Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, October 07, 1904, Zweiter Theil, Image 12

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    Die wunderdoktorin.
Novelle von A. Trinius.
Gestein Nachmittag um vier Uhr
—- fammtliche Fabritpfeifen der gu
ten Stadt Lerchenthal gellten frech
. sie echte Straßenjungen in die feier
sg cichen Glockenschläge der Uhrthürme
von Kirche« Thor, Rathhaus und
Bergschloß — da haben sie das bis
chen irdische Theil der alten Wunder
dottorin Barbara Zimmermann der
Erde übergeben. Es war kein-e ..große
Leiche«, wie man hätte nach dem
Ruf der Alten erwarten dürfen. Der
Pfarrer, die Kurrende, die Todten
frau, ein Häuflein wackeliger Nachba
rinnen aus der Gasse, in der sie ein
langes Menschenalter gehaust hatte,
waren erschienen. Dazu schluchzende
Kintschweiber, die bei keiner Beerdi
ttng fehlen, und etwas neugieriges
ungvoli. Verwandte folgten dem
rge nicht, da die Verhlichene keine
hinter-lassen hatte. Wäre es nach Recht
und Billigkeit gegangen, fo hät!: viel
leicht wohl das hblbe Städtchen der
Todten die letzte Ehre aeben müssen,
da so viele Hunderte bei ihren Lebzei
ten Rath und Hilfe bei ihr gesucht
— hatten. Doch ein solches Zugeständ
niß der Oeffentlichteit gegenüber er
schien ihnen doch etwas undeauem.
Es war ein unschönes, runzliges
Weibchen gewesen. Etwas Unheim
liebes haftete ihm an. Jm dumpfen
Mittelalter würde man es zweifellos
auf dem Scheiterhaufen in’s Jenseits
befördert haben. Mit leis wiegendem
Kopf. die halb verschleierten Augen
unruhig und lauernd hin und her
schweifen lassend, schlurrte die Alte
einher, die gekrümmtem welken Hände
wie tastend vor sich hinbewegend. Mit
ihrem graubiirtigen Mann, einem ehe
maligen Pfeifendrechsler, bewohnte
sie ganz allein ein schmales, zweiftöcti
ges hauschen in einer der langsam
aufsteigenden Berggafsen des Städt
chens. Jn dem unteren Stübchen ne
ben dem hausflur wurden die Kun
den empfangen, darüber neben dem
Schlafrauni war das Wohnzimmer.
Fenfierspiegel beitrichen da die
aus und ab, so daß ihr nichts
entgehen konnte, was draußen kam
und ging. Die Wunderdottorin selbst
sa hinter der Gardine. scharf beob
.d zuweist eine Tasse lichtbrau
nen Kassees im Schoße. Sommer und
Winter wurde ein Feuer in dem Stu
beuosen unterhalten, in dessen Röhre
eine bauchige, braune Kanne ihren
Lieblingstrani warm hielt. Kuchen
und Kassee bildete die Hauptnahrung
des alten Ehepaares dem keine Kin
der beschieden gewesen waren.
Barbara Zimmermann war nicht
sanz ohne Konkurrenz im Städtchen.
igab da außerdem noch fiinf Dot
toren siir Menschen, einen siir das
ciebe Vieh, zweiNaturheilärzte, die
nebenbei noch achibare Beamtenstel
lungen einnahmen, und endlich ein
Schneiderleim das mit heilsamen
Kräutern der leidenden Menschheit
beisprang, aus den Sternen aber das
Geschick Hoffender und Liebender an
geblich heraus-las.
Barbara Zimmermann aber war
allen an Scharsfmn über. Selbst von
den Studitten tam ihr teiner an
Weisheit nahe. Jhre Diaanosen wa
ren einsach von verblüssender Schärfe
und Richtigkeit
»Sie bat den Teufel im Leibe!«
meinten die einen.
