, so jung!« Und leise zog-er die
Tür hinter sich ins Schloß.
Aus dem Schreibtisch brannte ":-.e
Lampe. Folinrsn und NotizzetteL
Karten und Broschüren lagen überall
umher. dedeckten Tische und Stühle,
stapelten sich als Pseiler in den Ecken»
des Zimmerg aus: des Studiersl
zitnmers eines sehr tüchtigen Sie-l
lehrten, der trotz des schwülen Juli-’
abends eben erst die Feder aus der
band gelegt. um sich zu einer Mahl-«
zeit zu zwingen, und der in der nüch
sien Minute zurückkehren wird, uns
seine Arbeit wieder auszunehmen
Und doch: jetzt konnte er nicht arbei
ten, seht nicht. Alles war so schal
im Vergleich zu dem, was ihn beweg
te. Er sühlte. wie es in seiner Brust
hiimtnertr. Jhm wnr heiß zum Cr
sticlen. Nein, nicht arbeiten... nur
Ruhe hoben, sich sammeln, sich sus
sen können. Und er ließ sich sehn-er
in einen Sessel sollen, den leicht er
gmuenden Kopf in den Händen ver
grobend.
.-. .-. .
Vor drei Wochen war sie zu ihm
gekommen. Ein Brief ihrer Mutter
hatte sie bei ihm anaemeldet. Sie
müsse eine Kur gebrauchen drunten in
Pöstnen, da feien nur lranie Men
schen, die sich mühsam die Promena
de hinabschleppten und Anne - Marie
nur traurig machen würden. Sie
schickte deshalb dem Vetter das Kind
zu; sie werde ihn gewiß nicht fiisrcn
und sich im Hause niisilich zu machen
suchen. Unfchliifsiq hatte er dag
Blatt hin- und hergewandt. »Ja,
werden wir denn das machen tön
nen?« hatte er die aite Wirtschafte
rin gefraqt.
»Aber gewiß herr Geheimni.
Das blaue Zimmer steht doch immer
leer. Da rücken wir ein Bett rem
und einen Waschtisch, und bafta.«
»Und die Bedienung?«
»Bedienun,q? Das ist nicht so
schlimm. Das mach ich gern. Jst
ja so nett. wenn wir mal Besuch be
kommen, Herr Gedrimrai. Jmmer
so allein... und der Herr Verzie
rungsrat von neben-Jn, der früher
Ferien hat, wie wir, ist auch schon
obgereist.«
»Das ist es ja aeradr. Jch hsjbe
noch bis in den August hinein Vor
lesungen zu halten, ich erwarte au
ßerdem michtiae Archivalien und
Lorretturbogen und habe noch eine
Menge zu tun in diesem Monat, um
meinen vierten Band zu beenden.«
»Herr Geheimrat brauchen sich ja
um das Fräulein gar nicht zu tisrns
mern. Das übernehme ich schon al
les.«
J If s
Und eines Morgens war sie da. Jn
der Nacht eingetroffen, hatte sie ibn
nicht mehr stören wollen und war
gleich in ihr Zimmerchen geschlüpft
Er fand sie am Frühstückstifch den
sie aus der Veranda hatte decken las
sen, frisch und blond und errötend
über ihren eigenmächtigen Eingriff
in die Hausordnung und doch ganz
Feuer und Flamme siir ihren Ein
fall. Sie lief ihm entgegen, schüttel
te ihm die Rechte, führte ihn behut
sam an seinen Platz und zwitscherte
dazu eine Begrüfzunsn die zu niedlich
klang, um sie versiehen zu wollen«
Und während sie ilun rqsi Kasse ein
goß und dabei, oft von eigenem «La
chen unterbrochen, von ihrer Reise
zu plaudern begann, betrachtete er sie
ernst unv aufmerksam« und doch im
mer wohlgefälliger über das niedli
che, fröhliche Persönchen, das ihm
det Zufall da ins haus geführt.
Wann er sie zuletzt gesehen, wußte
er nicht mehr genan. Wahrscheinlich
vor els Jahren, beim Tod ihres Vu
ters, als er nach dessen finanziellen
Zusammenbruch der Cousine die
Kronen ersten Trauerwochen tragen
ls. Damals mochte sie ein lleinks
Mädchen von süns, sechs Jahren ge
wesen sein. Und seht war sie eine
junge Dame, die gewiß aus den Bist
len umschwärmt wurde. Jetzt gab
es hier so lurz vor Semesterschluss(
leider leine Tanzereien mehr, sonst
hätte er sie gern irgendwo eingestihtni
Sie hatte vielleicht gar schon einen
Verehrer? Er lächelte-» Wie einen
das alt macht!...
