Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, March 24, 1911, Zweiter Theil, Image 14

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Ein Roman E
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WReue Mensch-wen I
Pon A. flach
- - ----«-«-i-I
, les-. IortsetzungJ
Plötzlich raffte er sich auf, brannte
eine Crgarette an und trat näher zu
.Wir werben bald weiter müssen«,
sagte Freyung dann in dem Ton ei
nes vesorgten Bruders. »Es wird
, Mc das könnte Jhnen schaden,
- -Jtiulein Mathilde.«
gab sie lächelte wieder leise. Zeit
10 Uhr Morgens hatte er es vermie
desn. ihren Bornamen zu gebrauchen:
jetzt brachte er ihn zum ersten Male
wieder über die Lippen, folglich
»Gut —- brechen wir gleich ouf«,
sagte sie ruhig.
»Und wir sollen so attfbrechen." So
f-... ohne ....·««
»Was meinen Sie — »ohne?«
« Er antwortete zuerst nicht, dann
kam es zögernd: s
»Ohne uns wieder...«
»So sprechen Sie doch aus, Herr
Zretzung!« drängte sie.
-.Spw·ben!? — Sis: wissen ja, was
ich meine", versetzte er schon etwas
ärgerlich Also . . . ich meine. Sie
sind mir böse, wegen . "
»Ich — böse-? Fällt mir nicht ein«
Er blickte fis-e an und fah
eben einen schallhaften Zug von ih
fern Gesicht versehn-indem Mit einem
Male ergriff er ihre linke Hand und
tiihte sie.
»Ei, -ei«, sage sie tachetnd und zog
die Hand sachte zurück. Welcher
Rüctfall in die romantische Nitterzeit!
Wer wird einer Frau die Hand küs
sen —- die ist ebenso mit einer Epi
demie bedeckt wie die des Manne-J.«
»Sie sind ein böses- Mädchen«. gab
er zurück und riß ihre Hand wieder
an sich und preßt-e heiße Küsse da
kauf.
»Der verliebte Martin Freynna ist
eine batbtoniische, halb rührende Ge
sstalt«- sagte sie autmüthig scherzend
lnnd ließ ihm die Hand.
. Esr stieß sie pithiich mit scherzhas
tem Zorn zurück·
»Ver!iebt? O nein!'« ries er ans.
«Blog Si: find ein sympathi
Jscher Mensch und ein hübsches Mäd
Ichen dazu, und desshalb bin ich Ihnen
Lguh aus ganzer Seele. Und nun, aus
kund nach Hauses«
s Sie sprachen während der Fahrt
, zznr Staeion nur noch von gleichgül
k—«-tkigen Dingen, aber in vertraulich
Efreundschastlicher Weise nnd Mathil
Fe war zu ihm tieWrdiger denn
»F·
Jm AbtheiL das sonst leer war,
beschäftigten ihn- ossenbar ernste Ge
danken, er antwortete kurz und zer
streut aus ihre Anregunxn Dann
zog er die Augenbrauen zusammen,
kptcßte die Lippen auseinander, wie
wenn er rnit sich kämpfte, Und etwas
surüetdriingte, was er gern sagen
weilte
Mathilde beobachtete das Spiel
mit Spannung und sprach nicht wei
Plöhlich sagte er sichtlich bewegt: n
»Mathildez warum soll ich Verste
sens spielen Sie wissen ja doch,
was in mir vorgeht Ach, wie
glücklich wäre ich, wenn. ihr Vater
slöslich vetatrnen würde. Es kommt
sja sonhäufia vor, daß so große Fa
sbtiken plötzlich zufamcnenbkechen. Jch
vIII-site, daß auch bei Schwmdts das
Leben auf großem Fuße nicht gerecht
»fertigt, blos darauf angelegt sei, die
Leute durch den Glanz zu blenden.
EJQ habe Erlandigungen eingezogen
,, —- leidet ist der Wohlstand solid . ..
