Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, August 16, 1912, Zweiter Theil, Image 9

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    Nebraska
Skaak5- Anzetger und J set-old.
- Jahrgang Thei« Nummer 1
S
du« tu die Zukunft.
Rufe nicht vergang’ne Tage,
Nicht oerfchwund’ne Zeit sittlich
Led' der Gegenwort und llage
Nimmek um verschwund’nes Glück.
Liegt die Welt doch vor dir offen,
Lenle kühn des Schiffes Mel,
Du follft kämpfen, dulden, hoffen,
Und erteichft dass ferne Ziel.
Weh dem Manne, der verzagend
Auf verfloßne Stunden schaut,
Der die Gegenwart vertlagend,
Nicht der eignen Kraft vertraut.
Der tnit Wehmut und doll Bangen
Rückwärts hält den Blick gewandt.
Glänzend liegt, du mußt’5 erlangen,
Vor die das gelobte Land.
Vorwärts, vorwärts, immer weiter:
Such« der Sehnfucht goldnes Vlies,
Dann ertömpfft du siegesheiter,
Was die Jugend dit verhieß.
Rufe nicht vergang’ne Tage,
Nicht verfchwund’ne Reit zurück,
Leb’ der Gegenwart und kluge
Nimmek um verfchwund’nes Glück
oLin Ytama auf dem
Alme
Rodelle von G. A. Mattinezg
Zuoitia.
Der Wind hatte sich vollständig ge
legt, und das Segel hing schlaff am
Maste des Bootes herab.
Juan Manuel band es nicht fest.
Er griff nach den Rudern und durch
schnitt mit kräftigen Schlägen das
Wasser. Aber er hatte keine Lust, das
Boot vorn-auszutreiben Warum
auch? Seit einer Stunde beschäftigte
ihn nur ein Gedanke. — Vor wenigen
Minuten hatte er in seinem verhärteten
rzen den furchtbaren Entschluß ge
aßt, sich zu rächen.
Er« warf die Ruder von sich und
We sich nach dem Brig-des Bootes
um. Da saß der Jtaliener und zählte,
wohl zum zehnten Male« sein Papier
geld. Jn feinem Gesichte stand das
Lächeln der Befriedigung seiner hab
sucht.
»Wie kann er lächeln?« dachte Juan
Manuel und sah in das schöne Gesicht
des glücklichen Menschen.
. ilippo!«
» as willst Du, Juan Manueli
Aber Du ruderst fa nicht? Es isi
kaum noxeine halbe Meile bis zum
Hafen. ieh, dort auf dem Deiche
sann man Gabriela schon erlennen.«
Juan Manuel schloß die Augen, um
sie nicht zu sehen. Mit seinem Herzen -
hatte er schon gefühlt, daß sie da stand,
um das Boot zu erwarten
»So-, Mensch! Ruder! Jch gebe
Dir einen Peso mehr. Jch möchte
schnell da sein. Oder bist Du müde?«
»Nein. Jch will Dir etwas sage-U
»Was?«
Juan Manuel hob den Blick und
sah dem Jtaliener ·erade ins Gesicht.
Filippo überliefes alt.
»Ich will Dir eine Geschichte erzäh
len, Filippo. Jch bin Kteolr. Ein
Sohn der Lüfte, die da vor uns liegt.
Jn meinem Tauffchein fteht der Name «
meiner Eltern. Niemals habe ich ihn
gelefen. Jch will nicht wissen, wer sie
waren, weil sie nicht wissen wollten,;
was aus mir werden würde, als sie’
mich verließen, um in ihre Heimat zu- J
rückzukehren Die Leute sagen, Stier-i
nien fei ihr Vaterland. i
e nannten mich Juan Manuei.i
« noli-' nannte mich Gobriela, er-1
innerfi Du Dich? Auch Du nannteft
mich Manolo.
Die Eltern Gabrieles nahmen mich
auf. Jch war etwa vier Jahre alt.
Die Kleine war gerade geboren, und
ich wurde ihr hütet. Als fie zehn
Jahre alt war, wurde ich ihr Bruder;
ais sie fünfzehn alt war, ihr Bräuti
gam.
