Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, October 25, 1901, Sonntags-Blatt, Image 16

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    Ewgell denf INSECTA-ning
Roman von SCHOTT-TM THE-HEFT
Autorifirtc deutsche Uebersetzung von E II Eis-. skiz
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.Reoelsrvorth! l'«
«Sollte das hier folgende Jnferal
direkten Nachkommen von Dudley und
harold Revelgworttz welche beide
England im Jahre 1847 verließen und
in oen Jahren 1878 uno 1881 km
Auslande geftorben fein sollen, zu Ge
fichi kommen, dann ergeht an sie die
Aufforderung, sich unverzüglich mit
den Herren Rechtsanwälten Simpfou
u. Wart s— Bureau derselben: Lin
eolns Jem Fields 46 — in Verbin
dung zu sehen. die ihnen etwas in
ihrem Jnietesse mitzutheilen haben
durfte-X
Diefer Aufruf fiel Dudley Redew
evorllz dem Sohne eines der darin ge
nannten Männer, gleich in die Augen«
owie er an diesem Morgen nur den
II in das Redaktionszimmer der
onus-net «Morning News« setzte, an
welchem Blatte er Mitarbeiter war
und «Parifer Briefe«. Plaudereien
und Kunfttritilen lieferte.
G war ein bittertalter Tag in der
zweiten hälfte des März im Jahre
IM. Dudley Reoelswortb, eigentlich
unempfindlich gegen rauhe Witte
rungöeinfliisse, zog doch auch den Kra
gen feines fadenfcheinigen Ueberziehers
doch, als er binaustrat in die scharfe
Dittqu utn über die Seinebriiele zuln
zweiten Frihftiick nach Haufe zu wan
dern. In der Redakiion hatte er nicht
Zeit gehabt, die Bekanntmachung in
der «Morning News« eingehend zu er
wägen, und doch hatte sie unverkenn
Iar Bezug auf ihn selbst, da «Dudlen
Reoelstoorih«, der Name feines Ba
ieri, tein alltäglichet war. Dazu kam
noch, daf; fein Vater wie auch fein
« Onkel harold zu der in dem Aufrufe
angegebenen Zeit gefiorben waren.
Der junge Mann beschloß, die ganze
Sache erft einer fcharfen Prüfung zu
unterziehen ebe er tm yauslichen
Kreise etwas davon verlauten lassen
wolle. Aus diesem Grunde trat er
denn in ein an der Seinebriicke gele
geneö Restaurant und bestellte sich so
gleich eine Tasse Kasse mit Milch, fal
iete das Zeitunasblatt auseinander
und breitete es vor sich auf dem Tische
aus. Dann machte er sich, den Kopf
auf die Hände gestützt, mit ganzer
Seele an pas Studiren Deo Jnseratg.
Seine Tasse Koffer stand balI vor
ihm. Die Kellner lannten ibn nnd lie
ßen den großen Enalönder nie war
ten. Obgleich Dudley fünfzehn von
seinen siebenunbzrvanzia Lebensjahrxn
in Frankreich verlebt, obgleich er sich
den französischen Sitten angepaßt, die
Franzosen als Nation liebte und ihre
Sprache mit vollkommener Geläufig
feit sprach, so wiirve trosoemNiemand
Dudlen Revelswortb fiir einen Fran
zosen gehalten haben. Er war eng
lisch vom Scheitel bis zur Sohle, eng
lifch in seiner hellen, frischen Gesichts
farbe, den breiten Schultern und ver
sahen, marlia aebauten Gestalt, in
der tiefen« wobltönenden Stimme. der
überlegtem langsamen Sprechrveise,«
den klaren« blauenAuaen, dem lockigen
dunkelblonden löccar und Schnurrbarr.
Englisch auch war er in dem bedächti- »
gen Zaudern, in Zorn zu gerathen;
wie auch in der bullenbeißerischen
Fähigkeit und dem Mutbe bei Strei
tgteiten, wenn er sich vom Zorne uno
Uswillen einmal »iibermannen ließ,
—LA -!.--.- M-«
tun nur-tu Our-Ac, lll uuclll UUU Icllclll
war er, körperlich und geistig, eine ge- ’
lande, schöne Spezies des typischen
Engländers.
Mit 27 Jahren war er das Haupt
des tleinen Hausstandes, war die
Stütze und der Leiter desselben bereits
seit zehn Jahren, was ihm eine ge
wisse Würde und weit über seineJahre
hinausgehenden Ernst verlieh. Mit
Enttiiuschungen schon zu sehr ver
traut, ariindete er auch ietzt aus diesen
Ausrus taum große Hoffnungen, trotz
des viel versprechenden Berinerts:
«diirften ihnen in ihrem Interesse et
was mitzutheilen haben.«
«Bermuthlich handelt es sich um ein
elende-Z Leaat von einem der Manch
siee Revelsworth.« murmelte er siir
sich. »Bictoria und la Petite werden
gleich Lustichlösser hauen. Aber nach
des zu urtheilen, was der arme alte
Papa mir von seinen Verwandten er
zählt hat« und der Art, wie sie ihn be
handelt, wird es wohl taum von Be
lang sein. Selbstredend muß ich an
die hier angegebene Adresse schreiben.
