Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, September 01, 1905, Sweiter Theil., Image 10

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    Die Graer von Buchenim
Roman von Jä. Z.
(11. ForifetzungJ
»Sei ruhig!« sagte er. »Ist glaube
ichDir ja. Franziska, die keine Mi
nute an Dir gezweifelt, hat Recht.
Das kannst Du nicht begangen haben.
Und nun fasseDichi Es wird mir ja
gekingen, Deine Schuldlosigkeit zu be
weisen. Der wirkliche Thäter wird
gefaßt werden. Laß uns- einmal die
Angelegenheit ruhig besprechen! Vor
Allem sind es zwei Momente, die Dich
schwer belassen. Erstens das Auffin
den der Saphir-Kravattennadel bei
Dir, die, wie einwandfreie Zeugen de
kundet haben sollen, des Ameritaners
Eigenthum gewesen —"
»Er hat sie mir geschenkt« fiel
Bodo eifrig ein und sah dem Bruder
voll ins Auge. »Weil mir die Nadel
immer so sehr gefallen hatte« hat et
sie mir gegeben zum Andenken, denn
im Frühjahr wollte Mister Watfon
nach feiner Heimath zurückkehren.«
»War Jemand zugegen, als er Dir
das Geschenk machte?«
Bodo stöhnte.
»Niemand. Niemand kann es be
zeugen. Es war bei Gelegenheit eines
Spazierrittes. Ich ritt ja faft jeden
Nachmittag mit Schülern nach dem
Grunewald. An jenem Tage ritt ich
mit Misier Waisen allein, es war nur
wenige Tage vor dem verhängnisvol
len Nachmittag.«
«Und wie erklärft Du Dir, daß
Dein Revolver unweit des Thatvrtes
gefunden werden konnte?« fragt
Dietrich weiter.
Bodo griff sich mit einer Gebärde
der Verzweiflung ins H ar.
»Er muß mir gesto n worden
sein,« stieß er hervor. »Natürlich.
das glaubt mir ja Niemand«
»Alfo es ift wirklich Dein Revol
ver?« fragte Dietrich weiter.
Bodo nicktr.
»Er ist es Jch kann es nicht leug
nen. Es ist der Revoloer, den mir
Papa einst geschenkt hat und den ich
immer in Ehren gehalten und den ich
nie aus der Hand gegeben habe, so
Jfckjilecht es mir auch zeitweise ergangen
i .«
»Du hast ihn also in Deine jetzige
Wohnung mitgebracht?«
»Ja. Das weiß ich ganz genau."
»Und wo hast Du ihn aufbewahrt?«
Der Gefragte griff sich an die;
Stirn und schien aufgeregt nachzu
denken. Mit einem Seufzer ließ erz
endlich die Hand sinken.
»Das weiß ich nicht. Jch tann mich
abfolut nicht daran erinnern. Hatte
iat ihn in den Schreibsetretiir gelegt,
oder lag er noch im Koffer, oder hatte
ich ihn vielleicht in die Kommode ge
steckt-—- ich kann es wirklich nicht
sag en«
»Seit wann hast Du ihn denn
vermißt?«
»Erst feit dem Tage vor der Er
mordung Mister Watfons."
Ein leichtes Zacken flog über Diet
rich’5 Züge.
»Und warum haft Du gerade an
diesem Tage tonftatirt daß Dir der
Revoloer adhanden getommen wart«
Bodo zögerte mit der Antwort. Er
schlug die Augen vor den forschend
auf ihn gerichteten Blicken seines Bru
ders nieder und ließ den Kon auf die
Brust linken.
»Weil ich ihn gefucht hatte,« stam
melte er.
»Du hattest ihn gesucht? Verban
dest Du irgend einen Zweck damit?«
Er sah mit durchdringendem Blick
zu dem Bruder hinüber. Der stand
in seltsamer Bewegung. Eine glühende
Milde flammte in seinem Gesicht. Die
eine Hand preßte er gegen seine Au
gen; sein Athem ging schwer und teu
chend.
»Nun, Bodo, warum antwortest
Du mir nicht?«
Ein Ruck ging durch den Körper des
häftlings. Er ließ die Hand sinken.
Verzweiflung Scham und Angst
wühlten in feinen Mienen.
»Man wird es mir ja nicht glau
ben,« stieß er klagend hervor.
»Was wird man Dir nicht glau
hen'i« fragte Dietrich und sah befrem
det u seinem Bruder hinüber.