Wie fchön war sie! Laß mich eine
Minute daran denken, wie schön Ga
briela mit fiinf hn Jahren war-I
Und Juan anuel verbarg das
Gesicht in den blinden, die auf seinen
Knien lagen. Aber nur einen Augen
blick, dann fchiitielte er diefe Schwäche
von sich wie einen schlechten Gedanken.
In dem glühenden Blick feiner Augen
trocknete eine Träne, und das ge
braunte Gesicht des jungen Seemonns
hatte wieder die Gefühllosigkeit einer
Sphinx-.
Erfchrocken fah der taliener ihn
an. Er wagte nicht, de Lippen zu»
öffnen, au denen das Lächeln desj
glücklichen enfchen erstarrt war. ’
Juan Manuel fuhr fort
,, ch liebe sie mit meiner ganzen
Seer, und als sie eines Tages da
oben auf jenem Deiche allein stand,
sagte ich es ihr. Sie fagte, daß»
auch sie mich liebe, und wir verlobten
nnd. Nie ist ein Mädchen so geliebt
worden, wie ich Gabriela liebte. Jm
Dorfe oben lachten sie über mich und
flüsterten unter sich, Gabriela sei eine
Kotette. Wehe ihnen, wenn sie es mir
gesagt hättenl Jch hätte ihnen die
verfluchte Zunge ans dem Munde ge
rissen. Jch muß spanisches Blut in
meinen Adern haben. Man sagt, die
Spanier spielen mit ihrem Leben,
wenn sie von ihrem König sprechen.
Gabriela war meine Königin.
Als ich zwanzig Jahre alt war, war
sie siehzehn. Jch hatte gute Beschäf
tigung. Deshalb faßten wir den
Entschluß, zu heiraten. Aber da tam
die verfluchte Audhebung Das Los
traf mich, und war das s limmste:
ich mußte zwei zahre zur arine.
Anfangs glaubte ich den Verstand
u verlieren. Zwei Jahre, ohne sie zu
Zehen! Zwei Jahre, ohne ihre Stimme
hören, ohne in ihre Augen blicken zu
lönnem
Zu meinem Unglück behielt ich mei
nen Verstand. Da oben auf dein
Deiche, wo ich ihr meine Liebe gestan
den mite, nahmen wir Abschied von
einander.
»Manolo«, sagte sie, »ich will auf
Dich warten, und wenn Du zweihun
dert Jahre fortbleibst!«
Ich glaubte ihr, drückte ihr die
Hand und ging.
Du, der Du niemals gelitten hast,
kannst Dir keinen Begriff machen von
meinen Leiden in diesen zwei Jahren.
hättest Du zwei Jahre nicht die Sonne
gesehen, nicht geatniet und keinen
Tropfen Wasser getrunken, Du hättest
nicht den zehnten Teil von dem gelit
ten, was ich litt.
Alles, Alles ertrug ich, weil ich sie
liebte. Es giebt Dinge. die man nur
erträgt, wenn man so liebt, wie ich es
tat. Meine Schmerzen waren Kinder
) meiner Liebe, und mein Trost war ein
iKind n.einer Hoffnung. Und ich hoff
)te, weil ich an Gabriela glaubte.
I . If
Endlich lehrte ich heim. Das Dorf
zwar dasselbe, das Meer, der Himmel,
,der Deich, der Fluß, die Hütten und
; die Felder-, Alles, Alles war fo, wie ich
Yes verlassen hatte. Nur sie! Sie war
Hundert-» Seit einem Jahre war sie ver
;heiratet. Du warst ihr Mann. Du,
mein bester Freund, der einzige, der
mir so nahe stand, daß er mich
»Manolo« nannte. seitdem nennst
Du mich Jucm Mem-elf
»Juan Manuel!«
..Schweig! Jch will weiter er ählen.
Jch überlegte nicht viel. Ich szprechh
weil ich muß. Das Schweigen würde
mein Jnneres ausdörren.