«Sie ist ein Sonntaastind!« mein
ten die anderen. »Wer das ist, der
sieht mehr wie wir. Der auclt durch
Eisen und Stein und prüft, wie Gott«
Der n und Nieren!"
ine dritte Partei aber sagte gar
nichts. Das war jene, welche die
Heil- und Sehertrast der Alten nicht
in Anspruch nahm, sondern, kam das
Leg-reich ’mal aus diese, still für sich
Ja in der That: der Mandat-cito
rin Diagnosen wirkten wie Himmels
assenbarungem Den meisten aber siel
es gar nicht aus, daß sie solche nur im
rissen hause stellte, außerhalb aber
sur zu Kranken eilte. wenn es sich um
A—
den Blick, das Befprechen handelte,
Infizkn der Hände, Anhauchen un
urrneln seltsamer und unver
ständlicher Sprüche. Auch war sie ftets
bereit, mit gläubigen Seelen sich um
Mitternacht an einem Kreuzwege im
« nahen Wald einzufinden, wo dann
, Ileauntvurzeh Mausezahn und Krö
ienaugen eine nicht unbeträchtliche
Rolle spielten und tiefftes Schweigen
während der feierlichen Handlung,
He Grabesverschwiegenheit fpäterhin
den Nachbarn gegenüber, eine Haupt
hedingun bildete.
Das under ihrer Diagnvfen aber
, vollzog sich wie folgt:
Qiinglinglings Die hausthiit der
Bunderdoitorin öffnet sich, und eine
freundliche Frau mit Hut und Man
E hetritt den ftillen Hausflur, un
xchssffiz wohin sie sich hier wenden
Ill. Der Klan einer Holzaxt hallt
as ihr Ohr. leich daran trottet
- M Hofe her der alte Zimmermann
, St Siehst zum Gruße das verbliebene
Iswpcheu und dienert dem Be
u
ice du met Guckeda! Wahrhaf
de Madame Kummissärt Bitt’
i« Er öffnet die Thin zur Em
Jtm I METWWOO 2
taki pre n «
give Irr-? åi aewißt Bitt
— Hat Se wäin äns FÆ detiith
thM « r wt tm et
Z W Schürze iiber einen Stuhl
i ig und fasiebt leiteten dann
f es Qsmmissär hin. »Se tummt
« W er dann fart,« ·fe is nur
« i- s- Miso-it Ich Gott
- M is traut, wohin mer
ZEISS-i Dvsdert sticht
briebwarm unn nu diese Dundeksltel
Nadierlich söhrt das einem in die
Knochen! Mir is ’S au nicht ganz
get-einst
»Seit acht Tagen habe ich Abends
einen Schüttelsrost, scgeich Ihnen«
.Sähn Se, sähn ! Unn denn
so dumm im Koppi GelletF
.Ja, der Druck sorttoährendl
Und ein Ohrensausen . . . . acht«
»Mertroiirdig! Unn sast immer im
linken Obr! Nich?«
« ch hab’s im rechten.«
»Ob« so, im rechten! Kenne das! ’s
legte Mal hatt ich’3 au noch im Kreis
. . . . ich sah’ Jhnen.«
»Mir-licgt’s aus der Brust.«
« a, Ia.«
» einen rechten Appetit.«
«Rich wahr? Unn gerade damals-,
da habn mer mit Nachbars zusam
men n Schweinchen geschlacht . . . . ach
ich ma ’ gar nich dran denken! Na,
meine xru ’s wärd doch nichts
Aernsthastes beim Schlosserheinrich
sei? Se müßt schon längst wieder
hier sei.«
Weiter spinnt sich der Faden der
Unterhaltung ab.
Barbara Zimmermann hatte oben
im Fenstersmegel die Frau Kommis
sär aus ihr aus zusteuern sehen.
»Th:obald.« rief sie die Treppe
hinunter. »Geichwind, geschwind! ’s
kommt jemand! Ae Kandel«
Da war der getreue Mann und
Helfershelser flugs in den Hof ver
schwunden. Di-: Wunderdoltorin aber
war sacht aus die Diele ihres Wohn
zirnrners niedergeglitten und hatte
das eine Ohr fest auf ein Loch ge
drückt, das nach unten mitten in der
Decke mündete, wo innerhalb eines
Sterns ein pausbackiger Engel aus
Papiermasse heiter lächelnd an einem
bunten Faden niederschwebte. Da lag
sie und lauschte und lächelte. Dann
erhob sie sich, schlich aus den Strüm
Pfen die Stiege hinab, fuhr wieder
in die Hausschuhe, bewegte tlingend
dte Hausthür und trat dann in die
Embsangsstube unten ein.
»Ei, guten Tag, Frau Kummissärl
Nähmen Se’s nur nich ibel, daß ich
Se hab’ so lange warten lassen. Zehn
Oeme unn Vanoe mocht mer jetzt ha- «
den. ’Z Se ä Elend, wenn mer nicht
allen helfen kann, wie mer möchte.«
»Gesundheit ist das beste Gut!« be
stätigte fromm Herr Theobald Zim
mermann.
