Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, May 13, 1910, Zweiter Theil, Image 14

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    Heimweh
Roman von Yheinbold Ortmann
fu- FortsesungJ
19. Kapite l.
Bose sdrei Stunden hatte Eise
Ilemming am Vormittag nach der
Irinhsrdtschen Abendgesellschast trog
das schneidend kalten Nordostwindes
auf der Eijbahn ausgeharrt; dann
war sie durchsroren, enttäuscht · und
in der iibelsten Laune von der Welt
nach lhause zurückgekehrt Noli Art
ners Aus-bleiben hatte sie mit hellem
Zorn erfüllt, und sie war fest ent
schlossen, ihn sehr empfindlich dasiir
zu bestrafen
Denn es tvar der erste wirkliche
Gunstbrtpeis gewesen, den sie ihm ge
stern mit der Verabredung dieses
Stelldicheins gewährt hatte
Nicht aus jenem abgesteckten, spie
gelblant gesegten Theil des Flusses-,
eoo sich gegen Erlegung eines ziemlich
Eichen Eintrittsgeledes die vornehme
Welt dem lustigen Schlittschuhsport
hingab, und wo man zehnmal in je
der Minute an irgend einem neugie
rigen gafsenden Bekannten vorüber
glitt, hatte sie ja mit ihm zusammen
treffen wollen, sondern weit draußen
hinter dem Fährbause, wohin sich nur
noch vereinzelt die wirklichen Eis
lauf-Entbusiasten zu verirren pfleg
ten. Lange und dringend hatte sie
ihn darum bitten lassen, ehe sie ihre
nnsängliche, entschiedene Weigerung
zurücknahm Und so heiß war sein
Dank siir die endlich errungene Zu
sage gewesen, daß sie wahrlich aus
alles andere eher gesaszt gewesen wäre
als daraus, ihn nun vergebens er-;
warten zu müssen. J
Sie war der Macht« die sie bereitsz
Tiber ihn gewonnen hatte, zu gewißJ
als daß sie auch nur einen einzigenz
Augenblick an die Möglichkeit eineri
beabsichtigten Kränkung geglaubt hat-i
tr. Aber auch, daß er sich durch irgend
welche hindernisse hatte sernhaltent
lassen, konnte sie ihm nicht verzeihen»
Denn welcher Art auch immer diese4
Hindernisse sein mochten, es mußte ibri
als eine iible Vorbedeutung siir dies
Zukunft erscheinen, daß er nicht stark(
genug gewesen war, sie aus dem Weges
zu räumen.s Noch war ja tein Wort
von Liebe zwischen ihnen gesprochen
worden; aber seit dem Moment, da sie
sum ersten Mal als seine Tänzerin in
Ists Artners Arm geschmiegt hatte,
war Eise sest entschlossen gewesen, die
sen Mann siir sich zu gewinnen. Seine
bestechende männliche Schönheit, seine
sitt-senkte Lebenskraft hatten eine Lei
denschaft in ihrem Herzen angefacht,
deren sie selbst sich vielleicht bis dahin
tat-tm säbig geglaubt. Und wie eine
unzweifelhasie Gewißheit hatte sie
schon in jener Stunde empfunden. daß
es kein anderes Glück mehr siir sie
gab als ein Leben an seiner Seite.
Daß sie die Verlobte eines andern
Mannes war und er der Gatte eines
andern Weibes, hatte vie zevrenoe
Muth in ihrem Blute vielleicht nur
noch mehr geschürt, statt sie zu he
tämpfen. Denn der schwer zu er
ringende Preis lockte tausendmal sü
ßer als ein Glück, das ihr mühelos in
den Schooß gefallen wäre. Jhre eige-l
nen Fesseln zwar düntten sie so leicht
und schwach, daß es nur eines ernst
siehen Wollens bedürfen würde, sie zu
zerbrechen. Die Scheidewand aber,
die nach göttlichein und menschlichem
Geses durch seine Ehe zwischen ihnen
aufgerichtet war, ließ sich nicht trit
raschem Entschluß niederreißen durch
ein einziges entscheidendes Wort. Nuei
rückstchtiloser Muth und eiserne Be-!