Vor einem Jahre lehrte ich zurück
·Seit einem Jahre bin ich stumm,
heuchelte ich ein lachendes Gesicht und
Lebensfreude. Seit einem Jahre
hoffte ich. . .
» Ja, ich hoffte; aber es war eine an
dere hoffnung als die von einst, die
mich tröstete; eine ganz andere hoff
nung; das darfst Du glausben!«
Man sagt, daß die Korsen Blut
rache üben; Du als Jtaliener wirft
das wissen; und daß sie sich rächen,
und wenn auch tausend Jahre darüber
vergehen. Man sagt auch, daß die
Araber niemals eine Beleidigung ver
.aessen· das weiß ich selbst, weil ich
spanisches Blut in meinen Adern habe,
oder, besser gesagt, arabisches.
Wenn ich an mein Herz von früher
denke, möchte ich rasen. Es war von
Gold, und jeyt ist es von Eisen.
Ich- der ich weinte beim Anblick ei
nes oerwundeten Hundes, tonnte nicht
weinen, als ich ersuhh dasz Gabriela
mich verraten habe, weil ich ein armer
Kahnschisser war und Filippo ein rei
cher Pächter. s
Jch fühlte nur, hier innen, daß et
was zersprangen war
Ein Jahr ist darüber vergangen.
Gabriel-a und Du, und Alle, die mi
lachen und trinken sahen, glaubten, i
habe vergessen. Jch bin Araber; ich
bin wie die Korsen. Tausend Jahre
könnte ich aus Rache sinnen. Jch habe
Glück gehabt. Ein Jahr hat mir ge
nügt. Die Gelegenheit ist glänzend!«
Juan Manuel stand aus.
»Filipvo«, saate er, aus die Miste
i nd, »du steht Deine Frau. Jch
Er ute A en. Sie wartet aus
uns, as hel t, sie wartet aus Dich.
Sie hiilt ihr Kind im Arm« und hat
unser Boot schon bemerkt. Könntest
Du bis dahin schwimmen-i Es ist et
was mehr als eine halbe Meile . . .«
I s O
Das Meer war still und ganz un
beweglich. Wie ein Rahmen von Blei
umgab die glatte Fläche das wie et
starrt daliegende Boot. Die Sonne
leuchtete wie eine silberne Scheibe und
entstirbte durch ihren Strom von Li t
das satte Blau des himmels. D
Atmosphäre war durchsichtige wie ein
Bergkristall und ließ in r Ferne
klar die Linie und alle Einzelheiten
des Dricheö erkennen.
Von Furcht gepackt, sah der Italie
ner Juan Manuel mit einem starren
Lächeln an.
»Was willst Du tun? Jch kann
nicht schwimmen!«
Umso schlimmer iir Dicht Jch ru
dere nicht weiter. nn Du die Kiifte
erreichen willst, mußt Du fchtvimnien«,
erwiderte Juan Manuel mit eisiger
Stimme, als ob er die Formel des
Todes verlese.
»Ich kann nicht«, widerholte Fi
lippo.
»Dann wirst Du mit mir unter
gehen«
»Juan Manuel!«
«Sieh!'·
Und der junge Schiffer schraudte
am Boden des Bootes schnell eine
Schraube los und warf sie ins
Meer.
Filippo starrte die Oeffnung an
und sah, wie das Wasser eindrang und
lanfg am stieg. Bot Schreck schrie er
au .
»Juan Manuel! Laß mich nicht
umlomment Nimm all dies Geld!
Fünfhundert Pest-BE
»Für Geld haft Du Gabriela ge
f laust.« «
s »Ich gebe Dir tausend Pesos, st
aebe Dir mein ganzes Vermögen.