Run, das« Hinderaißfiele weg, wenn
Sie auf den elteelichen Mammon ver
E en, wenn Sie sich damit begnü
Issn wollen. was ich für Sie erarbei
Ien werde.«
Jhr war es bei diesen Worten deifzu
geworden. Wie gewaltig mußte seine
Liebe zu ihr sein« wenn er, der Stolze
und Kaltbliitige, so sprach. Und sie
war blos verblüfft über feine be
stimmte Voraussetzung daß auch sie
ihn liebte. Sie hatte ihm doch nicht
den geringsten Grund zu diesem Glau
ben gegeben, und fie empfand auch
nichts mehr für ihn als warme
reundfchaft. Wie konnte dieser feine
. hschologe so irren? Oder hatte er
Recht, liebte sie ihn am Ende, ohne
sich dessen bewußt zu sein? Es fie
berte sie bei sdiesen Erwägungen die
sie fortsests ohne ihm Antwort zu ge
ben. Um steh selbst zu prüfen, zwang
sie die Phantasie, ihr das .Leben zu
igen ohne die Existenz dieses jungen
arme-, und ej erschien ihr aller
dings langweiliger als jetzt, aber sie
empfand nichts von fthmerzlicher
sehnsucht Und sie rief die Phanta
sie wieder herbei und die mußte ihr
Martin darstellen mit blutenden
Schlafen- hingestreckt auf dein Rasen,l
M, mit nett-enden- Btick, nehm set-!
net leanthaft zuckenden Gestalt ndchj
eine dampfende Pistole . . .. und ihr!
« rz lratnpfte sich zusammer eine
hriine kam ihr in's Auge und ihre
Gedanken zersisrten rasch das
d der Phantasie und-in ihrer Seele
jubelte es: Ich liebe ihn. z
. Sie blickte auf —- er saß gebeugt
’ , ,. den ston zwischen den Rudern
. Z zxnßlosigleit in Blick und Miene. s
si »Amt« Mattigk« flüfieete sie für
ch.
Er erhob den Kopf, ergriff ihre
Rade und sah Mathilde lang innig
an.
Dann mutmelte et: »Da giebt es
nur ein-en Weg! Mathilde. Werden
Sie meine Frau und entfliehen Sie
mit mit das wird Ihren Eltern
ein schwerer Schlag sein, den sie aber
leicht-er überwinden werden« als wenn»
Ihnen in langwietigen Verhandlun
gen, die doch nicht zu versöhnlichem"
Ende führen können, täglich das
Hekzblut sickekt Sie, Mathilde. wüt
den sich enfach in diesen langathmigen
Kämper aufreiben«
Sie zitterte.
»Ach, meine arme Mutter ich
furchte. es ginge ihr ans Leben«
«Schade. iammserfchade", sagte er
tonlos. Er ließ ihre Hände los,
lebnte sich zurück und senkte die Art-s
gen.
Mathilde erschrak iiber den düste
ren Ausdruck seines Grsichtes.
»Ach, lieber tHerr Martin las
sen Sie mich erst ein wenig überle
gen . . .«
»Das sagen Sie aus Erbarmen mit
inir", erwiderte er dumpf.
»Das sage ich aug..« aus Liebe
zu Ihnen, hätte sie beinahe gesagt ..
»Verz1veiflung iiber die furchtbare
Lage, in der ich mich befind:, und in
der Ahnung. daß noch eine andere Lö
sung möglich sein wird...«
»Jhre Mutter, das fühle ich, wird
nie ihre Zustimmung geben es
giebt nur eine günstige Lösung
fort in die ferne Fremde. nach Ame
rita...iiberiegen Sie sich in Ruhe
die Sache, es drängt nicht so sehr...
drei, vier Wochen...'«'
Ueber den Aufschub der Entschei
dung freute sie sich ansagt-an sie hoffte
aus irgend ein Ereigniß, das den
Konflikt schmerzlos fiir die Eltern
und si-: selbst lösen würde. Vielleicht
wird die Stimmung bei der silbernen
bochzeit eine Ausgleichung ermögli-1
chen. Sie sah nun hoffnungssroher
in die Zukunft, und von der unmit
telbaren Sorge befreit, ward sie heiter.
Sie reichte ihm die hand:
»Mein Freund, hoffen Sie..«
»Ich dante Dir- Thildchen", erwi
derte er, ihr warm die hand drückend.;
Er feste sich zu ibr.
Sie sprachen jeht wenig.
Auf dem Stadtbabnhos wurde fiir
übermorgen Nachmittags, da sie am
nächsten Tage zu miide sein würde,
ein Zusammentreffen in einer Kondi
torei verabredet. Sie im hause be
suchen. mochte er nicht: es sei da un
gemiithlich siir ihn. Er preßte beim
Abschied einen heißen Kuß auf ihre
Hand.