Aber dann leerte er hastig seine
Tasse und erhob sich. Es war schon
später geworden als gewöhnlich, er
mußte zur Universität Und wäh
rend er nach Mappe und hut griss,
hatte sie ein Brötchen zurecht ge
macht nnd schob ei ihm in die Rock
ta che. Er lächelte und strich ihr ge
s hrt über die Stirn. Er sriibstiickte
sonst nichts, aber so ließ er sichs ge
allen.
.Wann tonnnst du wieder, wie
Lange liest du, Onteli«
»Du ein Uhr, mein Kind. Alters
dann muß immer noch aus die Bibli
othei.« . . .
»Ach, immer studieren! Du solltest
mal hinaus in die Berge, wenn man(
in so einer schönen Stadt lebt .s
Aber zum Mittagessen kommst dini
nicht wahrs« »
»Ja zum Mittagessen bin ich wie-«
der hier,' s
Aber er hielt nicht Wort. Der
Bibliotheinr hatte einen alten Folis
anten gesunden. den der here Ge
heimrat unbedingt begutachten muß
te. Er blätterte darin, wurde gefes
selt, las. Blätterte weiter, verstand
nicht, schlug zurück Und plötzlich
stand der Bibliothelsdiener hinter
ihm und sagte halbleise und reinen
voll: »Es ist drei Uhr, Herr Geheim
rat. Die Bibliothet wird gestiloisen
Aber wenn der Band nach Hause ge:
schickt werden dars«
Er war daran gewöhnt, sich nicht
um die Zeit zu kümmern Wenn er
nicht da war, aß er eben später. Dis
machte nichts. Aber nnn erwnnsste
ihn jemand. Er raffte seine Notizen
zusammen und rief die nächste Brosch
le heran.
II III sit
Sie stand am weiß lactierten Gar
tentor und öffnete ihm. »Du kommst
aber schön pünktlich,« lachte sie.
»Ich habe mich arg versäumt.«
hast du noch nicht gegessen?«
»Ich werde mich an meinem schö
nen Pudding doch nicht allein delet
tieren!«
»Pudding?«
Sie hatte einen gekocht. Mitten
auf der Anrichte prangte er, ein wi
nig schief, aber tanariengelb und von
strotzendem Glanz. Sie setzten sich·
Und als er nach Tisch sein Arbeit-«
zimmer betrat, hatte sie da Ordnung
gemacht. Freilich, er liebte es sonst
nicht« wenn man ihn in seinen Pa
pieren nnd Büchern herumtramte,
aber von ihr ließ er es sich gefallen ..
O « sit
! Sie quälte und oerwöhnte ihn.
Sie drehte ihm Fididusse fiir seine
Morgen- und Nachmittagszigarre
reinigte sein Schreibzeug, steckte neue
Federn in seine Haltet, zog Lösch
Iblätter auf goß die Blumen auf der
IVerandm ließ die Markise herab,
lspielte auf dem Flügel die neuesten
Schlager vor, kümmerte sich in der
Küche, erwartete ihn, wenn er hem
tehrte s— immer vergnügt, immer in4
Bewegung, immer energisch und da
bei doch von echt weil-lichem Taktges
fühl — ein PrachtkerL Jhr zu sa
gen, daß sie ihn störe, brachte er nickt
iibers Herz. Nur nahm er in der er
sten Zeit zuweilen seine Bücher un
ter den Arm und ging still in den
Garten. Aber dann wurde er nach
denklich und gerührt und suchte sich
in seiner Art dafiir erkenntlich zu er
lweisen Er hatte nie Zeit gehabt für
Frauen und Galanterien, er war dar
an vorbeigegangen als an etwas Un
bedeutendem, Unhequemem, Zweckw
sem... Aber diesemltinde gegenüber
wurde er unsicher, ohne es sich in sei
ner in sich gelehrten Art merken zu
lassen. Er zeigte ihr die Scheus
wiirdigteiten der kleinen Musenstadt,
die Universitätsinititute, den Botanii
schen Garten, führte sie auf die
Bibliothek, liest sie eine Vorstellung
des kleinen Sommertheaters sehen:
und sie schluckte all diese fiir eine
Großstiidterin zweifelhaften Genüsse
mit lächelnder Tapferkeit herunter.