harrlichkrit lonnten sie iiher das hin-«
« kernig hinweg zu einander fiihren.s
Und weil sie Rolfs heutiges Aasbleisf
ke- alt einen Mangel an solchem
Mihe deutete, war es für Eise Flan
Uing viel mehr als nur eine flüchtige,
rasch vergessene Unkraut-mutig Wah
rend sie sich ans ihren Heimweg gegenl
den schneiden-w Wintekwind vokwiikth
Xämpste, fühlte sie sich unausaesetzt vons
leer quälenden Furcht gepeinigt, daß
alle ihre berauschenden hoffnungen anl
der Schwäche dieses Mannes zuSchnwj
den werden könnten. Und in ihrer
Seete kein- d-: Entschluß, ihn aus«
itgend welche Art zn einem entschei-;
denden Schritt zu zwingen, wäre esi
selbst gegen seinen Willen. :
Für ihre eigene Person siirchtete sie
M öffentlichen Deian nicht. Sie
wußte, daß man ihm und ihr binnen
diesem verziehen haben würde, denn
He hatte ja Gelegenheit genug gehabt.
· nie man in der sogenannten »Gesell
Mast« über seine abenteuerliche Ehe
- sit der misehhliltigen Samonnerin ur
Oeiltd Idee auch die Gewißheit ei
.. net dauernden Iechtung würde sie
I Ist etsWt hohen. Für einen spl
Des M sehien the kein Opfer zu
Jesus ad sie var seien so weich-umlag
Mut-It des die Vorstellung, ihr
nie dein Elend einer andern ersz
In gessen, ihren Wänschen nnd
Borsiihen hätte eine andere Richtung
geben können. Das eine nur stand
mit voller Klarheit vor ihrem Geiste,
daß sie die Ersiillung ihres heißen
Sehnens nicht einzig abhängig machen
dilrfe von der größeren oder geringe
ren Willensstärle eines Mannes. dem
die Natur die Gestalt eines Helden
und den Charakter eines Kindes gege-.
ben hatte. Sie mußte eine Erklärung
herbeiführen, und wenn sie ihn da
durch ganz in ihre Gewalt bekommen
hatte, mußte sie ihn Schritt iiir Schritt
vorwärts drängen aus dem Wege, den
aue eigenem Entschluß zu gehen er
vielleicht niemals Muth genug hohen
würde.
Sie sand ihre Mutter nicht daheim;
aber sie hatte noch laum Hut und;
Jackett abgelegt, als ihr das MädchenJ
den Besuch des Doktor Artner meldetez
Einen Augenblick war sie in Versuch-4
ung, ihn unter irgend einem Wndi
abweisen zu lassen. Dann aber schäm-!
te sie sich dieser Anwandlung von
Feigheit, und stolz aufgerichtet· mit
einer Miene, die ihm auf den erste-il
Blick erkennen lassen sollte, was ihm
hier bevorstand, erwartete sie feinen
Eintritt Schon das erste Wort, das«
sie ihm zuries, sobald sich die Thür
hinter ihm geschlossen. war nicht viel
weniger als eine Kriegeerlliirung.
»Ich hatte die Absicht, Jhnen noch
in dieser Stundezu schreiben, here
Doktor Nun aber, da Sie unerwartet
getommen sind, mögen wir uns eben
sowohl mündlich aussprechen«
Hermann Artner blickte umher. alt
suche er nach einer dritten im Zim
mer anwesenden Person. Dann er
widerte er mit dem Ausdruck des Er
staunens:
»Wir sind, wie ich sehe. allein. Wes
halb also diese seltsame Art der Be
grüßung?«
»Sie werden sie nicht länger ielti
iam finden, wenn Sie gehört haben,
was doch seither over später einmal
gesagt werden mußte. Wir beide sind
in einein verhängnisvollen Jrrthum
gewesen, Dottor seiner, als wir
glaubten. siir einander zu taugen.
Und wir wollen dem himmel dani
har sein« daß er uns diesen Jerthum
erlennen ließ, ehe es zu spät war.'
Sie wollte den peinlichen Austritt
rasch und riicksichtslos zu Ende süh
ren um jeden Preis. Deshalb hatte
sie sich nicht gescheut. siir ihre Erklä
rung die schrofsste und verletzendste
Form zu wählen, volltammrn daraus
gefaßt, ihn in leidenschastlichem Un
rvillen aussahren zu sehen.