I. K a v i t e l.
Herr und Frau Echwendt hatten
noch öster Veratvungm ehe sie end
giltia überein lamen, vor dem Feste
Mathilde teinerlei Bemerkungen zu
machen, sie ungestört mit Frevng
verkehren zu lassen, vorausgesetzt, dasz
sie nicht etwa gar zu Ueberspannres
unternimmt Später, wenn die Wod
nung wieder in Ordnung gebracht
sein wird- sollen Mutter und Tochter
nach Paris reisen, dann nach einem
Aufenthalt von mehreren Wochen an
die normanische Küste gehen, von
dort seinen Ausslug nach England
machen , von dort nach der Schweiz
fahren; dahin wird Herr Schwendl
nachtontmen um bei ihnen einen
Monat zu verweilen, die gemein
schaftliche Hzimreise sollte im Sev:
tember iiber Nizza, die Riviera ent
lang, durch Oberitalirn nud über
Wien erfolgen. Sie versprochen sich
großen Erfolg: Die Füll-: der ver
schiedenartigen Eindrücke würde Ma
thilden-«- Gedanken von Freyung ab
lenten, selbst dann, wenn ihre Gefühle
inniger wären, als Mathilde zugalx
Die Eltern widmeten nun ihre Aus
rnertsarnteit hauptsächlich den Vorbe
reitungen silr den 17. Mai, an dem
es gegen ihren Willen feierlich und
glanzvoll zugehen sollte. Es war
sieht gut möglich, aus der großen
Schaut von Freunden und Bekannten
eine kleine Gruppe auszuscheidew um
in engerem Kreise den Tag intirner
und Wiss-er zu begehen —- das
hätte viel Vemean hervorge
rusen. Nicht ganz zwei Wochen lagen
dazwischen, nnd es, »t« noch lehr viel
ZU UND-Es » Us Geschenk-,
seich- Us s ein-M zuge
W, men Ists sitt-It fertig,
ehe-leis « destellt W
Die Ist-MA- ihnen Beiden. ohne
daß sie ei essen-der sagten, fast zu
kurz und Jedes-dachte file sich mit
Unruhe, ob W die Anaebinde zur
rechten Zeit til-geliefert würden.
- Frau Johanna wußte nicht, was-i
das bedeuten sollt, daß Mathilde an«l
dem Tag nach dem Ausfluge anschei-;
"nend seht aufgeregt umherging und
»daß Freyung am Nachmittag weder;
»selbst kam, noch eine Botschaft schickteJ
;Sie wagIZ nicht zu hoff-en- daß sie sich
Tentztpeit hätten· Ach, das wäre gar
tin Ichötu So sehr es sie drängte, mit
»der Tochter zu sprechen, um aus it
gend einer Mien: eine Verstärkung ih
rer schüchternen Hoffnung herauszu
finden sie vermied es, ein Gespräch zu
suchen, sie wollte den Zufall walten
lassen.
Mathilde hieit sich meist in ihrem
Zimmerchen auf, in Gedanken vertiest,
und blickte nicht einmal um wenn die
Thur ausging und die Mutter eintrat
um nach ihr zu sehen, oder der Diener
kam, der zu Tische bat.
Am Abend traf ein Brief von Ro
bert ein. Er theilte der Mutter mit,
er wisse von einem befreundeten Mu
siker, daß Freyung Berlin zu verfas
sen gedenke.
Die Nachricht bereitete der Mutter
große Freude. Aus den Augen, ans
dem Sinn. Ach, möchte man den
Herrn Freyung zum erstenKapellmeis
fter in Melbourne oder fonft irgendwo
recht weit draußen in der Welt ma
chen, damit Mathitde nach der Miet
tehr von der Auslande-reife nicht wie
der in den gefährlichen Bereich feines
Einflusses gelangen tönne.
Am darauffolgenden Nachmittage
ging Mathilde fort, ohne zu fagen
wohin. und nach etwa zwei Stunden
tehrte sie mit gerötheten Wangen zu
rück.
Die Unterredung mit Freyung hat
te ihre Nerven in Aufregung ge
bracht.