»Er machte mit ihr sogar einen Anz
-flug nach einem nahen herzoglirhen
Schloß, an das sich fiir ihn schöngei
stige Neminiszenzen an die Goethe
Zeit und fiir die aualvolle Erinne
rungen an eine heiße Seminarklasse
:und einen fabelhaft geschickten Litera
turlehrer knüpften. Und allmählich
verstand er es, sie mit seiner Wissen
schaft zu versöhnen, ihr eine scheue
Bewunderung fiir seine gründlichen,
durchdringenden, lebendigen Kennt
nisse einzuflößen, die die tiefsten Phi
losophischen Probleme beherrschten
und doch zur Würze selbst die Aneki
dote nicht verschmähten.
Eines Morgens merkte er. daß er
vor der Auslage eines Modeladens
stand und einen Spitzenkragen be
trachtete. Er sah hiihsch aus, uno
sie trug keinen. Sollte er sie damit
überraschen? Er erstand ihn und
barg ihn in seiner Aktenmappr. Er
zählte die Minuten seines Vortrags.
Und zu hause angelangt, legte er
das Paketchen leise auf den Tisch ih
res Zimmers. Errötend und gerührt
kam sie damit zu Tisch. »Was fiiri
eine Freude du mir da ge«macht hast,
Onlel!« Und sie fiel ihm um den
Hals.
Behutsam und sinnend strich er ihr
libee die Stirn..;
.«.
Er wußte, daß irgend etwas inl
ihm vorging. Er siand srüher aus,
um am Kassetlsch länger mit ihr za
snmmen sein zu können. Er begann,
aus seinen Anzug zu achten, hielt sich
strasser; er trua sich mit dem Ge
danken, sie ihrer Mutter selbst zurück
zubringen. wenn die Zeit um wäre.
Er zögerte, schwankte. Als der An
sang des August immer näher rückte,
saßte er den Entschluß, seiner Cou
sine zu schreiben, sie solle 5Kam-Ma
rle selbst abholen, um sie noch ein
paar Tage mehr um sich zu haben.
Er taute aus in dieser Aussicht und
wurde unruhig, wenn er daran dach
te, daß er sich von ihr trennen sollte.
Und als dann dte Antwort der Cou
ssne einlies, sie könne nicht kommen,
Ame-Watte solle mit ihr in Baden
Baden zusammentreffen, wo sie sich!
von Pösihen erholen wolle, wurde er
inne, daß er dieses Stück Jugend
nicht mehr von sich lassen könne, das-,
er ihr Lachen und ihre Scherze, ihre
Erzählungen und Aufmerksamkeiten,
daß er den Druck ihrer kleinen, festen«
Hand und ihre schmiegsame frische,
junge Gestalt neben sich und ihr gu
tes, topseres kleines .t’siameradenhes.-zl
brauche, um weiter zu leben.
Und morgen reiste sie ab·..
Er stand auf und begann schweren
Schrittes im Zimmer hin und her zu
gehen. Es war spöt. Er achtete
nicht daraus. Er mußte mit sich ins
reine kommen. Aber wie, wie? Der
Mutter schreiben, er könne sie nicht
schicken, weil er krank geworden sei
und sie ihn pflegen müsse? Fast
stimmte es... aber es war eine
Ausslncht, und das lag ihm fern.
Oder sie habe sich den Fuß vertreten?
Das würde der Mutter Sorge ma
chen Sekbst mit ihr irgendwvltin
abreisen, der Mutter entgegen? Er
konnte es nicht, die Universität hielt
ihn zurück. lind er mißbrauchte da
mit vielleicht das Vertrauen, das sie
in ihn gesetzt.
Er trat ans Fenster .. Den Brief,
durch den sie Anne-Marie nach Ba
den - Baden ries, brauchte er nicht
erhalten zu haben. Und gleich dar
auf merkte er, wie er tief und deisz
errötete. Rein, er vermochte es nicht.
lind während er in die Julinacht
hinaussanm die schwül und schwarz
zwischen den Bäumen hing, stieg ver
Gedanke in ihm auf, sie zu heiraten...
groß und ruhig und selbstverständ
lich, wie entlcheidungsvolle Gedanken
immer groß und ruhig und selbstver
ständlich sind. anohl, er wollte sie
zu seiner Frau machen.