Ader die unmittelbare Wirtung ih
rer Worte war eine ganz andere, als
sie es oermuthet hatte. Wohl sah Her
mann Artner sie ein paar Seinnden
lang wie in sprachloser Berwundmung
an; dann aber erwiderte er vollkom
men ruhig:
«Das also ist des Räthfels Lö
sung! Schon seit einer Reihe von
Tagen warst Du rechtlch:ssen be-(
müht, rnich durch allerlei zarte Winkel
darüber aufzuklären, wie überdrüs-(
sig Du meiner geworden seist. Und!
weil ich zu schwerfällig war, die liess
benswiirdigen Andeutungen in Wor
ten und Blicken zu verktehery wirsst
Du rnir jeht die vernichtende Absage
ohne viel Federlesens gerade ins Ge
sicht. Ueber einen Mangel an Auf
richtigkeit wenigstens kann ich tnich
nun nicht wohl länger bellagen.«
Sie war für den Moment ein we
nig aus der Fassung gebracht durch
seine gelassene Weise. Aber im Grun
de mußte ihr ja diese Art der Anteils
andersetzung viel lieber sein, als eine
stürmische Szene. Und deshalb beeilte
sie sich« auf den von ihm angeschlagenen
Ton einzugehen.
»Sollte ich etwa nach Bormänden
Und Ausflüchten suchen, wo nach mei
nem Gefühl nur rückbaltlofe Offen
heit am Platze ifi2 Jch gefiede, daß
ich mich in einem schlecht bewachten
Augenblick von Jbrer fiiirmifchen
Werbung überrumpeln ließ, und dafz
ich eine Zeitlang wirllich der Mei
nung war, mehr als freundschaftliche
Gefühle fiir Sie zu hegen. Aber foll
ich nun vielleicht vielen Jrribunr da
fiir büßen, daß ich für den ganzen
Rest meines Lebens fterbensungliick
lich werde?"
»Nein, Fräulein Flemxning — das
follen Sie nicht. Von diesem Ausgen
blick an find Sie felbfiverfiändlich
vollkommen frei. Und ich gebe Ih
nen mein Wort-« daß Sie durch nichts
mehr an Ihre unbegreifliche Verwir
rung erinnere werden sollen. Aber
bevor ich gebe, habe-ich doch noch eine
Frage an Sie zn richten. Und bei
Ihrer Vorliebe für riickhalllofe Of
fenbeii, werden Sie mir hoffentlich
die Antwort nicht verweigern.«
Grasen Sie, herr Doktor —- und
W es möglich ist, werde ich Ihnen
ans-Mem«
«Eigentiich bade ich mich schlecht
ausgedrückt Denn nicht so sehr eine
Frage als eine Warnung ist es, die ich
Ihnen zurufen muß, ehe unsere Wege
sich trennen. Ich warne Sie, das
Spiel, das Sie mit mirs getrieben,
auch da zu wiederholen, wo es nicht
mehr eine Leichtsertigkeit, sondern ein
Verbrechen sein würde.«
»Herr Doktor!«
»Lassen Sie mich nur ausredeni
Wir wollen ja rückhaltlos offen ge
geneinander sein —- nicht wahr? Und
ich habe ein gutes Recht, so zu Ihnen
zu sprechen. Denn Sie wissen, »daß
es mein Bruder isi, an den ich dabei
denke.«
.hat er Sie zu seinem Vormund
bestellt? Oder ist er hilflos, um
FJhres Schunes gegen mich zu be
;diirsen?«
J »Jn eian gewissen Sinne —- viel
teicht! Und mit seinem Willen oder
odne ihn —- er soll dieses Schuses
theilhqftig werden. hüten Sie sich
vor Jllusionen, Fräulein Eise. die
nimmermehr Wirklichkeit werden
könnten. Mein Bruder befindet sich
ougentslicklich in dem Zustand eines
Bernuschten, dem die richtige Er
kenntniß der Wirklichkeit ebenso voll
ständig verloren gegangen ist, als das
Bewußtsein der Tragweite seiner eige
nen handlungern Aber er wird auf
diesem Rausch erwachen, glauben Sie»
es mir! Und ich will nicht, daß er in;
dem Augenblick seines Erwachens et-:
was zu bereuen habe, wzs durch teine
Reue geiühnt werden tönnte.«
«So wenden-Sie sich mit Jhren son-«
derbaren Warnungen an ihn, nicht an
mich!' fiel Else mit bebender Stimme
ein. .Jch habe so wenig eine Veran
lassung· mich vor Jhnen zu rechtferti
gen. als ich gesonnen bin, mich unter
dem Dache meines Elternbauses be
leidigen zu lassen.«
Hermann fühlte, daß er nach sol
cher Zurückweisung nicht länger hier
verweilen diirse. und wandte sich zum
Gebeu. Erst als er die Hand bereits
auf den Thürgrifi gelegt hatte, sagte
er:
.Leben Sie wohl. Fräulein Flan
rning! Und vergessen Sie nicht« baß
Frau Tuima Artner in mir einen
Freund — nein, einen Bruder bat,
der, wenn es noth thut, mit aller Ent
schiedenheit fiir ihre geheiligten Rechte
eintreten wird.«
Nur ein spöttisches Auslachen ant
wortete ihm; aber er hatte auch teine
Antwort mehr erwartet. Mit einer
leichten Verbeugung grüßte er Eise
zum lehtenmal und verließ das Zim
mer.