Rette mich!«
»Wozu? Mein Vermögen war Ga
krielin und Du hast es mir gestoh
en.«
,,Habe Mitleid, Juan Manuel!«
»Hattesi Du mit mir Mitleid?«
»Ich wußte nicht, daß ich Dir so
weh tat!««
»Du liigst! Du warst mein vertrau
tester Freund. Du mußtest, daß ich
Gabriel-a iiber Alles liebte, und hast
sie mir seia gestohlen. «
»Ich stahl sie nicht. Sie wollte
mich; und ich war schwach.«
»Schwach? Frauen dürfen es sein,
Männer nicht. Wenn sie eine Kotette
war, weshalb wurdest Du zum Ver
riiteri Du, mein Freundl«
»Ja-an Mannen Bei Gott, höre aus
Dein gutes Herz!« -
»Schweig!« - V D- I
Dis Boot sank immer mehr-. Juan
Manuel stand aus einer Bank und sili
seinen Nivalen mit sinsteren Blicken
an.
Der Jtaliener hatte verstanden.
Diese Rache war seit Langem vorbe
reitet. Es war unnütz, aus Mitleid zu
hossen. Besser war es, nach einem
Brett zu sehen, um sich zu retten.
Sein irrer Blick siel aus die Ruder.
Juan Manuel ahnte seine Gedanken,
wickelte schnell die Ankertette um beide
Ruder und wars sie ins Meer.
Nur die Bönke und der Mast blie
ben übrig. Der Jtaliener versuchte sie
loszureißem Unmöglich.
Berzweiselt kniete er in dein steigen
den Wasser des Bootes nieder.
»Juan Manuel! Verzeiht Mein
Tod kann Dir nichts nünem Wir wer
den beide sterben. Verzeih mir um
Gabrielcks willen!«
Aber Juan Manuel hörte nicht aus
ihn. Mit gekreuzten Armen vorn am
Zug stehend, den Blick sest aus die
serne Kiiste gerichtet, glich er einer
Statue aus Granit; blind, taub und
« stumm.
Ein Wutansall packt-e den Italiener.
der glühende W sch, ihn zu erwür
gen, und er siü sich aus ihn. Aber
der junge Schis hatte damit gerech
net.
»Das ist umsonst«. sagte er. »Du
bist wassean und ich habe ein Mes
ser.« Und eine scharfe Klinge sbliizie
in den Strahlen der Sonne.
Die Zähne Filippckg tnirschten nor
Wut, und wie ein erschrockenes wildes
Tier, das die Stabe seines Käfiqs
durchbrechen will, umklammerte er den
Mast, trallte seine Nägel in das Holz,
schüttelte ihn wie wahnsinnig und biß
wütend hinein. Aber der Mast bewegte
sich nicht.
,.Verilucht!« schrie er außer sich.
Und immer tieser sank das Boot in
das ruhige Meer, das teilnahmlos
Zeuge« dieses schrecklichen Dramas
was.
Besser aus einmal sterben, als lang
sam den Tod herankommen lassen.
Ganz im Banne seiner eigenen Ge
danken, hörte uan Manuel kanni,
daß ein Körper ins Wasser fiel. Das
Meer hatte sseinen Nivalen verschlun
gen.
Bald nahm ed auch ihn aus. Schon
war der Kahn bis zum Rande voll
Wasser. Als es seine Brust bespiilte,
streckte er die Arme der Küste entge
gen, an der Gabriela stand, und sank
mit seinem Fahrzeug in die Tiefe-.
»Juki Manuel hatte seine Liebe ge
ra .
Auch aus der Bühne der Welt ver
mag nur der eine Rolle zu spielen, der
»eine Rolle durchführen kann.
— osl otisroriacfh
Von allen farbenprächti en Erin
nerungen einer an neuen -indriiclen
unsagbar reichen Reise in Spa
nien haftet ieine so fest in meinen
Gedanken wie das Erlebnis dieser
wie ein neues Weltwunder anmuten
den Schöpfung Philipps Il» die hoch
oben als Königs-barg im wahrsten
Sinne des Wortes auf den Felsen des
Guadarranragebirges über den Jahr
hunderten thront.