Er mußte sich setzen, fuhlie sich
von einer schönen Zärtlichkeit feierlich
bewegt. Seit gestern abend wußte
er, dafz er sie liebhatte, nicht mit ie
nem jäh aufflammernden lecken Ju
gendenthusiasinus, der alles besitzen,
alles entzünden möchte, um ebenso
schnell zu verfliegen und sich einein
anderen Gegenstand zuzuwenden,
sondern aus der tiefen, scheuen und
schmerzlichen Neigung des alternden
Mannes heraus, dem ein junger
Mensch, der ihm sein Leben mittrai
gen und reicher machen will, mehr be
deutet als nur ein flüchtiges Aben
teuer, der fühlt, daß ihn noch einmal
das Schicksal herausreißen will aus
seiner gelehrigen, egoistischen Ein
samkeit, um ihm banale, heilige All
tagspflichten aufzuerlegen, Pflichten
und Rechte . . .
Banale und doch heilige Alltagss
fslichtein Mitarbeiten dürfen am
ebendigen Leben als Gatte als Va
ter... Kinder erzkbem Tiefen sind
Höhen menschlichen Lebens durchzu
inessen, Sorgen und Freuden, Leiden
und Wonnen tragen wie andere, an
allein menschlichen Geschehen empor
wachsen, in allem menschlichen Gesche
hen sich vertiefen, zweieinig kämpfen,
zweieinig berauscht sein und bluten
und arbeiten und sterben und im Le
bendigen weiterleben, wenn auch die
ser Körper zerfiele...
Er blickte um sich, als habe er ge
träumt. Wo hatte er bisher gelebt?
Wie hatte er gelebt? Bücher, Zettel,
Staub, eine tote, egoistisch abgegrenz
te Kleinwelt, die nichts gemein hatte
mit dem Schaffen der andern, eine
Welt, die sich aus Büchern aus
baut, um neue Bücher zutage zu för
dern, ein ewiger Kampf uni den
Wortlaut des Textes, blasse, kindlich
einseitige Rekonstrultionen verschobe
ner Gestalten, in denen nichts mehr
von der tausendfältigen Komplizierti
heit moderner Menschenpulse, ein
Handwerk wie alles aiidere... ein
warmer Mantel für Einsame, die
nichts Besseres wisseii...
Eine heiße Welle flutete durch sei
nen Körper Wie jung er sich noch
einmal fühlte! Er wollte um sie
werben. Und mit einem glücklich sin
nenden Lächeln setzte er sich an oeii
Schreibtifch, um seiner Eousme zu
beichten, wie es um ihn stand. Wohl
mußte er sich nun für Monate von
dein Kinde trennen, aber danii....
Er überlas noch einmal, was er ge
schrieben, und lehnte sich, die Augen
schließend, zurück. Jetzt schlief sie
und wußte nichts von dein einsamen
Kampf, den er hier durchsochten. Und
morgen?..·
Er träumte vor sich hin.
Und plötzlich schrak er anf. Würde
sie dann einverstanden sein? Würde
sie denn ihr junges, blühendes Leben
an ihn fesseln wollen für immer?
Und durfte er denn überhaupt daran
denken, sie zu der Seinen zu machen?
Durste er es denn überhaupt?
Er stieß den Sessel zurück, nahm
seinen Rundgang wieder auf, vie
Hände auf dein Rücken getreu-In die
Gestalt gebeugt. Was wollte sie ooin
Lebeni Was verlangte sie von ihm?
Was durfte sie denn erwarten? Und
wie würde feine Cousine urteilen?
Er fühlte, wie eine heiße Zärtlich
keit ihn durchströmte, die jede ruhige
Ueberlegung zu ersticken drohte. Er
warf sich in den nächsten Sessel. Nur
nicht sich fortreiszen lassen in diesem
schweren Augenblick Er tupfte mit
dem Taschentuch über die feine, hohe,
feuchtbeperlte Stirn, als könne er
wegircklcherh was da drinnen arbei
tete.
Wie würde seine Cousine urteilen?