.Nu, Theobald, nu kannst de aber
naus geh’. Das is Meibersache, was
mer beide zu tun haben!« Die Thür
IchloßD sich hinter dem Pseisendrechs
er a
..,So so. Bleiben Se nur sitzen
Frau Kommissar, bleiben Se nur!«
ubr geschwätzig die Wunderdottorin
sort «’3 talt draußen, gelie? Da
sliegt’s einem nur to an!« So, nun
gen Se mal!« Sie fiihlte der
Zion am Puls, sie sah ihr starr in
die Augen, behorchte den Athern und
betlopste behutsam einige Gesichts
theile
,.Das Ohrensausen irn rechten Ohr
möchte ja noch gehen so merk
tviirdig es auch is. gerade im rech
en.«
Frau Kommissär riß die Augen auf
und blickte wie fassungslos der Alten
in’s Gesicht. Diese aber ließ sich
nicht einschüchtern, sondern fuhr fort,
das Ergebniß ihrer wunderbaren
Diagnose zu Vertünden.
«Se hätten nich sollen erit acht
Tage mit diesem Schüttelfrost Abends
.. . . dem Stirndruck warten . . . . das
is nich gut . . . . das soll mer nich!«
Frau Kommissar wollte antworten.
Aber wie in Bann und Zauber war
sie gelegt. Wie aus einer anderen
Welt schönste da dieses alte, unschein
bare Weib ihre tiefsten Kenntnisse.
Appetit au nur wenig. hm, hin!
Aber ärscht müssen wir die Brust
schmerzen wegbringen, Frau Kum
missiir! Das ig mer ’s Wichtigste.«
Frau Kommissär sagte überhaupt
nichts mehr Sie fühlte nur das eine,
daß sie sich in dieser Stunde mit
Haut und Haaren der iibernatiirlichen «
Sibylle rerschrieben hatte. Mit einer
wahren Demuth vor der- schier unsaß
baren Größe menschlicher Weisheit
und Ertenntniß nahm sie lebhaft dan
kend das Büchschen Salbe wie den
Kräuterthee in Empfang, Verhal
tungsmaßregeln und Rathschläge
dann verließ sie das qeheimnifivollx
haus, nicht ohne vorher lautlos un
fast schüchtern ein hübsches Stück Geld
aus den Tisch niedergelegt zu haben
Für die nächsten Wochen aber wirtte
te wie ein Apostel, der den Ruhm ei
nes Propheten hinaus in die Lande
tragt. Von Haus zu haus, von
Kränzchen zu Krönzchen rührte sie die
Werbetrpmmel zu Ehren der gottbe
nadeten Wunderdottorin Barbara
immermann.
Kaum aber hatte an jenem Ta
sich die hausthür hinter ihr gefehlt-I
sen, da steckte der ehrenfeste Meisen
drechsler a. D. sein saltiges Gesicht
psifsig in di Stube hinein.
»Was« fragte er insend
JDrei Mart hate gegeben . . : mit
der Ar neit«
»Un osten ?"
»Im-Iris Pfennig-»
Und dann lachten sie sich beide an
Aber ei war nur ein gedämpstes, ganz
eigenes Lachen, welches das Echo dej
seltsamen hinsei nicht wachrief. «
Es blieb also mir recht und billiz
das Mckge Mit Treifsichetheik ger
Diana-sendet Ansehen der Al
ten immer bis rn mnßtem Mr
Eran sagte: was heßifeuhykiäcder M
ask-»sehr net-IT «w sechs-s
sei tttel verfsgen Seht-ign- diese
der-sieht ein.
III-I UMIXW derbes
W
intmermann. Da hatte man sicher
ch etwas verseblt, oder der Glaube
toar nicht kräftig genug gewesen.
Als nun aber eines-Tages das men
schenfreundliche Ehepaar mittels des
o graltischen Hörrohrs sogar zwei
Lie nde zum Bunde fu« Leben zu
kommengebracht hatte, da durfte die
chauen. Ein Ereigniß siir sie und die»
Gasse war es jedesmal, wenn die Titel
W einer Besprechung hinaus aufs
underdottorin noch stolzer unt lich
Land zu einem Gutsbesitzer abgeholt
wurde. Da slog’s wie Sturmseuer
von Haus zu Haus-:
«Jemersch, emersch! Schon wie
der ne Chaise!«
,,De Wunderdottor’n kann sich
gratulirenk ’n pitseines Geschirr!«
«Mach’ hin, daß ich’s au ’mal ge
sieht'«
»Na, da tommt se ja angedilet!