Jeder Stein dieses Klosters er
scheint wie der Ausdruck eines herri
schen Willens, der in die Un
wirtlichkeit des zertliifteten Hoch
gebirges den Zauber der Kunst
versetzte und in einem einzigen Deut
Fmal alle Rätsel und Schauer einer
ewiespaltigen Kultur offenbar werden
ließ. Keinen andern Platz gibt es aus
dem Boden von Kastalien und weit
darüber hinaus, wo sich der Geist des
spanischen Königetums so restlos ent
hüllt wie hier. Dieses architektonische
qunderwerk ist wie der Schlußstrich
i
tunter der Aera des- zweitenPhilippJ
der Hier, in enger tlösterlicher Zelle,den
Tod erwartet hat und doch tein Ende
finden tonnte intTriiumen seiner gren
zenlosen Macht; der in Frühlingsta
gen als- tottranter Mann auf denBer
gen dort oben die Sonne begierig ein
gesogen hat und mt dem milden Blick
weit über die grenzenlose Ebene zu fei
nen Füßen hingeiret ist, um selbst an
den Ufern des Manganares, über dem
Madrid das Haupt erhebt, einenPunlr
der Ruhe nicht zu finden, wo der Re
flerion ein Halt geboten war,
Seltsam betlemniend wirtt schon
der Gedanke, dem dieses Denlmal sein
Entstehen verdantte: »Um nichts als
eine Zelle zu haben, wo er seine milden
Glieder zu Grabe tragen iönne«, ließ
Philipp, fern in der Einöde eines un
aaftlichen Gebirges, die Räume dieses
Baues emporwachsen, der halb Kloster
sen sollte, halb auch Ausdruck höfischer
Repräsentation Weltentsaaung begeg
net sich hier mit dem letzten Aufslackern
eines unbefchreiblichen Prachtgefijhlsx
ginquifitorische Armut mit dem uner
hörten Reichtum des verschwendeten
Materials. Und tief unten, unter dem
Hochaltar der geräumigen, von italie
nischer Klassizität beseelten, edel und
rein. ohne äußern Prunt riesenhaft
dimensional emporgesilhrten Kirche, ist
die Gruft der Löniqe, dies einzige
Pantbeon, wo die Herrscher Spanieus
begraben liegen. Kein anderer Ort ift
auf der Welt, wo man so die Nähe des
Todes empfindet wie hier, nichts, wo
einen die Vergänglichkeit auch der höch
sten irdischen Macht ähnlich ergreifen
kann. Jn diesen von reichen veraoldeten
Bronzen eingefaßten Sätzen, die un
tereinander in die Wände des achtecli
aen Marmortempels eingeordnet sind,
schlummern die sterblichen Ueberreste
aller spanischen Herrscher und ihrer
Gemahlinnen, von Karl V. angefan
gen. und die erdrückende Pracht des
edeln Materials umfängt in dem um
ftifchen Halbduntel die Sinne wie die
ferne Ahnung eines grenzenlosen
Schlosses-. Nur wenige der sechsund
zwanzig Vuuupyuge sinu uou ums-c
Goldlettern auf dem breiten Schild an
der Votderfeite. Sie stehen zum Emp
fang des lebenden und der nachfolgen
den Herrscher bereit. Tsirekt über dies-r
30 Fuß hohen Königsgrust befindet
sieh der Hochaltar der Klosterlirche.
Die ist der eigentliche Mittelpunkt der
ganzen Anlage; mächtig und weitge
gliedert, von den edeln Formen der
Hochrenaissance getragen, mit einer ge-v
waltigen Kuppel über der Vierung, de
ren vergoldetes Kreuz 280 Fuß iiber
dem Boden aufragt, stimmt sie zu einer
majestätischen Heiterkeit, die alle Ge
danken an ihre tlösterliche Bestimmung
im Nu vergessen macht. Jn diesem nach
der Form eines prächtigen Kreuyeg er
richteten Dom des Escorial leuchtet der
Sonnenglanz des Zeitalters Phi
lipps ll. vielleicht am augenfälligsten
Hier verweben sich roie von ungefähr
die Sehnsucht nach dem Göttlichen und
die Maieftiit des königlichen Willens-,
der dieses Gotteshaus erstehen ließ, in
eins.