Ielf-er nur zu deutlich ist mir noch er
innerlich wie mein Vater auf seinem
Sterbebett mir gebot, lieher banger
«- leiden, als mich an einen der Trä
des Namens Redelswvrth um
aIeexsduteritiituua zu wenden. Und
dich witrden ein paar Pfund Sterling
gerade ieit recht gelegen kommen.
an könnte la Jetite das Mühn-heg
ae, das lie sich so feh- wünscht,
erhalten« ·
san traut er seine Tasse aus« dann
wies er, durch die name-gehe Wär
« It« " am die Un dessel
DU strittige, nach sezahlang seiner
kxk
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bescheidenen Zeche das Reiiaukant und
trat den Heimweg an.
Das lleine Logik, in welchem die
Penaten des jungen englischen Jour
.nalisten ihren Sitz auiaefchlagen, lag
im vierten Stock eines dee hohen Hätt
set in einer schmutziaem altmodischen
Straße aus der billigeren Seite der
Seine Dudley stieg die braun ge
strichene, slachstusige tedvichlose Teep
pe hinaus jedesmal zwei Stufen aus
einmal nehmend. Vor der Korridot
tbük blieb er eineWeile stehen, lächelnd
einer Stimme lauschend, die dein ein
sranzösisches Liedchen trillerte. Es
war la Petite, wie gewöhnlich beim
Arrangiten des Feiihstiickstisches sm
send
,Hofsentlich bringt ihr dieses Zei
tungsinserat ein bischen Glück," waren
die Gedanken des jungen Mannes, als
er sich mit seinem Drücker in die Woh
nung einließ.
Von dem winziaen Entree trat man
in's Speiiezimmer, in welches alle
- übtiaen Raume mündeten. Vor einem
i Tische in der Mitte des Zimmers stand
z eine sebr lleine Dame mit Zierlich sei
; sittem, schwarzem Haar, in das sie lo
l lett eine rathe Anemone gesteckt hatte,
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i
I
gebückt über eine Schüssel Salat, beim
Zubeeeiten deselben vergnügt trät
lernd.
Bei Dudlett’s Eintreten richtete sie
ihr niedliches, pilantes, echt Pariser
Gesicht rund und blast, mit einem
Stumdfnäschem entbem Blumenmund
und glänzend schwarzen Augen, mit
einem Ausruf angenehmer Ueberra
» schung in die Höhe.
. »Da bist Du ja schon!« ries sie, dem
jungen Mann sröblich entgegeneilend
und ihn zärtlich auf jede Wange tits
send, mußte aber um bis zu feinem
Iniedergebeugten dese hinausreichen
Izu können, aus die Fußsdinen trets.
Viktor und ich hatten Dich nicht io
Izeitig erwartet,« fuhr sie aus franzö
Isisch fort, »e: ist daher noch einmal
kausgeganaen Wenn er zurückiommt
l will ich Euch beiden dann eine kleine
; Beichte ablegen, eniin eine kleine Ge
i schichte erzählen-"
Sie sprach lachend und erröthend,
mit mertlicher Nervositiit und Hast.
LMit der jth aus den Wangen kom
imenden und schwindenden Farbe er
schien sie toie 28 Jahre, wennschon in
der Ruhe ihr Gesicht ein wenig älte:
aussah.
.Vat Dich denn wieder Jemand mit
Heirathsanträgen arauiilt2« fragte
Dudley, «und Du wünschest, daß ich
ihm dafür den Kopf zurechtsehe?«
»Nicht doch« Dudlens Welche Jdeel
und nach allem, warum soll man mir
nicht Heirathsantriiae machen? Ei
gentlich müßte ich mich davon ge
schmeichelt siihlen nicht wahr?«
.Ra, in dieser Weise sprichst Du
ionst nicht! Aber wenn Deine Neuig
keit erzählt ist, dann habe auch ich et
was mitzukheilen,« äußerte Dudleh
und nahm aus der Brustkasche seines
Ueberziehers die Ausnahe der »Man
ing News« .Wer soll nun den An
sang machen, Du oder ich?«
Da ist Viktor! Er soll entschei
den!« rief la Petite als das dritte!
Glied des kleinen Hausstandes in der!
vierten Etaae erschien. !