Gurt, guctl Scheint ’ne ganz neie
Fahne anzuhamm?"
Mu, ’S Geschäft wärst doch au
Da stand die Alte vor der Haus
thiir aus der obersten Steinstuse, dun
tel gekleidet, mit Maniille und Kupp
but. Sie bob den Kopf und nickte
lauernd und auch wieder ftolz die
Gasse auf und ab, ob es auch jeder
sähe, ob Giebel zu Giebel sich tuschend
neige und die Spatzen neugierig die
Augen verdrehten. Und dann stieg
sie langsam die vier Stufen hinab,
nickte feierlich dem Kutscher zu .....
schtoabbs flog der Wagenschlag zu,
und hinaus gings in's offene Land.
Jahrzehnte waren to dahingegan
gen. Sparsam gelebt mit einer wach
senden Kundschast sich erfreut! Da
war Mart zu Mart geflossen, und die
unscheinbare Triibe zwischen den Bet
ten beider barg bereits eine hübsche
Ersparniß. So manchmal tniete
Abends die Alte davor und zählte und
zählte. Und eines Tages, als sie wie
der mit der Kaiseetasse im Schoße am
Fenster saß, da lonnte sie dein mit
Reisigholz aus dem Walde heimkeh
renden Mitbelfer ihrer segensreichen
Thätigteit das freudige lseheiinniß
ab
UllUlllUllkIL UOH IIUc llllw UckIYUlP
dert Mart an den io vielen Tausen
den fehlten.
»Kriegen mer au noch!« schmunzelte
der Alte. »Kriegen mer!«
»Mehr noch! Mehr! Theobald!
Wenn’s so weiter geht.«
Es ging so weiter, noch ein paar
Jahre hin. Frühling war wieder ein
mal mit Sang und Sonnenschein
vom Westen her über die Berge ge
kommen. Ein neues Werden ging
zitternd durch die Welt. Aus jedem
Menschenauge fchien es im geheimen
Jubel hervorzubrechem Nur in denen
des alten Zimmermann nicht. Der
lag drohen auf dem Sopha eingehiillt,
hustete und stöhnte. Die Wunder
doltorin hatte ihm ein lösendeö Säft
chen eingegelcsem Jn der Osenröhre
hrodelte start duftender Thee.
Unten stampften wieder einmal
zwei Braune vor einem Wagen, der
die Alte auss Land shvlen sollte.
geistlich angethan, war sie an das
ager des unruhig sich umherwälzem
des Mannes getreten.
»Mir Geduld, Alterl Heit Abend
ist’s bessert Kannst dich dran der
lass’n! Wenn die mer heil zehn Mart
gäben — dreimal war ich nun da —
dann ha’n mer die Viertausend voll.
Du, Theobald, Viertausend!«
»Viertausend!« wiederholte der
Kranke mechanisch, während seine Au
gen wie verständnißlos die Frau an
blickten.
»Wenn das die Leite wüßten! He
hehet So, unn nu sei gescheit
trint fleißig Ther! heit« Abend ists
besser! Ade!« Sie ichlurrte hinaus.
· Der Kranle schen-leihe naochz nndL
Icinc Lippcn Mllkmcllclls »Ulckllllls
send! Vier tausend!
Vier«
Er schaute noch immer nach der
Stubenthiir mit seinen müden Au
gen, als Barbarn Zimmermann gegen
Abend in das dämmerige Stäbchen
eintrat
,,So! Nu hammer’s zusammen!
Biertausend Mart!«
Keine Antwort. Jur der starre
Blick des Mannes auf sie gerichtet.
»Du! Alter! Hörst’s nich? Bier
sausend Mart!« Sie zog aus der
Tasche ein blinkendes Goldstück und
hielt es ihm iriumphirend hin. Dann
Jus einmal schien eine furchtbare Er
ienniniß über ihn zu kommen. Aus
allen dunkeln Ecken und Winkeln
rannte es eintiinig, grausig: «heit
Abend ist’ö besser!« Das Goldstück
entglitt ihrer Hand, sie stürzte zum
Sopha und fiel mit einem lauten
Schrei dort in die Kniee.