Du haft wohl einen tüchtigen
Spaziergang gemacht, daß- Deine
Wangen fo glühen«, sagte Frau Jo
hanna leichthin: sie war doch nicht
immer im Stande, das mit ihrem
Gatten vereinbarte Snftem getreu
einzuhalten
»Ja —- im Stadtpart.'
»Wie tommt es denn, daß herr
Frebung fich gar nicht mehr bei uns
fehen lästi« fragte die Mutter in der
felben ruhigen Weite weiter.
»Ich weiß nicht Ich denke- er
wird uns bald befuchen«, erwiderte
Mathilde, da Frenung eben gefagt
hatte, er werde doch wieder einmal er
scheinen, damit fein Fortbleiben nicht
aufiallr.
Frau Johanna glaubte daraufhin
ihrem Mann später sagen zu dürfen,
das; iwiichen Mathilde und Frenung
eine Ahliihlung eingetreten sei.
»Ich wußte es ja«, osrsetzte trium
phirend herr Schwendt. »Nur nicht
jeingreisen, nicht mit Milde, noch mit
Strenge bei jungen Menschen ist
»der Heiltrieh der Natur start, das gilt
auch sür seelische Verivundungen.«
»Ach, ich möchte ja gern im Unrecht
! bleiben, wenn die Sache nur ein gutes
IEnde nimmt«. meinte sie hossnungsi
Isroh »Ich sreue mich auch nicht roe:
nig, das-, die letzten Nummern von»
»Gegen den Strom« nichts, auch nichts
einmal eine Anspielung enthalten, die?
Dir und Deiner Richtung seindlich
wäre. Ich wünsche sehnlichst, daß
Robert sich so auch weiter erhalte. zum
mindesten noch zehn, zwölf Tage.a
Mathilde war um sechs Uhr fort
aegangen, um, wie si: ungefragt er
klärte, einige Ginlöuie zu besorgen
und dann noch einen kleinen Spazier
gang zu unternehmen.
Das Verheimlichen und die Noth
liige waren ihr so- zuwider, daß sie
auch wirlich in einen Laden trat und
einen Gegenstand sauste, dessen sie gar
nicht bedurfte. Dann ging sie so
rasch als möglich war- ohne ins Lau
sen zu gerathen, in den Stadtgarten,
wo der Freund in einem selten ausge
suchten Roudeau sie erwarten sollte.
Knapp davor blieb sie stehen; er
sollte an ihrem hastigen Athern, an
ihren von dem raschen Gange geröthe
ten Wangen nicht erkennen, mit wel-»
cher Ungeduld sie hierher geeilt war.
Sie sand ihn schon vor, aber nicht«
wie es seine Art sonst war, ruhig auf
einer Bank siyend, ein Bein über dem
andern, sondern nervöö aus und nie
dergehend, mit geröthetem Gesicht und
suntelnden Augen
»Da bin ich, Martin . ..'«
Er eilte aus sie zu.
»Ah . . . . komm, sehen wir uns . . .
wie schön Du wieder heute bist! eine
leibhaftige Sylphidel Er geleitete sie
zu der sank, über welcher Fliedep
biische schilsend ihre reichbelauhten
ge ausbreitetem Sie nahmen
la .
athilde war verduti. Zum ersten
Male geschah ei, daß er ihr schmei
chelnde Worte sagte.
EIN-M- husi Du mich auch
L wirklich liebs«
»Ist mein Erscheinen Ihnen noch
nicht Beweis genua?« «
»Das steise »Sie« könntest Du
wahrhaftig schon außer Dienst setzen«,
sagte er sast unwillig.
«Mariin, ich will mich schon daran
gewöhnen will »- heimlich iiben
und Sie dann damit überraschen. Gut
Ding braucht Weile«
s Er schlang feinen Arm um ihre
Taille und tiißte ihr die Wange
Maihilde schrai zusammen vor Ueber
raschung und vor Freude.
»Komm. mein Lieb . . .. Du mussi
Dich entscheiden; die Frist, die ich Dir
aeseji ,,erscheint mir nun wie eine
Ewigkeit Jch kann nicht länger
warten je ehre. je lieber will ich
wissen, ob mir das Gliiet hold ist.«'
Sie legte ihre hand aus seineSchuL
ter.