Noch eine Weile nach seiner Ent
fernung stand sie regungslos, mit
rasch athenenderssrust und zornent
stelltem Gesicht Dann preßte sie in
trotziaer Entschlossenheit die Lippen
zusammen und tlingelte dem Mäd
chen:
»Ist meine Mutter schon nach hxsuse
gelommenii«
»Nein, gändigez Fräulein!«
»Und wissen Sie vielleicht zufällig«
wohin sie gegangen ist?«
Auch daraus tonnte die Gestank
nur eine verneinende Antwort geben.
Und zögernd fügte sie hinzu, daß biet
Köchin sich schon wiederholt erkun-:
digt habe, wie es mit den-. Mittag-»
essen gehalten werden solle. Jeßt erst
siel ej Else ein, einen Blick auf die
Uhr zu weisen. Und sie sah zu ihrer
Ueberraschung, baß die Essenistunde,
die man an solchen Tagen. wo teine
Gäste da waren, im Ilemniingschen
Hause innehielt, bereits vorüber war.
T »Meine Mutter ist augenscheinlich
Iirgenbwo aufgehalten worden« Lai
sen Sie uns noch eine halbe Stunde
warten, denn ich liebe es nicht« allein
zu speisen-"
Aber auch diese halbe Stunde ber-f
ging, obne daß Frau Flennning zu
rückgekehrt wäre. Es buntelte be
reits, und in Eise begann sich allge
mach die Besorgnisz zu regen, daß ih
rer Mutter etwas zugestoßen sei. Sie
ließ sich das Mittagessen austraaen;
aber sie brachte nur wenige Bissen
über die Lippen. Und wiederholt liei
sie an den Fernsprecher, urn bei dieser
oder jener befreundeten Famile an
zusragem ob die vergebens Erwartete
sich vielleicht dort befande. War es
auch nicht gerade eine überschweng
liche tindliche Liebe, die sie sür ibre
Mutter empfand, so hatten sie sich
doch gerade in der letzten Zeit enaer
als bisher aneinander geschlossen, und
die Vorstellung. daß sie gerade in die
ser kritischen Zeit ihrer besten natiiri
lichen Freundin beraubt werden tha
te, erfüllte Eise rnit bangem Schrecken
Da endlich ertönte das wohlbe
kannte zweimalige Klingelzetchem und
gleich daraus erschien Frau Flemtning
in der Tbiir des Wobnzirnmeri. Aber
selbst an dern Tage, da sie die Nach
richt von Doktor Dalltvigi Selbst
niord heimgebracht hatte sie nicht so
verstört und ausgeregt ausgeseben als
in diesem Augenblick. Es war, als
könne sie sich taum noch aufrecht bal
ten, and wie eine hilsesuchende klam
merte sie sich an ihre Tochter-.
»Wie sind zu Grunde gerichtet,
Eise —- der Armuth nnd der Schande
W
preisgegeben Alles ist verloren —
alles!«
f »Was sprichst Du da, Mainai
FWaö isi denn geschehen? —- Warst
JDn bei jenem Langhammers Und
zweigert et sich etwa, uns die Papieke
’ auszulieiernØ
E »Ja, ich war bei ihm, Elset Aber
ich tam zu spät, denn ich sand nur
inoch einen Todten.«
» Das Wart jagte auch dem jungen
lMiit-then einen eistalien Schrecken
durch vie Glieder.