«Theobald! Theobald!«
Sie fuhr mit bebender band über
seine Stirn . . .. kalt, talt!«
«Theobald! Wach’ auf! Du
du . . . Jch bin’s sa."
»Die Wunderdottorin!« schien es
ringsum zu höhnen.
»Du mußt leben .. . Du sollst noch
leben . . . Was soll ich denn ohne dich
hier machen? hörst du nichts Du
sollst hören Du sollst ausmachen
. . . So hör-l doch!«
hut und Mantille hatte sie abgeris
sen. Dann ergriff sie seine hände
und rieb sie in den ihrigen. Sie
schleuderte die Decke fort, zerrte das
Hemd iiber der Brust auceinander und
beugte sich lauschend zum herze-i nie
der. Still, ganz still!
«Theobald!« wimnrerte sie. »Du
dntfß nicht fort Du sollst« . . .
Sie flog empor. re Augen trafen
die anderen, die in den, starren.
Vettmeaiibnsie in Schwer-.
, und Beriweiflunz Sie faßte
m im sit des Dein-n u
M -———-.——O———
schleuderte es sinchend zu Boden. Sie
»schiittelte den Todten, als wollte sie
; damit das entflohene Leben noch ein
mal zurückrusenz wild raufte sie sich
das graue haar.
»Wunderdoltorin!« schrie sie aus.
«Hahahaha!" Und dann brach sie de
wußtlos iiber der Leiche zusammen.
Das war an einem Frühlings
irbend. Lange hat dann Barbara
Zimmermann den heimgegangenen
nicht überlebt. Und das war gut siir
den Rus ihrer Wundersirma. Mit
dem Tode ihres Mannes hatte sie die
Dottorei im Hause ausgegeben. Sie
sei zu schwach, erklärte sie überall.
Das Kuriren ersordere zu viel Kraft,
wolle man den rechten und sicheren
Blick haben. Sie niiisse sich erst wie
der von dem schweren Schlag erholen.
So war der Sommer in’s Land
gegangen. Alltäglich sah man die
Alte droben am Fenster sihen, die
Kasseetasse irn Schoße, das runzelige
Antlitz noch um einen Schein blässer
denn ehemals. Jeden freundlichen
Gruß erwiderte sie mechanisch, welt
abgewandt. Und als sie eines Tages
nicht mehr grüßte und am anderen
Morgen noch so eigenthiimlich steis
und feierlich am Fenster saß, da stie
gen Nachdarsleute hinaus in ihre
Stube.
Die Kasfeetasse lag zerschellt am
Boden. Die Wunderdotiorin aber saß
noch immer in ihrem alten KorbstuhL
nur ein wenig nach hinten zurückge
sunlen. Jbre Augen waren starr
hinaus wie in die Ewigteit gerichtet.
H-.-—-—
In Fesseln und doch frei.
Eine wahre Kriminalgeschichte von
R u s u g.
Dunkel war die Nacht und der Hirn
mel hing voll schwerer Wollen. Rauh
wehte der Wind und auf Gras und
Blättern lagen Regentropfen, der Erd
boden war durchweicht und schlammig.
Mit durchniißten Kleidern und
schlammbedecttenStieseln schleppte sich
eilends ein Mann durch das Kornseldz
er war schon vollständig erschöpft und
tonnte kaum noch weiter. Seit zwei
Stunden war er auf der Flucht, es
handelte sich für ihn um Leben oder
Tod. Mehr als einmal war er genö
thigt gewesen, umzulehrem um weiter
zu können, trotzdem er wußte, daß jede
Minute kostbar war. Denn seine Ver
folger waren hinter ihm, und sie konn
ten ihn nicht verfehlen; jeder Fußtritt,
den er that, hinterließ in dem weichen
Boden seine Spuren. Wird es ihm ge
lingen? Wird er ihnen entkommen?
Oder werden sie ihn fangen nnd am
nächsten Baume austniipseni Auf
Barmherzigkeit von ihnen hatte er
nicht zu hoffen. Wie wenig hatte er
sich ein solches Ende träumen lassen,
als er vor kurzen zwei Monaten seiner
lieben Mutter im fernen then Lebe
wohl sagte und ihr« den Abschiedstuß
gab!