.Bitte...deängen Sie mich nicht.
lass-en Sie mir Zeit ..; es ist etwas
Furchtbares- was Sie.·.toas Du
von mir derlangsi..."
ernung rückie näher an sie bekan,
er senlte seinen dämonischen Blick in
ihre Augen« ee sprach rasch, leis-. mit
Leidenschaft Die Worte überspru
delten sich, seine Stimme llang heiser
und sie bebte er rasste alles zu
sammen, was in ihm an Energie, an
Uebereedungstunst, an Leidenschaft
vorhanden man und redete aus sie ein
und ließ seinen glühenden Blick aus
sie wirken. ler ward ängstlich zu
Muthe: es lam ihr vor, als wollte er
die Liebe zu den Eltern mit erbar
mungsloser Hand aus der Seele rei
ßen. Wie eine junge Bitte sich im
Brausen eines Orlang hin- und her
beugt und durch schmiegsames Nach
gebsm dem drohenden Tode zu entrin
nen hofft, bis ein Windstoß sie plötz
lich ties unten am Stamm erfaßt und
sie zerbricht, so wehrte sich Mathilde
aegen die Uebermacht. welche von
Feenuna ausging, bis endlich unter
einem bestigen Ansturm ibr Wider
stand aebrochen wak... von Schmerz
übertvältiat und doch auch gliickselig
sliisterte ste:
»Nun gut, ich beuge mich Deinem
«Wrllen. Thu mit mir, was Du
willst.«
»Mein Mädchen«, fiiisterte er und
wieder küßte er sie lange auf den
Mund, daß ihr die Wellen des Bin
tes warm und weich durch die Adern
rollten.
»Am- morgen um l,-·-7 Uhr treffen
wir auf dein Hauptbahnhoi zusam
men«, sagte er, sich plötzlich erhebend.
»Ein Freund von mir in harnburg,
im Amte, wird uns die ftandesamt
liche Trauung ermöglichen. Jch muß
fort, habe noch allerhand Vorkehrun
gen zu treffen.«
Mathilde wurde es eiskalt
Jn wenigen Minuten hatte er ihr
alle Weisungen in Bezug auf die
Reise gegeben. nun beeilte er sich,
fortzugehen, um seinerseits die nd
thigen Vorbereitung zu tressen.
Mathilde tonnte nur langsam vor
wärts kommen. die Füße wollten sich
nicht vorn Boden erheben, schienen mit
Blei gefüllt. Sie schwantte nach
Hause. Sie wollte ruhig denken,
vermochte es aber nicht, ein Chaos
von Empfindungen und Gedanken
herrschte in ihrem Kopfe, sie wußte
nicht recht, ob sie wachte over träumte,
war sich nicht bewußt, wo sie sich be
sand und wäre um ein Geringes von
einem dahinsausenden Motorwageni
l
überfahren worden. Ein Herr hatte
sie im legten Augenblicke zur Seite
gerissen und sie wegen ihrer Unbe
dachtsamteit »Vertriiumte Gans« an-.
Mschrieen die Worte waren an
ihr Ohr getlungen wie irgend ein an
deres Geräusch, ohne das- sie deren
Bedeutung ersaßt hätte, sie wußte gar
nicht- daß der Ausruf an sie gerichtet
war.
Als sie zu Hause eintras. brachten;
sie die bösen Blicke ihrer Mutter und:
die unsreundliche Miene des Vaters»
lein wenig zu sich.
Das Abendessen verlies still.
Frau Johanna hob die Tafel aus.
»Mathilde, tomm ins Empsang
zimmer mit uns-. Wir haben mit Dir
ein Wort zu reden!"
Mathilde erwachte bei dem strengen
Ton der Stimme völlig und blickte
aus. »Ein Wort zu redeni« «Wir?«
Aber das schreckte sie nicht. Was lag.
ihr daran, sie stand noch ganz unter
dem Eindruck des bedeutungsvollen
Zusammentresseni im Stadtgarten,
sie sühlte aus ihrem Munde noch den
warmen Druck von Mariinö Lippen.
Sie begaben sich alle drei ins Em
pfangzimmer uno Frau Johanna
nahm diesmal absichtlich an dem
Tische in der Mitte unter dem Liister
Platz, wo auch der Gatte und die
Tochter niedersitzen mußten --- so
tonnte sie am besten Mathildens Mie
nenspiel beobachten.