« aß—daß ich gerade an diesem
Sage, an dem Tage vor der That, die
tun mir zur Last legt, den Ent
Entschluß gefaßt hatte. —" In ge
stammelten, abgerissenen Sätzen waren
die Worte herausgekommen; jetzt
brach Der Sprechende plötzlich ab.
.We1chen Entschluß denn, Bndo?
So erkläre Dich doch deutlich! Wenn
Du willst, daß ich Deine Vertkieidis
cum-a übernehme, dann mußtTu mit
nichts. auch nicht den geringsten Um
stand verfchweigen.«
»Ich-mein Gott« Dietrich, es ist
wahr, so wahr ich unschuldig bin an
der Ermordung Mister Watsons —
Maske mich erschießen, wie damals in
Schtpß Buchenau, Du etinnetsf Dich,
vor Jahren. Ich war in so verzwei
Mit-I Stimmung, ich schämte mich
;"·--. wieder Fu Dir zu kommen und zu
, Akte-h während ich doch in der ganzen
« nichts hatte von mit hören lassen
Mulden fs vielen Leuten Geld,
schönsten mich hart, dazu gekün
M keine Zussiehh so bald MUSA
a erlangen. Ich war muthlpj
, Miste IW mehr ans noch ein.
IMIM erschie- mie das Leben
schal und widerlich. Und so beschloß
ich ein Ende zu machen.« —
,,Und da suchteit Du Deinen Re
volver?«
Bodo nickte.
»Ich suchte ihn überall und fand ihn
nicht. Und ich rief Frau MenzeL
meine Wir-thin, und fragte, ob sie
nicht den Holzlasten gesehen, in dem
ich den Revolver bewahrte. Aber
Frau Menzel wußte von nichts.«
»Und die Tochter Deiner Wir-i
thin?« i
Bodo senkte unwillhküriich vor ;
Scham sein Gesicht. ;
»Die hatte ja freilich den Kasten!
mit dem Revolver gesehen, aber wo
er nun geblieben war, wußte auch sie·
nicht. Und da ich kein Geld hatte.
mir eine andere Waffe zu tausen, so
unterließ ich mein Vorhaben. Ueber
baupt, die tleinmiitbige Stimmung
war schon wieder versiegen, und ich
faßte einen anderen Entschluß."
«Einen anderen Entschluß?«
»Ja. Ich faßte mir ein Herz und
ging zu Mr.Watson.«
Zu Mister W«atson?«
»Ja. Jch bat ihn, oder mir nicht
druben irgendwo eine passende Stel
lung verschaffen könne« und ob er mich
nicht mit hinübernebmen wolle.«
aUnd Mister Watson'i«
»Er sagte mit Freuden ja. Mein
Gott« er war immer nett undliebenss
würdig zu mir gewesen. Auch das
Reisegeld wollte er siir mich auslegen
und wegen meiner Anstellung wollte
er mit seinem Vater sprechen« der
große Farmen in Texas destrer
»Und hast Du das Alles nicht dem
Untersuchungs - Richter derichiet7«
fragte Dietrich. mit Spannung die
Antwort erwartend.
Bodo seufzte.
»Freilich,« antwortete er. »Aber er
meinte, ich sollte ihm doch keine Mär
chen erzählen«
Auch Dietrich seufzte.
»Deine Vertheidigung wird teine
leichte Ausgabe sein,« demerlte er.
»Wenn man nur einen Anhaltspunkt
fände, von dem aus man nach dem
Tbäter forsche könnte!« Und nachdem
er eine Weile sinnend vor sich bin ge
blickt hatte, nahm er seine Fragen
wieder anf: »Wie verhält es sich mit
den Bantnoteni Jst es wahr, daß der
Ameritaner in Deinem Beisein einen
Hundertrnartschein gewechselt bat. daß
dabei noch mehrere Bantnoten in sei
ner Briefiasche sichtbar wurden?«
»Ja. Das verhält sich so· Jch
scherzte noch darüber und sagte zu
Mister Watson: Wer doch auch so wie
Sie mit einem Vermögen in derTasche
spazieren reiten iönntet —- »Well,«
sagte er, »Sie werden in Amerika
auch Millioan werden, Gras, wie·
mein Vater, der auch einst als armer
Teufel aus England herübertam.«
»Und bat noch Jemand außer Dir
die Banknoten gesehen?«
»Nu: der Kellner.«
Dietrich zuckte mit den Achseln.