Was hatte er in diesen beiden Mo
naten alles durchgemacht! Und nun
floh er vor einem wüthenden Mob, der
ihn verfolgte, weil man ihn für einen
elenden Mörder hielt. Er war tein
Mörder-, er wußte es, und einige We
nige, die ihn tannten, glaubten es ihm
und waren von seiner Unschuld über
zeugt. Aber die Geschworenen hatten
ihn »schuldig« erllärt, denn alle die
Umstandsbejreife hatten gegen ihn ge
sprochen. Und alg der Anwalt, den
man ihm gegeben hatte, und der zu
denen gehörte, die ihn siir unschuldig
hielten, rg schließlich durchseyte, daß
ihm ein neuer Prozeß bewilligt wurde,
weil er Zeugen beibringen wollte, die
ein Alibi siir den Verurtheilten nach
weisen würden, da hielt die aufgeregte
Menge das für eine beabsichtigte Ber
eitelung der Justiz und nahm sofort
eine drohende Miene an.
Jn seiner Zelle lag Gilbett und
horte, wie sich draußen vor dem Ge
fängniß das Voll zusammenrottete.
Das Gebäude konnte keinen Schutz ge
währen, es war alt und leicht gebaut.
Die Menge war sehr aufgeregt, denn
ter Ermordete, David Westford, war
ein heliebter junger Mann gewesen,
ter mit seiner alten Mutter und sei
nen Geschwistern in der Nachbarschaft
gelebt hatte; die Familie war aus dem
Osten gekommen und hatte dort zu
isen Quälern gehört. Sie waren
schlichte, fromme und ziemlich wohl
habende Leute. An einem Abend war
David auf dem Heimwege erschaffen «
nnd beraubt worden. und der junge
Gilbert war der That verdächtigt
worden.
Der Prozeß hatte stattgefunden,
und da er nth satte nachweisen kön
nen, das; erz r it anderswo gewe
sen war, und da verschiedene Um
stände gegen ihn sprachen, so war er
verurtheilt worden. Der Sheriss, der
zu denen gehörte, die ihn für unschul
dig hielten, und welcher befürchtete,
Laß man ihn tynchen werde, hatte ihn
nach dem nächsten Month-Gefängniß
schicken wollen. Er iibergah ihn lac
sesselt seinem Sohne, während er se hst
am Plane blieb, um den Moh daran
zu verhindern, irrthiimlieh irgend
einen anderen Gefangenen zu nehmen
und aufzuhängen Als der Moh sah.
oaß der Gefangene fort war, machte
er sich sofort auf die Verfolgung, und
der Sohn des Sheriffi, als er er
kannte, daß er mit dem Gefangenen
reicht mehr weit kommen könnte,
eingeholt in werden« na die ein
die Fesseln eh und ließ t lau en.
cr stand-te fest an die titsche-D det
selben und nahm ihm nur das Ver
brechen ah, sich seinem Vater wieder
zu ellen
nige Minuten hatte Gilbert ge
ruht, an die Fenz des Kornfeldes ge
lehnt, aber er mußte weiter; in der
stillen Nacht hörte er schon in toeiter
Ferne die Stimmen seiner Verfolger.
Er kletterte iiber die Fenz und tam
endlich auf eine feste Straße, aus der
man wenigstens seine Fußtritte nicht
mehr sehen lonnte. Die Verfolger
tonnten dann wenigstens nicht wissen,
nach welcher Seite er sich ewendet
hatte. Aber was half das? »die wer
ten sich trennen und ihn nach beiden
Seiten hin verfolgen. Und er itft so
erschöpft, daß er nur noch langsam
vorwärts lonimt; sie werden ihn bald
sanaen.
Da sieht et nicht weit von sich, etwa
eine Viertelmeile entfernt, ein Licht.
Es ist ein Farnihaus ——- wie friedlich
und ruhig liegt es dort. Da wohnen
Menschen, glückliche Menschen, viel
ieicht ein Vater und eine Mutter mit
Söhnen und Töchtern. Ob sie ihm
wohl helfen werden, wenn er dorthin
geht, oder ob der Former ihm die
Hunde aus die Fersen hetzen wird?