So leicht wird man der zwiefpälti
gen Stimmungen nicht Herr. die einen
beim Durchwandern des Eseorial auf
S ritt und Tritt gefangen nehmen.
S on der erste Anblick der großarti
gen Schöpfung den man kurz vor dem
Einlaufen des Zuges in die am Fuße
des Berges öftlich des alten Dorer
gelegene Statinn nussängt, spottet jed
weder Reminiszenz an Eindrücke, dic
man vielleicht sonst einmal irgendwo
ähnlich gehabt hat, und je mehr man
sich durch die königlichen Gärten hin
durch der Höhe nähert und die aus dem
Granit von Peralejos ausgeführten,
von nur kleinen Fenstern durchbreche
nen Mauern mit dem Blicke umfängt.
um so geheimnisvoller schein diese J
Schöpfung eines Königsioillens vor .
r
der Phantasie emporzuwachsen. Zur
Hälfte Gesängnis, zum andern Teile
auch Burg, Palast und Dom in eing,
im ganzen aber wie Verllärung eines
unsagbar aszetischen und gleich reprä
sentativen Zeitolters — das etwa um
schreibt die Visien dieser einzigen Klo
sterstadt, hinter der mit schneebedeckten
Firnen die steilen Höhen des Guadari
rarnagebirges als grandiöse Kulisse
gelagert sind. Jn der Tat« Die archi
tektonische Form des Escorial scheint
durch die Natur selbst bestimmt wor
den zu sein, und die zertliifteten Fel
senhöhen des Gebirges geben der
menschlichen Schöpfung erst die richtige
Isolie. So wird rnnn die Vorstellung
nicht los-, als habe die Landschast selbst
in einer eigentwilligen Laune rnit ge
waltigerEruption ihrer schlummernden
Kräfte ihre Schlünde geöffnet, um die
Königsburg ans Licht emporzusiihren,
die nun schon seit Jahrhunderten wie
der letzte und höchste Ausdruck ihres
ersten Bewohners und des durch ihn
vertörperten Kultnrabschnitts in der
Menschheitsgeschichte allem Verfalle
trotzt.
H Und dann ist man dort oben ange
langt, nach einer Wanderung durch
bliiienscdwere Gärten, wo ein versteck
tes Lustichloß, die Casita del Principe,
die sich irn Zeitalter der Grazien ein
nur aus Geniesren bedachter Nachkom
me desselben Philipp im Zauber welt
entrückter Vermunsrbenheit erbaute, ei
nen Augenblick die Sinne abgelenlt —-—
und man nähert sich mit Herzllopsen
dem hohen Seitentor, das über einer
niedrigen Freitreppe im Patio de los
Neues« zwischen schweren dorischen
Säulen in die Kathedrale einffiihrt.
Und Stunden braucht es fortan zum
Durchschreiten von Kirche unterirdi
schen Gängen, wo die Jnsanten und
Prinzeisinnen in weißen Marmorsär
gen schlafen, von schmalen Steinsties
gen. die in die prächtiaen Gemächer
des ersten Stockes emporsiihrem die
ganz die Merkmale ihrer hosischen
Bestimmung haben und mit Gonaschen
Gobelins überreich dekoriert sind —
znm Anslosten ferner eines sast mu
sealen Reichtums von Werken und
Denkmälern aller Kunst. Und wäh
rend sich die Phantasie laum mit der
einen Seite dieser im Egeoria ver
schlossenen Schönheit zurechtarfunden
geht die Wanderuna weiter auf enarn
Stiegen direkt hinunter Zu den Zim
mern Philipp-A die in der Tat nur
einer engen Zelle gleichen, lvo das vom
Denken müde Haupt des Herrschers zn
ewiger Ruhe gebettet ward.