; »Der kann doch unmöglich der Thä
i ter gewesen sein.«
! »Ganz unmöglich«, pflichtete Bedo
ibei. »denn wie lollte er in den Besitz
lmeines Revoloers gelangt sein, mit
dem doch, wie die Untersuchung er
geben hat. der Mord vollführt
wurde?«
»Das ist es ja eben, das ist ei ja
eben!« äußerte Dietrich und griff sich
an die Stirn. »Die Frage ist, wer
kann Dir den Revolver genommen
haben? Hast Du denn gar keinen
Verdacht?«
»Keinen,« gestand der Häftling
dumpf.
»Hast Du denn nie Besuch gehabt?"
»Ich erinnere mich nicht.«
«Wohnte denn außer Dir noch ie
mand bei Frau Menzel?«
»Niemand.«
«Oder verkehrten bei der Frau
fremde Männer, etwa männliche Ver
wandte?«
Der Bäftling drehte feine Stirn
zwischen seine beidenshiinde und stieß
mit einem Anflug von mntvloser Vet
zweiflung hervor: »Ich habe ia til-er
diese Frage schon soviel nachgedacht.
Aber ich erinnere mich nicht« je einem
fremden Manne in der Wohnung mei
ner Wirthin begegnet zu sein. Mir
ist es rein räthselhait, wie der
Mevower auc- rnemem Zimmer
binauåaekommen fein kann. Und on
diesem Rätbfel werde ich in Grunde
gehen. Kein Wunder, wenn man
mich für den Mörder hält. wenn ich
es felbfi für unmöglich erklären muß,
dieer dunklen Punkt aufzuhellen.«
Da flammte es plötzlich wie ein
Blitz in Dieirichs Augen und es schoß
ihm wie ein Fenerfieom ins Gesicht
»Aber die Wirtbin bat doch einen
Sohn!« rief er und erfaßte in feiner
heftigen innerlichen Bewegung Bot-es
Arm
Der Häfiling fah seinen Bruder
erfiaunt em.
»Einen Schni«
»Jawohl!« Der Sprechende schlug
fich mit der Hand auf die Stein.
«Dafz ich nicht gleich daran dachte!
Freilich, es ist wohl über einen Mo
nat her. Als ich eines Abends bei
Die war und Dich nicht traf, da tem
ein Mensch aus Deinem Zimmer.
u mir: Mein Vruderl Ja, das
agie lie, fest erinnere ich mich ganz
genauf
Bedo machte ein sehr überrasch
tes Gesicht nnd sah feinen Bruder
zweifelnd an.
«Jrrst Du Dich auch nicht, Dieii
richi Von einein Sohn meiner
"Wirthin habe ich nie gehöri. «
»Alfo wohnt er nicht bei seiner
Mutter? «
»Nein. Das ift unmöglich. Son
müßte ich ihn ja doch gesehen ha
ben.« .
Dieirich schüttelte mit dem Kon
»Merlwürdiq«, murmelte er vor
sich hin. «Höchst merkwürdig? »
Und dann fuhr er lebhaft auf:.
»Da ifi etwas nicht in Ordnung.
Hier müssen wir einsehen. hier ha
ben wir einen Anhaltspunki.«
Er zog seine Uhr. Wichtige Ge
schäftigieit kam plötzlich über ihn.
»Hoffentlich treffe ich den Untersu
chunggrichier noch. Adieu, Bodo!«
Er legte dem Bruder feine bei
Een Hände auf die Schulter und
lickie ihm noch einmal tief in die
Augen.
»Sei guten Muthes! Wenn Du
ein gutes Gewissen hast, hast Du lei
nen Grund zu zagen. Deine Schuld
losigkeii muß sich ja herausstellen.«
Bodo schlug seine Arme um den
Hals seines Bruders, und aus der
Tiefe seines Herzens iam es heraus-:
»Noch seinmah Dietrich, ich bin un
schuldig, so wahr ich wünsche, Mama
wäre noch am Leben, so wahr ich bit
ter bereue, ihr je Kummer bereitet zu
haben.«
T Die Brüder hielten sich eine Weile
Jsiumm umfaßt. Dann machte sich
"Dieirich los, drückte Bodo noch einmal
die Hand und ging. i
im vix irr-check des W ist
i
i
i
i
i
Zwanzigstes Kapitel.