Das Fenster ist das Küchenfenster,
und darin sitzt eine ältere Frau mit
silbernern Haar und ein junges Mäd
chen; die erstere näht, die letztere liest
ihr vor ——-- das Feuer im Herde brennt
hell. Und beim Schein dieses Feuers
erkennt er die beiden Frauen, und
zum Tode erschrocken bricht er fast zu—
sammen -- das sind die Mutter und
die Schwester deg ermordeten West
sord. Wie oft hat er sie in den letzten
Tagen gesehen, als sie bei den Pro
zeßverhandlungen in seiner nächsten
Nähe gesessen haben. Tief traurig
und gottergeben hatte die Mutter dort
zugehöri, und mit bleichem, reinem,
feinem Gesicht war die Tochter den
Verhandlungen gefolgt; ihre duntlen
Augen, die mit langen schweren Wien
tern bedeckt waren, hatten ihn so oft
prüfend angeschaut
Was sollte er thun? s— er toußteeg
Liebt Da stand hsg Clnfihkhsn einen
Stuhle auf und nahm einen Wasser
trug; sie ging zur Thiir und trat her
aus. Und es war ihm, als ob eine
Stimme in seinem Jnnern sagte: »Sie
wird mir helfen!« «
»Um Gottes Willen, Miß Westford,
helfenSie mir!«« stnß er mit gepreßter
Stimme aus und erschreckt, aber schnell
gefaßt, fragte das Mädchen: »Wer bist
du? —Denn sie sprach »Du« zu ihm,
Ivie die Qualer das thun.
»Ein Flüchtling bin ich! Mich ver
folgt eine wüthende Menge. Sie sind
dicht hinter mir-— ich tann nicht wei
ter. Jch bin verloren, wenn Sie mir
nicht helfen, wenn Sie mich nicht
retten!«
»Wer bist du?« fragte sie weiter,
and mit stockender Stimme, denn das
Herz stand ihm fast still dabei vor
Angst, antwortete er: »Gilbert Hazles
ion.«
Das Mädchen stieß einen scharf-en
Schreckensruf aus, aber sie faßte ich
schnell-in der Ferne sah man jth «
die Lichter der Vetfolger aufleuchten.
»Ich muß die Mutter fragen.«
Sie eilte hinein und er folgte ihr.
Mit fliegenden Worten theilte die
Tochter der Mutter das Nothwendige
mit und diese, eine weißhaari und »
ihrwiirdig ausfehende alte Same,
sprach zu ihm in fast bitterem, vor
murfsoollen Tone: .
»Also du haft den Muth, von David
Weftfords Mutter Hilfe zu erstehen?«
»Warum nicht? Ich habe ihm nie
-t-.-D « te-:h- --sr.--i« te. .t.- ----- .
------ I- sos s mu Ist- Ist '
sweiselt aus »So wahr ein Gott im
Himmel tebt, ich bin unschuldig an der
That, deren man mich beschuldigt. Jch »
will es beweisen, wenn meine Freunde
kommen — aber das wird zu spät sein,
reenn Jhr mir nicht hetft!«
»Aber ich kenne dich nicht. Du H
sprichst gut — aber thun das nicht auch
salle Verbrecher? Du hast einen ehe
lichen Prozeß gehabt und deine Un
schuld ist nicht erwiesen worden. Wa
rurn sollte ich den Mörder meines
Sohnes retten?«
Fum Tode erschöpft, sank Gilbert
tu einen Stuhl. «Jk,r werdet es er
fahren, daß ich unschuldig bin, wenn
is zu spätist Glaubt es einstweiten,
nehmet das Risiko aus Euch. Es wird
Euch später weh thun, einen unschul
eigen Mann nicht gerettet, sondern
ihn in den Tod eschickt zu haben-«
»Ernestine,« f
thun?«
agte die Mutter tief
bewegt zu der Tochter, »was sollen wir ·
Tet sorgen-e Familie-wetle
Anstaltsditektot izum Sinkt-check »Hört-ten Sie denn das Eint-reden gar
nicht lass-alt'
hsiee vorläufig noch nicht« bis mein selieiier soweit iiiP
Die Tochter stand in der offenen
Thür, drinnen die Mutter mit dem
Flüchtling nnd draußen in der Ferne
kamen schon die Verfolgu, sie fa ihre
Lichter, sie örte schon ihre Stimmen.