»Um Gottes willen! Und die Pa
piere?«
»Sie sind in den Händen unserer
Gegnet.«
»Nein, das ist unmöglich —- das
lann nicht sein. Wie sollten sie es an
gefangen haben, sich ihrer zu bemäch
tigen?"
»Er selbst Tat sie heute in seiner
Todesstunde Rats Artner übergehen«
Nach allein, was ich von der Wirthin
des Menschen erfahren habe, wäre es
Thorheit, daran zu zur-eisean
.So sage doch. was sie Dir erzählt
hat. Jch hegteise ja von alledem noch
nicht das geringste.«
»Ich war unruhig, weil die Nach
richt, die Langhammer mir verspro
chen hatte, noch immer nicht lam. Da
tum entschloß ich mich. heute wiedesi
rum zu ihm zu gehen. Aber die un-l
gebildete Perlen. bei der er wonni
empfing mich mit der Eröffnung. ihr
Mietber sei vor anderthalb Stunden
an einer Wiederholung des Blutdur
zes, der ihn nach meinem ersten Er
scheinen befallen. gestorben. Jch wollte
das Ungeheuerliche, das Unsnßbare
natürlich nicht glauben, bis sie die
Thiir seines Zimmerj iissnete und das
Leintuch von dem Gesicht des Todten
zog. Jch betam bei dem Anblick eine
thmachtsanwandluna, nnd dieFrau,
die mein Entsetzen siir einen Art-brach
des Schmerzes nahm, wurde ge
sprächig. ohne daß ich sie fragte.
Schon nach dem ersten Blutsiurz hat
te der Arzt ertliirt, daß ihr Miether
nicht mehr zu retten sei, und Lang
tmmmer selbst hätte auch recht ant ge
wußt. daß er bald sterben müsse-«
»Und dennoch ließ er Dir teine
Nachricht zukommen? Mein Gott,
warum dachtest Du auch nicht da
ran, Dich aus eigenem Antrieb nach
ihm zu ertundigen?«
»Verschone mich mit Vorwürsen —
ich bitte Dich. Weshalb er mir keine
Nachricht qumen liess, verstehe ich
ebensowenig wie Du. Seine Schwö
che allein tnnn nicht schuld daran ge
wesen sein, denn sie hat ihn nicht ge
hindert, boraestern einen langen
Brief an Eifriede Lornsen zu schrei
ben."
»Wie? — Das hätte er gethan? —
Ah, dann ist sreitich alles verloren.«
»Die Frau wußte natürlich nicht,
was in dem Brief gestanden. Der
Tdresie aber erinnerte sie sicb genau;
denn sie selbst hatte ihn zur Post tra
gen müssen. Und es ist tein Zweifel,
daß Rats Artners heutiger Besuch
lsei Langhmnmer aus diesen Brief hin
ersplgte.«
«Woher weißt Du, Manni, daß es »
Rols Artner gewesen ist? Konntei
Dir denn die Frau seinen Namen;
nennen?" »
»Ja. Er hat ihr seine Visitentarte
zurückgelassen, damit sie sich an ihn
wenden könne, wenn sie des Todten
wegen eines Rathes oder Beistandei
bedürfe. Denn jener Langhammer
war buchstiiblich in seinen Armen ge
storben, und er war bis zum Ein
tressen de- Arztes an dein Todten
hett geblieben«
»Aber die Papiere, Mama —- was
weißt Du von den Papieren?«
»Die Wirthin erzählte, daß sie vonr
dem fremden Herrn in das Zimmer
ihres Miethers geruer worden sei,
laum zehn Minuten, nachdem sie ihn
eingelassen. Da hätte Langhammer
schrecklich röchelnd in den blutiiber
strömten Kissen gelegen, und sie habe
aus das Geheiß des Fremden laufen
müssen. einen Arzt zu holen. Wie sie
nach einer Viertelstunde wiederge
tommen sei, habe sich der Kranke
scheinbar ein wenig erholt, denn er
habe mit sliisternder Stimme zu dem
Besucher gesprochen und ihn-. gerade
bei ihrem Eintritt eine Mappe mit
Papieren übergeben, die er seit dem
Beginn seiner letzten Ertrantung im
mer unter dem Kopstissen gehabt.