Der Untersuchungsrichter hörte
Dietrichs Bericht von der Untern
dung mit seinem unschuldigen Bruder
aufmerksam ari Der skeptisch lä
chelnde Zug in seinem Gesicht, der
überlegene Blick seiner Augen änderteJ
sich auch nicht eine Selunde lang. j
»Ihr Glaub-e an Ihren Bruder«, ’
sagte er, als Dietrich seine Mitthei-;
lung bendet hatte, »ist schön und he
greiflich, und als Mensch empfinde ich !
mit Ihnen und wünsche ich könntej
mich von Ihnen überzeugen lassen l
Aber Sie dürfen es dem Juristen ins
mir nicht verargen, wenn ich Ihnen
offen erkläre, das alles, was Sie mirx
da berichet haben, erscheint mir we
nig entlastend für Ihren Bruder.«
»Aber der geheimnißvolle Sohn derE
Frau Menzel!« wandte Dietrich eif- ;
rig ein. »Warum diese merkwürdige
Verleugnung meinem Bruder gegen-I
chtf« l
Des Untersuchungsrichters über
legenes Lächeln prägte sich noch deut
licher aus. - s
»Mein Gott, dafür lassen sich doch
wohl leicht Gründe finden. es
Sohn kann ein Thunichtgut sein und
ist deshalb von seiner Mutter ausi
dF Wohnung verwiesen worden. Oder -
e ist gar nicht ihr Sohn, sondern es
steckt eine Liebesgeschichte dahinter
Damen« — der sartastische Zug trat
stärker in dem Mienenspiel des Spre
chenden hervor —- »Damen vomSchlag
der Pauline Menzel pflegen sich selten
mit einem Verehrer zu hegnügen.«
Der Untersuchungsrichter svkeizte
seine Finger dozirend von einander.
«Do nehmen wir einmal an,« fuhr
er ««sort «der Mensch, dem Sie einmal
in der Wohnung der Wittwe Menzel
begegnet sind, sei in der That ein
schlechtes Subjekt, dem die That zuzu
trauen sei« nehmen wir feiner an, er
habe sich den Revolver, der als der
Ichres Bruders rekognoszirt worden
ist, wirklich angeeignet: wie erklären
Sie tich das merkwürdige Zusammen
Htresien des vermeintlichen Mörders
mit seinem Opfer-)- Ter Mensch hat
den aeladenen tltevolver bei sich aehaht,
hatte also dieAbsicht zu tödten. Wie
konnte er wissen, daß der Anieritaner
des Weges tommen würde? Woher
wußte er, daß Mistee Watson auf
dem Spazierritt eine Summe bei sich
führte, die seine Mordlust herausfor
derte? Und wie konnte der Mensch den
Unalückssall mit dem aevlatzten Sat
telaurt. der den Mord ja überhaupt
erst ermöglichte, voraiisberechnen?
Nein, ·nein, mein verehrter Herr
Rechtsantvalt, Ihr Verdacht erscheint
mir inhaltlos, abgesehen davon, daß
ia noch die anderen Verdachtstnotnente
vorhanden sind. die bei Ihrem Bru
der aesundene KravattennadeL die als
Eigenthum des ermordeten Mister
Watson erkannt worden ist.«
»Ich theilte Ihnen schon mit, Herr
Landaerichtörotb. daß diese Nadel
ein Geschenk des Ametilaners an mei
nen Bruder war.«
Der Untersuchunasrichter war zu
höflich. um diesmal zu lächeln. Frei
lich. ein ironischei Rucken der Mund
winlet konnte er nicht aanz unter
desickere
»Ja, mein bester herr Rechtsan
toalt,« erwiderte er, »das ist eine Auc
saae JheeöBruders. Wenn ich auch
als Mensch aeneiat wäre, ihm zu
glauben. als Untersuchunaörichter
darf ich ei ohne weiteres nicht. Welche
Zeuan kann Ihr Bruder namhaft
machen fiir feine Pedant-trank
etne.« erwiderte Pietrtckt gepreßt,
irrend ihm eine siedende httse aus
stieg« Er hatte sich ia schon sodo
Müder dahin auzaesproschm da
die Vertheime eine außer-these ·
»I.
;
schwierige sein wurde Allei- wat der
Untersuchung-richtet da vorbrachte,
hatte er sich ia bereits selbst gesagt.
Dennoch besaekte ihn der Wunsch, sei
nen Bruder zu vertheidigen, und, von
seinem Eifer hingerissen. erwiderte er
lebhaft: .Jch vertenne nicht die
Schwierigkeit der Lage meines Bru
ders. Sehr vieles spricht gegen ihn,
und ich selbst war ia im ersten Au
genblick versucht, an seine Schuld zu
glauben. Aber nachdem ich ihn ge
sehen und gesprochen habe. weiß ich,
daß er schuldlos ist. Und wenn ich
auch meine Ohnmacht fühle, Ihnen,
Herr Landgerschtsrath, meine Ueber
zeugung einzufliißem so will ich doch
nichts unversucht lassen, um, wenn es
zur Anklage kommen sollte, dieSchuld
losigieit meines Bruders an den Tag i
zu bringen und den wahren Schul-;
digen der Gerechtigkeit zu iiherliefern.