Und in demselben Augenbiiit
durchzuckte es ihn, daß er verzichten
»müsse aus seinen Traum. Nicht,
Iweil ihm ihre Mutter etwas in den
»Weg legen würde: das war nicht zu
befürchten. Jm Gegenteil. Und ge
rade dieses »Im Gegenteil« zog zwi
, schen ihm und dem Kind eine unüber
schreitbare Scheidelinte. Seine Cou
sme war, ohne daß sie es zu empsi n
den hatte, materiell von ihm abhitn
)gig. Sie hatte seinerzeit einen «-Of
fizier geheiratet, einen hübschen, ta
jlentiertem leichtsinnigen Menschen aus
twohlhabender Familie, der früh den
Abschied genommen, um seinen Pas
sionen zu leben, der dann aber in ge
wagte Grundstücksspelulationen ein
eingetreten war, die ihn im Laufe der
Jahre finanziell völlig erschöpft hat
ten. Das tleine Vermögen seiner
Frau war bei der Ordnung der Ver
hältnisse darausgegangen, ein Leiden
war hinzugetreten, der Tod hatte ihn
seinen Zusammenbruch nicht lange
überleben lassen. Seitdem unterstütz
te er seine Cousine durch jährliche Zu
wendungen, die ihr und ihrer Toch
ter im Verein mit ihrer kleinen Pen
sion ein behagliches Leben gestatteten.
Und darum durfte er es nicht wage-«
sie um 5Llnne-Tllaries band zu bit
ten: ihre Entscheidung würde nicht
frei sein.
Er stand auf und trat schwer ai
mend zum Fenster.
-·- , ts
Basis-ten . . . verzichten, mo er Im
dazu entschlossen, einen Strich zu set
zen unter das Eremitendasein, daz
er bisher geführt! Und hatte sie ihn
denn nicht auch lieb? Er senkte schen
den Kopf. Hatte sie ihn denn nicht
auch lieb? Hatte sie ihn nicht all dir
Wochen hindurch umpflegt und uni
hätschelt und ihm in seine verstaubte
Büchergruft ein wenig Sonne von
da draußen hineingetragen? War das
wirklich nur die aus Dankbarkeit und
Bewunderung gemischte, sich selbst san
unbewußte Schwarmerei einer Consi
ne, eines sich seiner Macht noch unbe
wußten Kindes? Was es keine Lies
be? Konnte ihre Neigung nicht reifer,
tiefer, ernster werden? Sie war ja
noch so jung
Er strich sich über das Haar. Und
selbst wenn sie ihn lieb hätte: er
durfte sie nicht an sich ketten. Jn ih
rem Alter konnte sie noch nicht über
ihr Schicksal entscheiden. Und in
zehn, zwanzig Jahren? Er lächelte
schmerzlich. Was dann? Nein, er
durste es nicht. Sie glücklich zu fe
hen, ihr jeden Stein aus dem Wege
zu räumen, ihr eine Verbindung zu
ermöglichen, nach der sie sich sehnte,
ihre Kinder auf seinen Knien zu wie
gen... Das mußte ihm genug sein.
Jhr Leben mit dein seinen zu ver
knüpfen, wäre Verbrechen gewesen an
ihrer heiligen, frischen, einzigen Ju
gend, für die er ihr keinen Ersatz zu
bieten wußte als die tiefe, zage Liebe
eines alternden Herzen5... Es hiesz
verzichten . ..
Er atmete schwer. Auf seiner Stir
ne perlte der Schweiß. Schiner trat
er an den Schreibtisch und drehte den
Brief zu einem Fidibus Er fchwelte,
flammte auf, zerfiel. Aus. Er
löschte die Lampe. Und dann öff
nete er die Fenster und beugte sich
hinaus. Es war heis-, zum Ersticken.
Jrgendwo rieselte ein Brunnen.
Er war allein.
Und morgen reiste sie ab...
III II Ist
»Schon dreiviertel acht Uhr! So
geht es nun, wenn man zu lange ar
beitet, Onkelchen. Aber es nützt ja
gar nichts, wenn man dich bittet
Wie abgesponnt du aussiehst; ein
Glück, daß es bald zu Ende ist mit
der alten Universität... Dann hast
du Ferien bis zum November und
machst eine große Reise nach Italien
hinein... verdient hast du es dir!
Sie hantierte laut und slink und
fröhlich aus dem blintenden Fun
stiickstisch umher, schenkte ihm den
Kasse ein, warf mit kühnem Schwung
den Vögeln aus den Stufen der Ter
rasse ein paar Rrumen ihres Brüt
chens zu und schob sich die Orangen
marmelade näher. »Sonst bekomme
ich nämlich auf der Reise Hungeri«
setzte sie zur Ertlärung lächelnd hin
zu, als sie feinen Blick aus sich ge
richtet sah. Er nickt-. nur freundlich
und rührte still und nachdenklich in
seiner Tasse. Seine Gedanken waren
weit, weit entfernt...