Aber sast unmittelbar daraus, und
noch vor dem Erscheinen des Arztes
habe er dann zu ihrem Schrecken sei
nen lehten Athemzug aethan.«
» »Und sie sagte auch, daß Rats.
IArtner die Papiere .mit sich fortge
inommenV
. »Ja —- sie tonnte es mit aller Be
stimmtheit ertliiren.«
»Und Dui Was hast Du daraus
hin gethani«
»Ich war rathlos und verwirrt,
als ob an mich mit einer Keule vor
den Mir-i geschlagen hätte. Aber
meine erste Eingebung war doch die
sen Artner auszulachen, um wenig-«
stens Gewißheit darüber zu erhalten,
was wir zu fürchten oder noch zu
hassen hätten«
»Du konntest nichts Thörichteret
«untdrnehmen als dtei!« suhr Else hesi
I
tig auf. »Und was haft Du mit
Deinem unsinnigen Beginnen ange
richtet? Hast Du Noli Artner ge
sprocheni«
»Nein. Er iwar nicht in seinem
Comptoir, obwohl man dort ver
schiedener wichtiger geschäftlicher An
gelegenheiten wegen mit S rheit
aus sein Erscheinen rechnete. achdem
ich länger als eine halbe Stunde ver
gebens ans ihn gewartet hatte. fuhr
ich nach hause, denn ich hatte nicht
mehr den Muth, ihn in seiner Woh
nung aufzusuchen.«
Ein paar Minuten lang starrte
JElsp ganz in angestrengtes Nachden
»len verloren, stumm vor lich hin.
Dann war ihr Entschluß gefaßt.
« »Ich werde versuchen, das Unheil
abzuwenden', sagte sie. »Aber Du
mußt mir das feste Versprechen ge
ken, Manni, daß Du nichts unterneh
men wirst, bevor ich zurückgetehrt
bin. Was auch inzwischen an Dich
herantreten mag. Du darfst Niemand
empfangen und Dich mit niemand in
irgend welche Verhandlungen einlas
sen. Denn ein einziges unvorsichti
ges Wert tönnte alle meine Bemü
hungen zu Schanden machen.«
»Sei unbesorgt! Jch werde in mei
nem Zimmer bleiben und keinen Men
schen verlassen. Was aber gedentst
Du zu munt«
»Das muß vorläufig mein
heimniß bleiben, Mamat Es muß
Dir genügen, dasz der Weg, den ich
einschlagen will, der einzige ist« der
uns vielleicht noch aus dieser Wirrniß
heraussiihren tann."
Und Frau Flemming hatte nach
den Ausregungen dieser schrecklichen
leiten Stunden nicht mehr Energie
genug, aus eine deutlichere Erklärung
zu dringen. Sie fragte nichts weiter
nnd zog sich, ohne das in das Speise
zinrmer ausgetragene Mittagessen zu
berühren, in ihre Schlafstube zurück.
Else aber lleidete sich hastig zum
Ausgehen an und verliess das saug.
Schneller, als sie ei vorausgesehen.
war die Stunde der Entscheidung ge
kommen, und die Bedingungen, unter
denen sie sich das leidenschaftlich er
sehnte Glisa erliimpsen mußte, waren
um vieles ungünstiger geworden. Aber
sie tannte die Macht ihrer Schönheit.
Und der seste Entschluß, auch das
Lehte und Aeuszerite siir die Vermitt
lichung ihrer hassnungen zu wagen.
hatte ihr Herz mit einer trohigen Sie
geszuversicht erfüllt.
lForlsehung solgt.)
Spekulation-wahnsinn.
Die Gummi-Altien haben an der
Londoner Börse eine solche höhe er
llettert, daß auch Leute« die nicht spe
luliren und sich im Labyrinth der
ahndelsberichte nur mühsam zu
rechtsinden, allgemach anfangen, dem
so viele Nehenmenschen in Athem
haltenden Ereigniß ein ruhig phi
losophische-i Interesse zu widmen.