»Vine, Mathilve,« begann sie. aDu
sannst nicht sagen, daß wir Dir nicht
ein großes Maß von Unabhängigkeit
gewährt hätten. Nun, Du hast das
nicht verdient, Du hast unser Ber
trauen getäuscht . . .'«
Sie machte eine Kunstpausr.
Mathilde nahm das gleichmiithig
hin sie erriithete nicht, erblaßte nicht
und man bemertte auch nicht, baß sie
etwa zitterte.
Mit erhobener Stimme und stren
ger Miene suhr die Mutter sort:
»Dr. Sellin tam ungesiihr vor einer
Stunde zufällig an vem Ronbeau im
Stavtgarten vorbei und sah Dich dort
mit Frevung sißen.«
«Ja! Und was ist da weiter ha
ran?" «
aWenn es nurbaz gewesen wäret«
ries zornig und voll Verachtung vie
Mutter. »Ihr habt Euch auch getüßtt«
Mathiide blieb bei alledem ruhig.
«Ja, ich habe mich von Martin tits
sen lassen, ich habe ihn getiißt — weil
wir uns lieben! Hat Dich denn Papa
nicht auch heimlich geküßt und Du
ihn, als es tlar wurde, daß Jhr ein
ander gut waret. Jch tann mir dies
zum Mindesten nicht anders denten."
Frau Johanna war btutroth ge
worden und ans herrn Schwendts
Gesicht erschien ein Lächeln der Ver
legenheit — ja, auch sie hatten sich
zum ersten Male heimlich, unter dem
gätigen Schuhe einer Weide mit her
abhängenden Zweigen an einem schö
nen Maienabend geküßt.
»Wie kannst Du auch nur Papa
und Freyung vergleichen, in einein
Athem nennen,« sagte nun wieder ge
saßt"die Mutter. »Dein Papa war
und ist ein Mann vorn edelsten
Schlage nnd —.«
»Das ist Freyung anchk« versetzte
Mathilde gereizt.
»Mein» Ansicht nach nicht,«" ent
gegnete die Mutter. »Du liebst ihn,
das trübt Dir das Urtheil!"
»Aber, Martia dasselbe hiitte man
damals auch Dir entgegen halten
tönnen. hättest Du daraus geachtet?«
Fortsetzung salgt.)
--.---—-O
Ver letzte Schreiben
--«
Aus dem jüngst im Tuileriengarien
enthüllten Denkmal Juleo Ferrys. den
die dritte Republil als den Vater des
obligatorischen, unentgeltlichen Schul
uiiterrichxs verehrt, ist ein iniirinorner
Hosenniay in andachtsvollem Ausblick
zu dem großen Staatsmann mit dem
steinernen Obertellnergesicht zu
schauen. Der Bildhauer hat es init
seiner Allegorie gut gemeint; aber
wenn der lleine Abt schiitz aus dein
Denkmal die junge Generation Frank
reichs repräsentieren soll, so bat es
damit in Wirllichleit noch gute Wege.
Hat doch der legte Nelrutenjabrgang,
der bereits der Segnungen der Ferru
schen Schulgeseszgebung in vollem
Umsang hätte theilhastig werden sollen,
nicht weniger als 14,W0 des Lesens
und Schreibens untundige Vater
landsvertheidiger geliesert. Eine Rus:
sin, Madame Lagardelle, hatte sich be
lanntlich vermessen, diesen Aualpbm
be eten ini Wassenroit die Anfangs
criinde des Abrs in kurzer Zeit spie
lend beizubringen; allein sie scheint bei
inteni Unternehmen aus unerwartete
Schwierigteiten, vielleicht auch bloß
aus männliche Eisersucht, gestoßen zu
sein« so dasz der Gouverneur von Pa
ris ihr den schmeichelt-often Lehrans
trag wieder entzog. Giibe es eine
Möglichkeit, in ähnlicher Weise eine
Statistik über Wissen und Nichtsvissen
des weiblichen Theils der Bevölkerung
auszustellen, so würden die Ergebnisse
vorauosichilich noch weit betriZblichei
ausfallen.