Jn dieser Beziehung bitte ich um Jhre 1
Mitwirkung, Herr Landgerichtsrath.«
Der Untersuchungsrichter verneigte
sich aus seinem Stuhl; sein Gesichtl
zeigte die kalte, ernste Amtsmienr.
»Ich werde meine Pflicht thun, Herr
Rechtsanwalt. Jede Spur, die zur
Aufklärung des heggngenen Verbre
chens dienen tann, wird von mir ver
folgt werden und sei sie auch noch so
geringsiigig und aussichtslos.«
Dietrich erhob sich.
»So dars ich auch darauf rechnen,
daß Sie auch meine Mittheilung be
treffs des Sohnes der Wittwe Men
iel nicht unberiiclsichtigt lassen?«
»Sccherlich nicht, Herr Rechtsan
walt. Der Mensch wird vorgeladen
und von mir verhört werden. Von
dem Ergebniß des Verhöts werde ich
meine weiteren Maßnahmen gegen
ihn abhängig machen.«
Dietkich empfahl sich. froh. daii
sich nun wenigstens eine Aussicht er
össnete, die zur Entdeckung des
wirklichen Mörders führen konnte.
Jn seiner Wohnung wartete des
Heimlehrenden eine ausregungsvolle
Ueberraschung Der alte Graf war,
ohne sich vorher angemeldet zu ha
ben, aus Schloß Bucheau angekom
men. Dietrich erschrak heftig, als ihm
sein Vater gegenübertrat. Was hat
ten die letzten Wochen aus dem alten
Herrn gemacht! Ein Greis war er
geworden, ein hinfälliger, - gebroche
ner Greis. Die ehemals so traftvoll
sich emporreckende Gestalt war förm
lich in sich zusammengesunten. Die
Schultern hingen weit vorniiber. Der
Gang war schwerfällig geworden und
unsicher. Er war das Bild einer
Eiche, deren majestätischen Stamm
einer vernichtender Blitzstrahl bis zu
ihren Wurzeln erschüttert, deren stolze
Krone er schonungslos zu Boden ge
streckt hatte.
Dietrich neigte sich, um die hand
seines Vaters zu küssen. Der alte
herr aber zog ihn an seine Brust und
tiißte ihn auf beide Wangen.
»Die Schande!« stöhnte er. »Die
Schande!« Und mit müder schleppen
der Stimme siigte er hinzu: »Du
tommst aus dem Untersuchungs-Ge
sängniß?«
Ein sichtbarer Schauder lief durch
seinen Körper und man sah seinen
gramgesurchten Mienen an und hörte
es aus dem Ton seiner Frage, wie
schwer es ihm wurde, das unglückse
lige Wort, das fo viel Leid, so viel
schwere Verschuldung und so viel
Schmach bedeutete. ausgezusprechen.
»Ja, ich tomme aus dem Untersu
chungsgesiingniß,« anwortete Dietrich
und hob sein Gesicht zu seinem Vater,
»und ich bringe die Ueberzeugung mit
;heim, Papa« daß Bodo schuldlos lei
kdet.«
’ Ader der alte Herr nickte nur trüb.
i
1
i
l
»Ich dante Dir,«' sagte er, »Du hast H
Mitleid mit mir und willst mich tro
sten, wie es Franziska schon bereits
versucht hat, aber ich habe leider schon
zu schlechte Erfahrungen mit dem« —«— :
das Auge, das schon erloschen zu ieth
schien, sprühte plötzlich In—leidenschaft- s
lichem Zorn —-— »dem menoen -
macht, als das-, ich ihm nicht auch noch
dieses zutrauen sollte.«
Tietrich ergriff die Hand seines Va
ters und sagte energisch: »Du itrst.
Papa, meine Absicht ist nicht, Dich zu
täuschen. Jch schwört Dir bei Allem,
was mir heilig ist, dasz ich ehrlich an
seine Schuldlosigteit glaube. Jch habe
seine juristische Vertheidigung über
nommen, und ich würde das nicht
thun, wenn ich ihn im Verdacht hoben
müßte, schuldig zu fein.·'
Der alte Graf blickte lange in seines
Sohnes Gesicht. das im Wiedeeschein
aufeichtiaen. freudian Gefühls
strahlte. Die zitternde Hand des
Greises preßte die des Sohnes mit
tramdfbaftem Druck. Dann ließ et
sich schwach. von seiner Gemütss
beweauna übermannt, in den ihm zu
nächst stehenden Stuhl sinken. Ein
erlösendes Aufaihmen kam von seiner
Brust.