Sogar etwas Mystit spielt dabei rnit,
denn man hat, nach einer Angabe des
Dailh Expreß, entdeckt, dasz alle nam
hasten Booms am Ende eines Lust
rumj eintreten; die letzte Zisser der
Jahres-zahlen ist stets 5 oder O. Das
Jahr 1910 hat die Gunimi-Hausse ge
bracht, 1895 einen Boom in südasris
tanlschen, 1890 und 1870 einen sol
chen in amerilanischen Werthen, 1865
einen Boorn in Bantanteilen, 1845
»den »Eisenbahn - Wahnsinn«.. Es
’tvar, als sollte England aus einmal
treuz und quer mit Schienen über o
gen werden; Eisenbahnlonipagnfen
schossen aus wie die Pilze, in wenigen
Monaten bildeten sich nicht weniger
als 1200 neue Gesellschaften Die
-—.——
Hölfte davon verirachte, ehe sie vie
vor der staatlichen Genehmigung nach
zuweisende Summe zusammenscharren
tonnten. Das Jahr 1825 sah ein all
gemeines Emporschnellen der Indu
striepapiere, da infolge der herabset
zung des Zinsfußes der Staatspa
piere viele Kapitalisten ihr Geld in
Unternehmen anzulegen wünschten, die
höhern Gewinn versprachenz die Zahl
der zur Börse zugelassenen Firmen
stieg von 156 mit einem Kapital von
48 Millionen Pfund auf 624 mit ei
nem Kapitai von 372 Millionen. Fm
Jahre 1770 gab es eine ostindi che
hausie; der größte, berühmteste,iliig
lichste und verderblichste Boom aber
war die« sogenannte «South-Sea-1
Bubble«, der Siibsee - Schwindel des f
Jahres 1720. Er gehört wie die Tra- j
gitomödie der französischen Assigna-"
tcnwirtschaft zu den ifinanziellen Ka-l
tastrophen, die selbt in den für
ISchuuiuvek sit-gefaßten Geschicht-vit
chern eine Stelle finden; sein Anden
ten hat sich beim englischen Volk um
so tiefer eingegraben, als er in eine
sonst an Erei niisen sehr arme, lang
weilige Zeit fel.
Das rasche Anschwellen des britis
schen Fandels hatte damals viel un
tlare offnungen erweckt und den Lo
den fiir verwegene Spekulation ge
lockert. Seit den Tagen der Königin
Elisabeth und der tiihnen Abenteurer,
die, halb patriotische selben. halb Pi
raten, Goldschisse iapetten, Neger ver
lauften, hatten besonders die Schiise
des spanischen Ameritai die Phanta
sie der Englander mit habsüchtigen
Träumen entzündet. Die Regierung
·begiinftigte die 1711 gebildete Süd
see - Gesellschaft. die für das Mono
pol des spanischen handels und einige
andere Vorrechte einen Teil der schwe
benden Staattfchuld übernahm. Man
fabelte von Schrffsladungen met-ita
nifchen Goldes und peruanischen Sil
berd, aber die Verhandlungen mit
Philipp V. entsprachen teineswegs den
Erwartungem Mit zäher Eifersucht
fuchte sich Spanien jeden Wettbewerb
vorn Leide zu halten« und die Südsees
Gesellfchaft sehte nur die Erlaubnis
durch, sich arn Stlavenhaudel nach den
fpanischenKolonien zu hetheiligen und
jedes Jahr ein einziges, dazu noch
mit hohen Abgaben belastetes n
delsschiff an die Kiiften des spani chen
Ameritas zu entsenden. Trohdern
fchraubte die Gefellfchast weder in der
Zusage riesiger Profite, noch in der
Forderung neuer Privilegien ihren
hohen Ton herab. Auf Einzelheiten
der verwickelten Finanzgeschäfte tön
nen wir nicht eingehen; nur so viel sei
bemerkt, daß die Gesellschaft 1720
durch fehr geschickte Manöver in Dorf
und Stadt einen wahren Sturm der
Spetulation entfesselte, einen Ratten
tönig von Unternehmen erzeugte, de
nen man in ruhigern Zeiten den drei
sten Betrug an der Stirn abgelesen
hätte. Aber Goldstaubwolten blende
ten den Blick, tein Gerücht war wider
sinnig genug, urn nicht Scheren von
Gläubigen zu finden, die daraufhin
selbst den letzten, für das Alter zurück
aeleatenNothpfennia zithörienmakler
trugen. Vergeblich warnte der-Staats
mann Robert Walpole, daß ein allge
meiner Ruin das Ende sein werde
Von den schmeichelhaften handels
unternehmen seien als Beispiele ge
nannt: eine Gesellschaft für Einfüh
riing dirginischer Walniißbüume, eine
Gesellschaft fiir die Umwandlung des
Quecksilbers in ein festes, schmiedba
res Metall, eine Gesellschaft für ein
Perpetuum mobile. Den Vogel aber
schon ein genialer Gauner ab mit der
Antiindigung einer »Gesellschast zur
Ausführung eines höchst vortheilhasten,
noch niemanden betannten Unterneh
mens'. Das Projekt verlangte ein
Kapital von 500.000 Pfund, in 5000
Aktien zu 100 Pfund, von denen zwei
Pfund sofort eiiizuzahlen seien; in ei
nein Monat würde der zweck des Un
trrnehmens bekannt gegeben werden.