An diesem Orte, der das Maß der
Gegensätze bis zum äußersten erschöpft,
hat die Pietät alles unberührt erhal
ten, wie es in der Sterbestunde des
großen Königs gewesen ist. Hier im
Erdgeichoß, wo der Blick durch But
zenscheiben hindurch veraeblich dieWei
ten dieser grenzenlose-n, bezioinaenden
Natur sucht, ariißen läraliche Bilder
von den Wänden, die sieben Todsiin
den des Hieronymus Bosch und einige
Dürersche Zeichnungen Hier sieht man
den robgezimmerten Schreibtisch mit
dem hohen Ledersessel davor und dane
ben einen andern Stuhl, aus dem ho«
ben einen andern Stuhl, auf dem Phi
liPp das lranle Bein zu strecken pfleg
t, AL-- s-.L-L
L--I I«--·«l«2 assAnikOo
Ic- ocht lustu unz- --«-1«»- Hs »·.«,»-Y.
Kruzifix gezeigt, das die lHände des
Königs im Gebet umklammerten, und
nebenan in einem engen Gange, der dt- »
relt zum Hochaltar derKirche hinführt. .
sieht man noch den alten Tragstuhl, int
dem derselbe Philipp seine letzte Reisel
zum Escorial eingetreten· Jn einer »
altovenartigen Vertiefung aber steht
unberührt von der Zeit das Bett, in
dem der König sich dem Tode vermähl
te. Die hintere Wand des Gelasses
hat eine fensterartige Oeffnung. durch
die der Blick aufs Allerheiligste auf
dem Hochaltar der Kirche traf. Ju
diesem Anblick ist Philipp gestorben
und frsigeworden von einer langen,
Krankheit, die ihm daf- Leben längst
zur Qual gemacht.
Die Wunderwelt des Esrorial hat
so bald tein Ende. Was allein die
Bibliothet an löstlichitem Besitz alter
Dtuclwetle und Handschriften um
schließt, grenzt ans Märchenhafte. Jn
den Kapitelsälen an der Südseite des
mittlern Kreuzganges befindet sich die
eigentliche Galerie, die mit den Schät
zen der Satristia zusammen ein klei
’nes Museum erkesenster Kunst aug
m·acht, die nicht nur auf Spanien be
schränkt gewesen ist. In demselben
Raume hängen neben den Meisterwer
len der Tintoretto, Tizian u. a. auch
Bilder zweier Künstler fast nebenein
ander, die, ähnlich wie derEscorial alsS
Architektur-, Symbole altfpanischer
Kultur genannt werden dürfen: Gre
cos hl. Mauriiius und Velasquez
Darstellung der Uebergabe des blutbe
fleckten Rockes von Joseph an seineu
Vater Jakob, das Pendant zur
Schmiede des Vulkan und wie diese
11630 in Rom gemalt. Man mag an
T——I.·-.
diesem Orte noch weniger als im Pra
do die beiden Künstler miteinander
vergleichen, die in ihren Temperamen
ten und ihrer Lebensanschauung zu
verschieden gewesen find, als daß der
eine überhaupt am andern gemessen
werden könnte. Aber an dieser Stelle
sind sie doch Inbegriff nnd höchster
Ausdruck ihrer Zeit, die in dem disco
när schaffenden Griechen Domenico
Theotocopuli. genannt El Greco, den
Borkiimpfer des triumphierenden
Machtqefiihles der katholischen Kirche
feben durfte, wie in Belasquez denVe
jaher des wirklichen Lebens nnd da
nach den aristokratifrhen Verkörperer
einzinartiaer höfiscber Kultur. Grec
ift mittelalterlich aron und start, (od-·
wohl feine Malerei der Gesinnung bei-«
nahe fpottet) der Wunder voll, die To
ledo, als neue Hochburg der christlichen
Kirche, in ihrer weltfernen Einsamkeit
auf dem Bergleael oberhalb des Talr
in einer nnbesrbreihlichen Natur noch
heute siir den Wanderer bereit hält;
Nelasquez aber versinkt refilos in Dem
Glanz einer andersgearteten Umge
bung, die mit neuen Lebensmaximen
den Zauber fpanischer Kultur und et
ner unerhörien Prachtentfaltnng ein
zufangen sich müht. Jn beidenKiinfb
lern aber lieqt tief und schier uner
grijndbar auch ein Stück vnn jenem
rnit Worten kaum auszuschdpfenden
Geheimnis- verboraen, das in denJah
ren zwischen 1563 und 1584 dem un
wirtlichen Guadarramaaebirqe mit den
Kosten von wohl 20 Millionen Pefetag
dieliönigsburg des Escorial abgetrotzt
hat.