Ja, er fühlte sich anaearissen, er
wolle nach Italien aehen, um neue
Kraft, neues Interesse zu gewinnen
siir seine Arbeiten. Und er brauchte
sie, um sein erst bis zum vierten
Band gediehenes Monumentalwerk zu
Ende zu sühren... Und dann stand
er mechanisch aus und ariss nach Hut
und Mappe. Es war Zeit, zur Uni
versität zu gehen.
Sie war ausgestanden und dankte
ihm mit stürinischer Zärtlichkeit für
die schöne Zeit, die sie bei ihm ver
lebt. Sie siel ihm zum Abschied um
den hals und drückte seine Hand an
ihren Mund. Er lächelte verloren,
strich ihr über die Stirn und wandte
sich zum Gehen. Unten drehte er sil)
noch einmal um. Sie stand leicht an
den Tisch gelehnt und winkte ihm mit
der kleinen weißen Hand nach. Und
er griss müde grüßend nach dem hat.
Das weiße Gartentürchen aber zit
terte noch halb angelehnt, als er
schon längst verschwunden war. Sie
mußte selbst hinuntergehen, um es
fest zu schließen».
Der Zeus-.
Erzählung von Paul Ginisth·
Es gibt wahre Begebenheiten, die
wie Romane anmuten. —
An einem Septembermorgen des
Jahres 1802 brach an einer elegan
ten Kutsche, als sie durch die irliindis
fche Stadt Tullamvre fuhr, ein Rad.
Der Jnsasse des Wagens. ein sehr
Istattlicher Herr in militärischer Uni
form, schien über die daraus entste
hende Verzögerung seiner Weitersahrt
äußerst bestürzt zu sein.
Während der Kutscher die Pferde
ausspannte, holte der Diener Hilfe
herbei.
Der Stellmacher, der den Schaden
besah, schüttelte bedauernd den Kopf
Der Diener gab seinem Herrn Be
scheid: »Herr Oberst, der Mann meint,
ein Tag wird kaum genügen, um die
Sache in Ordnung zu bringen!«
»Der Teufel hole die schlechten We
ge!« sagte der Oberst, »ich wollte
heute abend noch in Marlborough
sein. Jetzt sind alle meine Pläne zu
nichte
Er wandte sich an einen der Um
herstehenden: ,,Gibt es hier wenigens
eine anständige Herberge im Ort?«
»Gewiß, Herr Oberst«, sagte ein
tleiner dicker Mann mit jovialem Ge
sicht, »ich kann das mit bestem Ge
wissen behaupten, denn ich bin der
Schwiegervater des größten Gastwitts
in Tullamore. Wenn der gnädige
Herr erlauben, werde ich ihn dort hin
führen Jch bin sicher, daß der gnä
dige Herr zufrieden sein werden«
Der Oberst ergab sich in das Un
bermeidliche.
Jn einer kleinen Stadt erregt alles
Aufsehen. Als der Oberst in den
Gasthof kam, war sein Unfall schon
bekannt. Man bemühte sich um den
Osfizier, der schnell etwas sriihstiiäen
wollte.
»Wie soll ich hier nur die Zeit tot
schlagen?« sagte er zu seinem Wirt.
»Was gibt ek- in Jhrer Stadt zu se
hen, die, ohne Jhnen zu nahe zu tre
ten, mir recht öde erscheint. Wenn
Sie wenigstens eine Garnison hier
hätten!'«
»Leider haben wir keine« Herr
Oberst, aber vielleicht interessiert Sie
unsere Leinensabrikation?«
»Nein, danke bestens-, ich bin kein
Kausmann.«
Der Herbergswirt klopfte sich an
die Stirn, als wenn eine großartige
Jdee seinem Hirn entsprungen wäre·
»Etwaö wüßte ich doch, was den
gnädigen Herrn interessieren würde.