Arn Tage nach der Antiindigung er
öffnete der Gauner ein Bureau in
CornhilL Die Thatsache ist wohl ver
bürgt, sonst würde man es für möglich
halten, daß sie gleich nach der Eröff
nung an tausend Personen in die
Lifte einzeichneten und je 2 Pfund hin
terlegten. Der Zweit des .höchst vor
theilhasten, niemand betanntenUnters
nehmeni« wurde schon am nächsten
Tage tlar, da der Vater des Gedan
tens mit den 2000 Pfund nach dem
Kontinent ausgerissen war. Man hat
nie wieder etwas von ihm gehört.
Großen Erfolg hatten auch die soge
nannten «Globe-Permits". Sie wa
ren nichts weiter als ein StückKartens
papier, auf dem sich ein Wachssiegel
init dein Zeichen der nahe bei der Bot
se gelegenen GlobesIavern befand;
die Besiher erfreuten sich deoVorrechtH,
Antheilscheine einer später zu gransen
den, in Wirklichkeit nie gegründeten
Segeltuchfahrit zu beziehen. Der
«Glohe-Perinits« stiegen zeitweise auf
60 Guineas. Ein bekanntes Bild von
Ward lin der Tate-Galerie) schildert
eine Szene in Change-Alleh dicht bei
der Börse; wegen des ungeheuren Zu
drangs hatten die Schreiber auf offe
ner Straße ihre Tische aufgeschlagen,
Damen im gebauschten Seidenrock,
Stuter mit wallenden Lockenperücten.
rotbückige Pächter vom Lande dran
gen aufgeregt durcheinander, uin sich
ihren Anteil am Gelt-regen zu sichern;
zusammengediickt in einer Ecke berech
iien Bettler ihre Ersparnisse, ob sie zu
einer Attie reichen.
Während der Südsee-Schivindel
blühte, stiegen unsinniger Luxus und
lasterhaftes Vergnügen in erschrecken
dern Grade; die Spetulanten, die gro
sze Gewinne gemacht hatten oder sie als
sicher erwarteten ließen ihren echt bri
tischen Appetit an den seltensten Lecke
reien und tostbarsten Weinen aus,
fchasften sich Cquipagen und Pferde an
und sahen auf Leute, die urn geringen
Verdienst ehrlich arbeiteten, mit brutas
ler Verachtung herab. Die Aristoiras
tie war bis an die erlauchtesten Kreise
vom Goldhunger ergriffen; hohe
Staatsbeamte rühmten der Südsee
Gesellschaft, als sie zu wackeln anfing,
in der Angst ihres herzenknactk daß
sie mehr siir die Wohlfahrt der Nation
gethan habe als Krone, Kanzel und
Richterbanl. Eine Zeitlang schwank
ten die Kurse auf und ab. dann tanr
Hipböpost auf hiobspost und endlich
der vollständige Zusammenfturz. Die
allgemeine Panit war unbeschreiblich;
mit wilder Wirth verlangten die Tau
» sende, die ab und Gut verloren hat
Iten, nach pfern. Der Staats-seite
tiir Craggs starb vor Schrecken, der
Schadlan ler Aiilavie wurde in den
Ton-er g chickt, viele angesehene Män
ner, die an der Leitung der Südsee
Gesellschaft beteiligt waren oder von
ihr Bestechungen empfangen hatten,
wurden wegen Betrags verurtheilt
Aber selbst die schwärzeste Wolle hat
nach einem englischen Sprichwort ei
nen silbernen Rand; das aus dern rech
ten Themfeuser gel eäene »Hqu ho
spital« ist hauptsäch ch aus der Stif
tung eineiGeizhalses erbaut, der mäh.
rend des SüdseesSchrvindels seian
mögen gemacht hatte.