Wer in Frei-streicht lebt, tann allel
Tage, nicht nur in der Provinz-, son
dern in Paris, der Lichtstadt, selbst.
die überxaschendsten Erfahrungen nas
rnentlich bei dienstbaren Geistern ina
chen, deren llnlenntniß der elementar
sten Begriffe von Lesen und Schreiben
häufiq die Verständigung recht titzlig
gestaltet. Verfügt der Dienstherr über ·
einiges zeichnerisches Darstellunggvenl
mögen, so tann er wenigstens mit(
Hilfe einer Zeichensprache schristliche·
Bestellungen hinterlassen, aus die Ges
sahr hin, daß die Bilderschrist gele
gentlich salsch gedeutet und ein Ham
mel als ein Kalb auggelegt wird.
Schick unüberwindliche hemnmiise
stellen sich jedoch meist der Abrechnung
entgegen, silr die man ausschließlich
aus das Gedächtnis; und den guten»
Willen des hilssgeistes angewiesen
bleibt. Kein Wunder-, daf- unter sol
chen Umständen ein ange ehenes mit-s
telalterliches Gewerbe, das man höch-(
stegs noch in Spanien und Portugall
in Blüte glaubt, in Paris selbst noch!
goldenen Boden findet. !
Wie ein tulturhistorisches Denk-nah
ragt in der Nähe des finstern Frauen
aesiignifses Saint Lazare das alte,;
Jtriintliae, gegiebelte Lädchen eines ös
isentlichen Schreiberö iiber die gerade
jhöuserzeile der Nachbarschaft hinaus
in die Straße. hinter den verstaubten
Scheiben erwartet man einen in ver-:
mottetes Pelzwert gehüllten Mani
inetgreis zu finden, den die Jahrhun
derte verschont haben, wie er mit
zittriger hand den Gänsetiei in
schnörtligen Zügen iiber das Perga
ment führt. Man irrt sich· Der Ju
haber de- alterthiinilichen Lädchens ist
ein junger Mann. der die Besucher in
einen mit modernem amerikanischem
Bureaurnohiliar ausgestattetem elek
trisck erhellten Raum siihrt, unr dort
die Aufträge eines geschäyten Publi
tumi entgegenzunehmen Nicht ohne
Stolz nennt er sich zwar den Jetzten
ösfentlichen Schreiber«, allein das alte
Lädchen dient ihrn nur noch ais Aus
hiingeschild, denn es wertt das Zu
trauen der einsachen Leute aus dem
Volle. Sein Vater. ein rnittettoser
pensioniertet Ossizier, hat es schon
von einein andern Vorgänger über
nommen, und dem heutigen Besitzer,
der das erste juristische Staatsexamen
hinter sich hat, siihrt es stetig eine
reichtiche Kundschast zu.
Man glaiM nicht, toie oielseitig die
Thätigleit des lesten öffentlichen
Schreiber-Z ist! Am einträglichsten ge:
staltet sich siir ihn, dant dem zopsigen
Formeltrarn der Verwaltunggbureaui
kreise. die Aussertigung von Ersuchen
Bittschristem Bewerbnngen aller Art,
die alle in vorgeschriebenen Formen
aus vorschristgmiißigern Papier oder
aus Stempelbögen abgefaßt sein müs
sen, sollen sie Aussicht aus Beachtung
haben. Man braucht tein Analphadet
zu sein, tun angesichts all der schreck
hasten Papievtvirthscbast sich zu dem
Schreiber zu flüchten, der in solcher
Wirrsal amtlicher Vorschriften und
Kleinlrämereien Bescheid weiß wie ein
Lotse in gefährlichem Fahrwasser.
Der Lotse hat ein gutes Herz. E:
sieuert auch arme areise Leutchen, die
seine Dienste erbitten, durch die Pa
Piersluth der städtischen Bureaus sicher
in den ruhigen Hasen des Altersasyls
ohne Lotsengebiihr zu verlanget-.
Ersrtschende Abwechslung bringen
dem Schreiber die Besuche junaer
Weiblichteit. Erröthend riirten die
drallen Dienstmädel, die toletten Ar
heiterinnen mit ihrem Anliegen ber
aus, das er ihnen längst vom Gesicht
ais-gelesen hatt Ein Liebesbries an den
Schatz der bei den Joneut in Astita
dient oder oustvärts arbeitet. Den
Inhalt des Schreibens ltaben sie im
Kopf, aber der Schreiber versteht's
meisterlich, schöne Flosteln, ziervolle
Arabesten hineinzuslechten. so daß der
seene Schatz an Stelle naiven Gestatn -
snels eine prachtvolle Liebesertlärung
tu lesen kriegt —-- notabene. wenn er
selbst zu lesen versteht ! Doch selbst
Dichter nehmen. tvie das Raritätens
labinett des Schreibers aufweist. zu
dessen Künsten gelegentlich ihre Zu
slncht. Warum nicht? Müssen Poe
ten durchaus das Schreiben Gelernt
hoben? Auch Rassael tväre ein gro
ßet Künstler, auch wenn er ohne
Hände geboren wäre.