Wir haben jetzt Gerichtssitzungenz
heute wird ein großer Verbrecher ver
urteilt!« — Er senkte ein wenig die
Stimme und sagte mit leichtem Er
schauernt ,,(kiner von der Bande des
berühmten Kapitiin ·Quilth.«
,,Quiltv? Von welchem Regiment?«
»Ein Regiment?« Der Herr wollen
sich wohl iiber mich lustig machen? Es
ist doch unmöglich daß der Herr noch
nichts von Quiltn, diesem infamen
Schurken gehört hat, der schon so
lange unser Land unsicher macht und
nicht zu sassen ist.«
»Meiner Treu, ich kenne den Namen
nicht einmal. Ich komme vom Kon
iinent.«
»Aber jetzt haben wir einen seiner
Komplicen, einen gewissen Kelliä und
er wird siir die anderen büßen! Wür
de es den Herrn interessieren, der Ver
urteilung beizutvohen?«
,,J was, ich bin nicht neugierig
daraus, und so einen ganzen Tag lang
still dazusitzen . . . Indessen . . .«
Der Oberst schien sich eines besseren
zu besinnen »wenn es hier schließlich
keine andere Zerstreuung gibt, wird
mir wohl nichts anderes übrigblei
ben.«
»Der Herr Richter wird sich ge
wiß eine Ehre daraus machen, dem
Herrn Oberst einen guten Platz einzu
räumen. Jch werde ihn sofort be
nachrichtigen, die Sitzung hat bereits
begonnen!«
Der liebenswürdige Wirt begleitete
den Oberst selbst zum Gericht. Er
schrieb aus einen Zettel, daß Oberst
Lord Kinderney, der sich aus der
Durchreise durch Tullamore befand,
gern der Verhandlung beiwohnen
würde. Er gab den Zettel dem Ge
richts-dienen der ihn dem Gerichts
schreiber weitergab. Der Gericht-I
schreiber wieder iibergab ihn dem
Nichter, der geschmeichelt war, einen
Zuhörer von Bedeutung zu haben und
bereitwilligst dem Oberst in seiner
JNähe einen Platz anwies.
Der Angeklagte Kellis leugnete
hartnäckig seine Schuld. Jmmer wie
der versicherte er, dnß er on dem Ta
ge, on dem das Verbrechen, dessen
man ihn beschuldigte, begangen wur
de — einen Passanten auf der Land
straße beraubt und getötet zu haben
—- gnr nicht in Jrlnnd gewesen sei,
sondern weit entfernt, in Douvres.
Er beteuerte seine Unschuld in bered
testen Worten, er gab zu, daß der
Schein gegen ihn sprach, behauptete
nbet, dnsz die Untersuchung, die mit
seiner Festnnhme endigte, parteiisch
geführt worden sei. Indessen die Ge
schwokenen bejahten die Schuldfrnge.
,,Angeilagtek, haben Sie noch et
was zu sagen?« fragte der Richter.
»Ich wiederhole-, daß ich unschul
dig bin,« seufzte Kellis nieder-geschla
gen. Plötzlich hob er den Kopf.
»O mein Gott!« tief er, «ist es
möglich? Soll mir doch noch Gerech
tigkeit widersahten.«
»Was soll das heißen?" fragte der
Richter erstaunt.
« »Der Himmel selbst sendet mir feine
Hilfe!" rief Kellis beglückt ans und
zeigte aus den Oberst Kinderkreis, der
erstaunt war, so plötzlich mit hinein
gezogen zu werden. »Dort«, sagte
stellte-» ,,ist ein Herr, der meine An
wesenheit in Doudres an dem Tage,
an dem das Verbrechen begangen wor
den ist, bestätigen lann . . . Würden
Euer Gnaden hier erklären, daß ich
es war, der sein Gepiicl trug, als er
ans einein Schiff, das aus Frankreich
kam, ausstieg?«
Oberst Kinderney blickte ihn er
staunt an. -
»Ich kenne den Menschen nicht,«
sagte er, unangenehm berühi.
»Dessen bin ich sicher,« sagte der
Richter höhnisch. »Was für eine Un
verschämtheit von dem Angeklagte-m
Schweigen Sie!«
»Noch einen Augenblick, erbarmen
Sie sich!« flehte Krisis-, ,,erlauben Sie
mir, daß ich an den Herrn einige
Fragen stelle, von denen meine Frei
heit abhängt.«
Lord Kinderney machte aus seiner
Unruhe kein Hehl.
»Was soll diese Komödie!« sagte
er aufgeregt.