»Du nimmst eine schwere, schwere
Last von mir, Dietrich,« sagte er. und
seine tnochigen hände, auf denen die
Adern dick lagen, in einander schlin
aend, stöhnte er aus tiefster Seele
..Hiittest Du doch Rechts —-—Futcht
bar bade ich aelittent Seit drei Tagen
ist kein Schlaf in meine Augen gekom
men. Nacht fiie Nacht bin ich in mei
nem Zimmer umheraetoandert und
habe mir Brust und Stirn geschlagen,
unter auiilenden Selbstvorwiiefen.
Hätte ich ihn doch nicht hinausge
stosient Wuste·ich doch. wie schwach
er wen-, wie wema Halt er hatte. Wäre
es nicht meine Pflicht gewesen, ihn
bei mie zu behalten. ihn mit siartee
Dank zu siicmn und auf einen bese
W
ren Wen zu leiteni Bin ich nicht mit
tchuldiai«
Der alte Herr fchlu seine zittern
dendiinde vor das Ge cht, nnd feiner
Btnft entrang sich ein kampfban
aualvolles Auftchluchzew
Auf's Tiefste erschüttert tankDiet
rich vor dem weinenden Greise in die
Kniee
.Quiile Dich doch nicht« Papa!« bat
er. »Du hast Dir keine Vorwürfe zu
machen. Bodo hat es nicht gethan.
Es wird sich ja herausstellem daß er
die ihm zur Last aelegte That nicht
begangen hat«
Graf Buchenau ließ feine hände
sinken.
»Dietrich,« sagte er feierlich, und
seine Stimme klang wieder fest und
bestimmt, »wenn tnir das erspart
bliebe, wenn das Schwere von mir ge
nommen würde, wenn Bodo ohne
Makel aus dieser furchtbaren Anklage
hervorgeht, dann —- das schwöre ich
Dir bei dem Andenken Eurer Mutter
—- dann will ich ihm all das Uebrige
verzeihen, das er mir angethan hat,
dann. will ich ihm noch einmal die
band reichen.«
Der alte Herr erhob sich und zog
seinen Sohn mit sich in die Höhe.
»Und nun komme, berichte mir aus
führlich, damit ich glauben kann, was
ich ia so gern glauben möchte.«
Dietrich hatte eben erft angefangen,
seinem Vater den Verlauf seiner Un
terredung mit Bodo zu schildern, als
here von Gliimer-Rottenfeld eintrat.
Er schien nicht überrascht, sich seinem
Schwiegervater gegenüber zu sehen.
»Du kommst vermuthlich in dersel
ben Sache«. sagte er, den alten Herrn
höflich grüßend, »die mich veranlaßt
hat, Dietrich aufzuiuchen Da können
wir ia aleich Familienrath halten«
Der Kammerherr war in einen del
len, modefarbiaen Frühjahr-Büber
zieher artleidet. Der ganze äußere
Mensch war wie immer tadellos. Mit
seinen vrall sitzenden hellen Hand
schuhen, der modernen, breiten Kra
vatte, der sorafiiltiaen Frisur und dein
lunstvoll mittelst Brenneisen und
Schnurxrbartbinde emporgereckten
Schnurrbart hätte er getrost als Mo-"
dell für das Bild eines eleganten Mo
deiournais dienen können.
»Du stehst angegriffen aus, Papa,«
sagte er, seinen Schwiegervater erst»
ietzt näher in Augenschein nehmend,
nachdem er sich seines Paletots entle
digt und nach seiner Gewohnheit seine
beiden Taschenbiirsten in Thätigteit
gesetzt hatte. »Auch mich hat die Sache
scheußlich irritirt. Schauderhaft, so«
gewissermaßen das Schwert des Da
motles ewig über sich schweben zu
sehen, in ieder Minute zittern zu
müssen var der Entlassuna! Bis ietzt
hat man mich ia noch gnädig geschaut.
und vermutblich will man erst den
Ausgang der Sache abwarten. Aber
wenn erst der Urtheilsspruch erfolgt
ist. dann freilich werde ich wohl sprin
aen müssen.«
Der Kammerherr ließ sein wohl
frisirtes Haupt betiimmert auf die
Brust sinken, seine Schuttern neigten
sich vorniiber unter der Last des »
schweren Schicksal-L das ihn bedrohte.