Dr Emil cchnltz
Die Nerven der Oeoßsiädteru
Fitr diese totntnt hauptsächlich die
Bernstzstellttng in Betracht Es sian
durchaus nicht alle Bernsctlktisen in
aleichem Maße bei den Verrenkt-anl
heiten betheiliat. Das wirr- man ohne
weiteres verstehen, wenn man bedetttt.
dass zwar einerseits-. jene-, Organ
durch vermehrte Leiitnna actriistiat
werden tatnt, dass aber anderereseith
die Gesaktr besteht, zu stnrten Ausar
derungen zu unterliegen-. So tann
man es begreifen, dast die Worts-arbei
ter verhältnismäßig ost von Nerven
schwache befallen werden· Aber auch
unter den Muntetarbeiterit sind Ner
ventrankbeiten seines-wegs- ttnbetannt.
ja sie find toeit häufiger-, ak- man ae
wöhnlich annimmt. Denn bei seder
Muskelarbeit ist incls das-; Nervensy
stem start beteiligt Ohne die Nerven
können die Muskeln nicht«- leislen. Da
aber beint gewöhnlichen tsandarlniter
die Tdätigteit degNervensnstems nicht
eine derartig intensive nnd anstren
gende wie beim Kauf-arbeitet ist, so ist
die häusigereBetheiliguna dir letzteren
bei denNervenkrantheiten verständlich
Gesährdet sind die Mtutelarbeitet be
sonders da. wo bestimmte ·E-ct,iiidlich«
keiten in Betracht kommen, die das
Nervensystem zu schädigen irr-eignet
sind. Hält man ,indelsen die hisbere
Betheiligung der Hirnartteiter bei den
Nervenkrankheiten seit, so muss sich
hieraus eine bedeutende Belatlnnsr der
Großstadt eraeben. weil die Hirnars
heiter in derGroskstadt protentnt we
senttickt stärker vertreten nd alr- itt
der Kleinstadt oder aus detst Lande.
Wenn übrigens. was öfters- tser Fall
ist« angenommen wirts, daß der Kon
kurrenzlantps in derGrossitadt lebhaf
ter und daß infolgedessen hier das
Nervensystem eher gefährdet ist ak
ans dem Lande und in der KleinstadL
so ist dies in mancher Hinsicht ein
JrrtksumJ Wenn der Großstiidtcr zur
Sommers-seit bei einer Wanderung
iiber die Berge in der Ferne ein Dörf
chen oder ein Städtchen lieqen sieht,
das aus dem Griin der Bäume her
vor-blickt, so preist er die friedliche Ly
ae senes Ortes, nnd er kann es sich
dann nicht vorstellen. daf- dort ähnli
che Kämpfe stattfinden Linn-en wie in
seiner großstädtischen Heizttatip Wer
aber eine Zeitlang in einein solchen
» Orte lebt, ertennt sehr hasti, dass-das
J Friedliche nur eine Täuschung war,
? dass menschliche Leidenschasten. Neid,
mir-grinst Hat-« Eise-sucht an dieser
scheinbaren Stätte des Friedens ganz
ebenso hausen wie in der nnrudigen
Großstadt daß ebenso tote in dieser
nueki dort die Menschen einander be
tet-dem dasz Egoisnrttö, HabsuchtLhrs
geiz auch dort die Triebfedern des
handelns sind.
Manch-n Menschen mißtram Inan.
weil man sie noch zu kurz, manchen
wieder. weil man iie then zu lang
kennt.
II P I
Bei den Feiedengsuniethandlun en
zwischen den Revoluticuäten und e:
Regierung von Hand-ums wurden
sechs Präsideixtfcheftslandädqlem drei
von jeder Seite, vorgeschlagen. Alle
ein halbes Dutend Ursachen für Mus
tige Revoluticuem "