»Sie haben recht,« stimmte ihm der
Richter bei, ,,es ist tvirllich nur Ko
mödie!«
»Nur eine Frage«, drängte Kellis,
,,ist es nicht fünf Wochen und dret
Tage her, daß Sie, gnädiger Herr,
nach Donores kamen?«
Allerdings bin ich vor mehreren
Wochen dorthin gekommen, aber ich
habe natürlich das genaue Datum
meiner Rückkehr nach England nicht
im Kopfe«
,,Erinnern Sie sich nicht, daß ein
TMann Jhnen damals, als Sie ans
TUfer stiegen, bei Ihrem Gepäck halfs«
s »Wie soll ich mich noch heute an
meinen Gepiickträger erinnern!«
I »Sie erwiesen ihm damals die Ehre,
gnädiger Herr. einige Worte mit ihm
’zu wechseln,« fuhr Kellis in namenlo
ser Aufregung fort. »Er erzählte Ih
«nen, daß er Seemann sei und an
lBord eines Korsaren gegen Frank
jreich getämpft habe . . .«
» »Ich habe dem sicherlich keine Wich
ltigteit beigelegt,« antwortete der
Oberst angehalten.
Kellis schien feine ganze Uebertr
dungstunst aufbieten zu wollen, um
das Gedächtnis des Oberst auszufli
schen. Seine Augen glühten, als er
ihm eindringlich sagte: »Ich zeigte
dem Herrn damals eine große Narbe
am Schädel und hob dabei meine Pe
rücke auf.«
Der Angeklagte machte dieselbe Be
wegung und entblößte die Narbe.
l Der Oberst stutzig Sein bis dahiv
teilnahmslofes Gesicht belebte sich.
»Es ist wahr«, sagte er, ,,dessen
erinnere ich mich«
i »O du mein Gott!« rief Kellis er
Eregt aus. »Heler Sie rnir!«
l Helle Schweißtropfen standen aus
Fseinem angstvollen Gesicht. »Wenn
IEuer Gnaden das genaue Datum
lseiner Ankunft in Douvres feststellen
;iönnten, hätte der Gerichtshof keinen
Zweifel an meinen Worten mehr.«
: Der Oberst überlegte.
»Ich weifz es- nicht mehr, aber es
steht in meinem Notizbuch, das sich
noch in meinem Koffer befindet.«
Große Aufregung durchlief die
Menge der Zuschauer.
Die Sitzung wurde unterbrochen,
während man das Notizbuch herbei
holte.
Der Tag der Ankunft des Oberst
in Douvres deckte sich genau mit dem
Tage des Verbrechens. Nach und nach
kamen dem Oberst Kindernen auch die
näheren Umstände wieder ins Gedächt
nis zurück, so daß er bestimmt be
haupten konnte, das-, der und kein an
derer der Mann war, der ihm in
Douvres sein titepiick besorgt hatte.
Er legte einen Eid daraus ab. — Die
Geschiriorenen zogen sich von neuem
zur Beratung zurück und tamen dies
mal zu einem einstimmigen Freispruch.
Kellis wurde in Freiheit gesetzt!
s Eine Sammlung wurde zu feinen
IGunsten veranstaltet, um ihn fiir die
Tausgesiandene Angst zu entschädigem
kDer Oberst selbst mußte einige Ova
tionen annehmen, zum Dank dafiir,
idasz durch seine ;-—30ugenaugsage die
fgterechtigteit den Sieg davongetragen
, Atte.
Die Postiutsche war am Abend
wieder in Stand gesetz-i und der Oberst
konnte weiterreisen.
st- Il
der Wagen.
Ein Mnnn erwartete ihn dort und
stieg ein.
Es war Kellis.
»Nun,« sagte der »Oberst«,« ,,habe
Iich Dir nicht gesagt, daß ich Dir aus
ider Pritsche helfen werde, wenn Du
idas Pech haben solltest, der Polizei
iin die Hände zu fallean Jch verlasse
»die Meinigen nie! Ue·brigens,« fügte
er lächelnd hinzu, »Du sowohl wie ich,
Einige Meilen vor Tullmnote hielt
)
wir hoben unsere Rollen fnnios durch
: geführt.«
) ,,n«:pitän, ich win es Ihnen ewig
»danlen!«
AA
—— Günstige Konjunktur.
Hex-Dienstmädchen (zur Gnädigen, die
wegen eines Kleides in Ohnmacht ge
.fallen ist): ,,Gnä’ Frau, fest kriegst
der Herr mit der Angst zu tun; Sie
ilönnten ruhig mach einen Hut dazu
inehmenP