Dietrich sab mit einem ironisch lä- s
chelnden Blick zu seinem Vater hin
über.
uBeruhiae Dich.« nahm er das
Wort. »Du wirst Deinem wichtigen
Amte erhalten bleiben.«
Der Kammerherr erhob rasch den
Blick und sah erstaunt zu dem Spre
chenden hinüber·
«Erhalten? Wieso? Daran ist gar
nicht zu denten. Du scheinst nicht zu
wissen, wie empfindlich und diffizil
man bei Hofe in solchen Dingen ist.
Daß ich noch im Amte bleiben könnte,
wenn der Bruder meiner Frau wegen
Raubmordes zum To—'«
Graf Buchenau machte eine so heftig
aussahrende Bewegung, daß dem-kam
merherrn das Wort in der Kehle stecken
blieb. Auch Dietkich runzelte die
Stirn, während er mit Nachdruct ver
sicherte: «Bodo wird überhaupt nicht
verurtheilt werden«
Baron von GlitmersRottenfeld
glickte verwundert von einem zum an
ern.
,.Ueherhaupt nicht verurtheilt? llnd
das saast Du als Jurist? Erlaube
mal, ich habe die Details der Sache
natürlich mit arößiem Interesse ver
solat, denn mein eigenes Schicksal ist
ja leider damit ena vertniivft. und da
muß ich doch saaen, daß nicht der ne
rinaste Zweifel mehr an Bodos Schuld
und an seiner voranssichtlichen Ber
urtheiluna bestehen tann.«
»Es würde Deinem derwandtschast
lichen Gesiihl und Deinem Herzen
mehr Ehre machen," wars der alte
Gras ein, »wenn Du zweifelst, wenig
stens so lange, bis der Urtheilsspruch
erfolat ist.«
Der Kammerherr rüekte aus seinem
Sessel und wars sich in die Brust,
während er hitzia erwiderte: »Ja,
Papa, es wäre doch aeradezu kindisch
von mir, zu zweiselm wenn eine Sache
so klar ist, wie diese· Es hat doch
keinen Zweck, sich selbst zu täuschen.
Ich meine, als Mann muß man doch
den Dingen mit Fassung ins Gesicht
sehen und seine Maßregeln treffen,
urn zu retten, was noch zu retten ist.
Und darum schlage ich vor, da sich ja
doch nichts mehr vertuschen läßt und
die Anaelegenheit in der Oeffentlich
teit den üblichen Verlauf nehmen wird,
dass wir in der Presse erklären lassen
—die Nottz werde ich schon zu umzi
ren wissen-Mast der Angeschuldigte
längst von seiner Familie in Acht und
Bann gethan und schon lange vor der
That nicht mehr all sur Familie ge
hsktg betrachtet worden ist, daß wir
icht«·G·Wsck-ast mit ihm wett von
unt weisen nnd daß er von uns längst
.
quasi den Schlag. der lonsi auch uns
treffen würde.«
Dein alten Gran stieg dunkle
Zornesritthe ins Ge n,t und ftig
mit seiner Rechten auf den Tisch chla
gend, tiefer .Eine solche Ert rung
wäre insam. Wenn wir alt seine
nächsten Angehörigen den Angeschul
digten, auf dem vorläufig doch nur
l ein Verdacht ruht schon fett aufgeben
iund ihn öffentlich gewissermaßen all
schuldig bezeichnen würden noch de
vor das Gericht gesprochen hat, so
wäre das eine That des gemeinsten
Egoismus und der schändlichsten nip
ralischen Feigheit.«
Herr von Gliimer-Rottenseld reckte«
sich in den Schultern.
,,,Erlaude Papa, " sprudelte er ek
regt hervor, »ich muß doch gegen Deine
fstarlen Ausdrücke ganz ernstlich pro
testiren« —— die shmmende Entrüstung
des alten Herrn aber, dessen gebeugte
lGestalt sich straff aufgerichtet hatte,
wie einst in den Tagen feiner vollen
J,Manneslraft und dessen Augen
sprühten und blitzten, wie die eines
leidenschaftlichen Jünglings, ließ sich
nicht zügeln.
»Protestire so viel Du willst, « er
widerte er mit starker Entschiedenheit,
ich habe nichtg zurückiunehmen son
dern im Gegentheil, ich erkläre noch
keinmal mit allem Nacht-weh daß es
sichmachvoll und gewissenlos wäre,
; wenn wir als feine nächsten Verwand
Y ten gegen einen Menschen öffentlich
; Stimmung machten. dessen Schuld
losigleit nicht ausgeschlossen ist. Unsere
YPflicht ist es vielmehr, ihm in dieser
Eichwersten Zeit zur Seite zu stehen,
ihm die Mittel zu gewähren, sich von
dem schimpflichen Verdacht, unter dem
esr vielleicht unschuldig leidet« zu reini
gekichtet wurde. nur parte-u damit
aen und ihn auch moralisch der Oes
fentlichteit gegenüber zu stützen.«
Und als der Kammerherr wieder
eine Einwenduna versuchte, schnitt er
ihm mit einer energischen Oandbewes
auna das Wort ab.