Prof.Dr.Georg Biermann
q-s—--—
Dte Zustände tu der russtfchen
Arme-.
Seit qeraumer Zeit arbeitet eine
ganze Gruppe der Reichsduma, mit
dem Oltobristenfiihrer Gntfchlow an
der Spitze-, in der Presse hauptsächlich
durch die nationalistische Notvoie
Wremfa unterstützt, an der Beseiti
anna des .Kriea.-J!uinisters Ssuchomlii
nam. In diesem Kampfe werden Tat
sschen iilfreanstiinde in der Armee mit-s
geteilt, die wir mit allem Vorbehalt —
eie Verantwortlan den russitcben Au
tcsren iiberlassend — wiedergeben, da
Tit-, ob ülsertrieben oder nicht, des Jn
ieressesz nicht entbehren Der bekannte
Mitarbeiter derNowaje Wrernia, Men
sctntow, veröffentlicht einen Brief aus
per Armee, verfaßt von einem älteren
Offizier, der iiber reiche Krieasersahs
runa verfiiat und sich angeblich nur
aus Pflichtgefühl veranlaßt sieht, seine
Anaaben zu machen Die Rede Entsch
lows, worin dieser der Artilleriever
Haltung den scktvereii Vorwurf macht,
die Krieasbereitschaft der Armee zu
vernacltlässiaen habe bei den Puppen
leilen der aefährdeten Wesront an der
Deutschen Grenze kaum irgendwelchen
Eindruck aemacht. denn fiir die dorti
nen Offiziere seien dies alles Binsen
Ivahrheiten gewesen. Die Probemo
bitmacluma im vorigen Jahre in Su
hoalti sei überhaupt nicht lontrolliert
Twarden die Jntendantnr arbeite wo
lmaalicb nach schlechter als früher, bis
Ietzt seien z. B. noch nicbt die Hosen
fiir 1911 ausaeaebem die Stiefel seien
ein ensiaes Elend. Für die Maschi
llcslqelvkyke schll lcllle Busruru wr
lzanden, eine dicht an der Grenze ste
hende Schiitzenbrignde habe deshalb
ihre Maschinengewehre aus eigenen
Wagen untergebracht. Jn jedem Re
aiment seien nur zwei Maschinengei
wrhre fiir die Verwendung von Spitz
neschossen eingerichtet, die übrigen sechs
fiir die alten Patronen Die neue
Visierung sei den meisten Ossizieren
und Leuten unbekannt, so daß sie im
tkrnstfkille garnicht damit umzugehn
verstanden Wlihrend die Artillerie
eines deutschen Armeelorps über min
destens 152 Geschütze verfüge, habe ein
russisches Korps nur 108, und zwar
96 Kanonen und 12 Mörser-; Letztere
seien bisher nur in der Theorie durch
Haubitzen ersetzt. Aus 1000 Majo
nette kämen in Deutschland 6.8, in
Rußland nur 3,8 Geier-Sitze Bei der
Neugestaltung der Armee 1910 seien
zwar Abteilungen schwerer Artillerie
ausgestellt worden, sie beständen jedoch
bisher wie Gogols Tote Seelen —- nur
auf dem Papier, und Haubitzen seien
nicht geliefert worden. Ebenso sei es
mit dem Pioniergerät und den Beleuch
tung-Zusagen Die Aussiihrunnem in
denen auch hauptsächlich von den
schlechten Gratiaten, die häufige Rohr
lerpierer herbeiführten, gesprochen
wird, Granatenj die vielleicht in ver
lsrecherischer Absicht von ausländischen
Firhriken schlecht geliefert würden,
Ilingen in dem natioualistischen Appell
Bestellungen mehr im Ausland zu ma
chen und sich lediglich auf die Erzeug
nisse der russischen staatlichen und pri
vaten Industrie zu stätzen