»Wir mii en uns schnell entsgidem
Er ist vielleicht unschuldig Der chiti
dige würde nicht in unser hauc, in das
Heim Dadid’s, kommen, um ilfe u
suchen. Und wenn er ein M«rder ist
—- die da hinter ihm her sind, werden
anch nichts besseres sein als Mörder,
wenn sie die Gerechtigkeit in die eigene
Hand nehmen nnd ihn tödten.«
,,Also du iagsl, daß wir ihn retten
sollen?«
»Ich tann nicht anders,« sprach die
Tochter, nnd die Tochter schritt eilends
zn dem schweren Schrank, der in der
tiefe stand. Dort lagen in einem Ka
sten ein Paar Handschellen, die David
benutzt hat« als er eine Zeit lang De
Paty-S-heriff gewesen war. Sie nahm
dieselben und sagte zu Gilbert: »Ich
linne dich nicht nnd weiß nicht, was
wir von dir vielleicht zu befiir ten
haben, wenn die Ver-folget wieder ort
sein werden. Willst du dir diese Fes
ssln anlegen lassen, dann meinst du es
ehrlich und wir werden dich verstecken,
und wenn die Verfolger wieder fort
sein werden« dann werden wir dich dem
Sherisf ausliefern.«
Gilkett hielt sofort seine Hände hin
Zur Fesselung und nun glaubten ihm
die Frauen, nnd die Tochter führte ihn
ins obere Stockwerk in ein Zimmer
tipen. wo eine Art von Fallthiir im
Boden war es war da eine Vertie
fung, nur wenige Fuß tief und lang,
wo Allerlei aufbewahrt zu werden
pflegte. lieber der Fallthiir stand ein
Bett. Dieses rückte das Mädchen eilig
weg, öffnete die Thiir und der Gefes
ielte kroch in die Vertiefung, deren
Ihiir sich wieder über ihm schloß.
Durch den Breiterboden hindurch hörte
·r, wie die Verfolger ankamen, wie sie
sams- nnk SI)-k».««c.:;»-- h..-«t.k..-IJ-..
C
------------------- VI- ISSWIUWISII
» »
nnd wie der jüngere Bruder des Er
mordeten, der von der Mutter unterdeß
geweckt worden war und der leine Ah
nung von der Anwesenheit des liicht
lingg im Hause hatte, den Ver olgern
:oiinschte, das; sie des Mörders bald
habhaft zrerden möchten.
Endlich war die Durchsuchung vol
lxndet und die Verfolger zogen unver
richteter Sache ab. Bald darauf larn
Erneftine heraus nnd befreite den Ge
fangenen aus seinem Versteck —- aber
sie ließen ihn gefesselt, denn sie wußten
jsi noch immer nicht, ob sie ihm trauen
konnten, rrsenn sie es auch glaubten.
Tie Tochter schirrie den Waaen an und
noch gefesselt setzte sich Gilbert zu ihr
..nd sie fuhr mit ihm fort, um ihn dem
Eherifs zu übergeben. Noch ehe sie
1ach der Ortschaft lam, sahen sie den
Sherifs, der sich mit mehreren Män
nern nnd seinem Sohne aufgemacht
iiatte, um den Gefangenen zu suchen.
Der Sheriff war hocherfreut, den Ge
iuchten so bald zu finden. — Ernesiine
Iaite demselben, schon ehe der Sherifs
herangelornmen war, die Fesseln abge
rrmmen, und hatte sich dabei entschul
nai, daß ihre Mutter der Vorsicht hal
ber diese harte Maßregel habe anwen
den müssen —- Ioeiin er nicht wolle,
brauche er ja dem Sherisf davon
nichts zu sagen. Gilbert wurde nun
rom Sherifs sicher nach dem Countyi
zesängnifz gebracht.
Zwei Monate später fand sein zwei
er Prozeß statt und da seine Freunde,
Iie zu feinem ersten Prozeß nicht recht
zeitig hatten herbeigebracht werden
:«onnen, nun erschienen, so wurde sein
zllibi nachgewiesen under als unzwei
7elhaft unschuldig freigesprochen.
Unter Benen, die ihn nach der Frei
Tprechung sogleich beglückwünschten.
oaren vor allen Frau Westford und
Irre Tochter Ernestine. Bald darauf
var Gilbert in dem Hause, in das er
Zuerst als Flüchtling und verurtheil
.-r Mörder gelommen war, ein gern
resehener lieber Gast und es dauerte
nicht lange, da war seine Retterin
eine Braut. Und die Fesseln, die sie
lnn jetzt anlegte, waren noch fe er als
Die, mii denen sie ihn in jener f limrns
ien aller Nächte gefesselt hatte. Aber
r trug sie gern.
Schlatter-eis.
Prinzipal: »Wenn ich Ihnen siir se
ven Fehler, den Sie machen, nur zehn
Bfennig von Jhrem Gehalt abziehen
vollth da würde nicht viel übrig blei
Ien.«
Kontorist: »Bei dem Gehalt aller
)ings!«
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