.Erspare Dir jede weitere Bemüh
una,« sagte« er energisch. »Ich kann
Dich nicht hindern, fiir Deinen Theil
zu handeln, wie Du siir aut besindesi.
Aber ich muß mir aus der anderm
Seite jede weitere Einwirkung aus
mich entschieden verbitten. Du wirst
mich nicht abhalten, meine Pflicht zu
thun, und die ist: meinen letzten Gro
scken daranzusetzen an den Versuch,
die Schuldlosiateit meines Sohnes, an
die ich nun alaube, so vieler auch sonst
gefehlt hat, an den Tag zu bringen
Fortsetzung solgt.)
W
Das cechztg stimmten-Reich
Ganz unbemerkt ist ein gewaltiges
Ereigniß siir das Deutsche Reiskeins
getreten. Ter sechziginillionste ent
sche hat das Licht der Welt erblickt.
Wann, wo und wie, das meidet leider
tein heldenbuch· Wir wissen nur,
schreibt die Rheinifch - Westsölische
Zeitung, daß, wie etnTropsen ehließs
lich den Becher bis zum Rande an
stillt, irgendwo ein tleiner Antömms
ling die sechzigste Million erfüllt hat
und daß damit ein gewaltiges natio
nales Ereigniß eingetreten ist.
Deutschland ist ein nationaler Staat
von sechzig Millionen Einwohnern ge
worden. Tag zeigte mit wenig Wor
ten das Laiserliche Statistische Amt
Jan. Es hat die mittlere Bevölkerzæ
’des Jahres 1905 aus 60,164,
Köpfe berechnet; hieran mag einiges
unrichtig sein, jedensalls haben Ivit
mit dem 1. Juli die sechzigste Milliss
überschritten.
Das Aufsteigen der deutschen Bos
völterung ist bewundern-werth. Uns
dem heutigen Reichsgediet hatten wir
1816 24,383,0t)(t, 1850 35,397,M
Einwohner. Der Geschichtsschreihrr.
welcher etwas tiefer sieht, weiß sehr
wohl, daß der tiefste Grund der ge
waltigen Expansion Frantreichs un-.
ter Napoleon dem Umstande zu ver
danken ist, daß Franlreich damals der
bevölkerungsreichste Staat Europas
war. 1870 stand das Verdöltniß
zwischen Frantreich und Deut chland
gleich. Beide hatten (ivir verwenden
hier und in Zukunft nur runde Zah
len) 381«.T- Millionen. Jndem wir
Elsaß - sothringen etoberten, stiegen
tvir aus 40 Millionen, Frankreitix
siel aus 37 Millionen. Seitdem ha
sich Frankreich langsam aus 39 Mil
lionen Einwohner entwickelt, Deutsch
land stieg jedoch von 40 Millionen
aus 60 Millionen.
Die 20 Millionen unserer Bevölke
rungs unahme würden genügen, 10
neue rrneecorps auszustellen. Und
diese körperliche und damit auch ei
stige wirthschastliche Ueberlegen it
sichert für dieses Jahrhundert unse
rein Volke das Uebergetvicht in Eu
ropa. Und diese-:- Teutsche Reich ist
durch die ungeheure Vermehrung der
Einwohnerzahl nicht witthschaftlk
und gesellschastlich herunter dtit
toorden, wie z. B. China, de en se
völterun verarmt. Jtn Gesund-M
dcis Me r von 20 Millionen M en
ist bereitwilligst von der Jndu rie
ausgenommen und oersorgt wor n.
eOie Löhne und Einkommen sind seit
1870 nicht gesunken, sondern gewal
tig gestiegen. Nicht nur mtlttärisch,
sondern auch wirthschastlich erzwingt
das deutsche Volk mit der Wucht ser
ner Schtverkrast seinen Antheil an
der Erde. Deutschland hat 540,000
Quadrattilometer Flächengebiey
Großbritannien und Jrland 314,000.
Deutschland hat 60 Millionen Ein
wohner, Großdritannien 42 Millio
nen. Was ist« da Wunder, dass
Deutschland beginnt, mit seiner Jn
bU » muchtvFll auswärts u streben
un dasz es uberall als in usttiellek
Nebenbubler Englands erscheint«