Viktor Redelsroorth Dudlehs ums
oier Jahre jüngerer Stieibruder, hat- i
te in seiner äußeren Erscheinung kaum (
Aehnlichkeit mit jenem. Ein junger(
Mann von Mittelarösie und schlankem
Wachse, wurde dagegen sein intelli
aentes und sympathisches Gesicht durch l
eine iiherlanae und iiherhreiie Nase,
einen Mund mit zu vouen Lippen und «
zu weichen, sogar etwas charak:er
schwachen Zügen In denselben undj
ein zurücktretendes Kinn entstellt,
welch’ letzterer Schönheitssehler zwar
theilweise von einem kleinen, spitzen,
duntlen Barte verdeckt wurde, den er,
wie auch das Haar und den Schnau
bart, nach militärischer Art geschnitten
trug. Große, aesiihldolle und gütige
braune Augen liehen seinem Angesicht
IReiz, das nur sehr wenia von der
ISchönheit seiner Mutter besaß, einer
; kleinen Pariser «heaute«, die während
jder zehn Jahre ihrer Wittwenfchatt
s der gute Genius und die treu schützen
I de hauösee ihres Sohnes und Stief
sohnes gewesen und von beiden jun
aen Männern mit dankbar zärtlicher
Liebe behandelt wurde.
»La petite mere hat ein wunderba
rei Geheimnis- aus dem Verzin, das
sie uns mitzutheilen schmachtet,«
scherzte Victor, indem er Pinsel uno
Palette, die er mitgebracht, aus der
hand legte. »Ich habe mir das hirn
schon mit Rathen zerinartert, sie wollte
mir aber nicht eher, als bis auch Du
da seiest, etwas sagen. Jch denke mir,
der Herr Präsident hat um ihre hand
angehalten, und sie fürchtet nun die
Folgen des ertheilten Korbek.«
» »Dein Bruder hat ebenfale etwas
hesonderesO siel seine Mutter rasch
ein. »So-schwind, Dust-leih mein Sohn,
Du sosst mit Deiner Rruiqkeit zuer«
u die Reihe kommen! Ich habe so ’
-
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isftliches Frii stiick fiir Euch bereitet
— Bouillon, ardinen, ein kaltes ge
britenes Vühnchen, Salat. einen Ca
membert-Kiise, und dazu eine Flasche
vorzüglichen Medor —«
«Petite mete, Du musit das Wirth
schastsgeld von einer ganzen Woche
ausaeroandt haben! Und auch diese
Blumen und Apfelsinen und Wein
trauben hast Du noch spendirtL Es ist
auch so was Ungewöhnliches an Dir
selbst -—- Du siehst hübscher und jün
ger aus denn se ——-'
»Richtig Jahre am nächsten 1.
Maik« fiel die kleine Madame Vil
toire ihm in’s Wort. .Doch still« «
den Finger auf die Lippen legend —
»nichts verrathen! Wie beißt es doch
bei Euch in England? »Eine Frau ist
so alt, wie sie aussieht!" Ich sehe nicht
aus wie vierzig Jahre — wass«
»Fünsundzwanzia Jahre!" behaup
tete Dudlen, von Viktor in seiner An
sicht kräftig unterstützt.
»Was hat denn aber nur dieses
aroßartiae Frühstück zu bedeuten?
forschte der Leyterr. »Es sieht Dir,
petite mere, gar nicht ähnlich, so ex
tradagant zu fein."
»Mit dem Gelde, das Ihr beiden
lieben Jungen mir gegeben, habe ich
immer gut gewirthschaftet, nicht
wahr?« fragte sie lebhaft, während sie
Viktor noch einmal Subpe oorlegte.
.Eine bessere Wirthschafterin giebt
es in Paris nicht!"
»Und ich bin auch rechtschaffen aus
Euer Wohl bedacht aewesen, habe or
dentlich nach Euch gesehen, nicht
wahr? Und wenn Ihr beide den gan
zen Tag und bis tief in die Nacht hin
ein auch recht angestrengt habt arbei
ten miifsen, so seid Jbr doch glücklich
gewesen in Eurem tleinen heim —
nicht wahr, meine lieben Jungen, und
seid aern dahin zurückgekommen Und
wenn Jhr all’ Eure Ersparnisse sür
kleine Vergnügungen, kleine Aussliige
aufs Land und nach Versailles und
siir kleine Geschenke siir mich geopfert
habt, so ist das nicht meine Schuld,
nicht wahr? ch sagte ja stets: »Nein
— legt das eld hin aus die schmale
Kante«, konnte aber doch nicht um
hin, mich herzlich darüber zu sreuen.
Nicht so?«
«Du bist stets die vollkommene
Sanstmutb und Güte gewesen, petite
-rnere,« versicherte Dudleb, ihre Sand
liebevoll drückend, »unser Schutzengeh
unser auter hausgeist. Ich könnte mir
gar nicht denken, was wir ohne Dich
anfangen sollten.«
»O, sagt das nicht-« ries die kleine
Madame Viktoire unter hervorbre
chenden Tbränen.
Die.beiden jungen Männer sahen
einander verduyt an. Solches Nieder
geschmettertsein war gar nicht die Art
ihrer oetite mere, denn ein heiteres,
frohsinnigeres Geschöpf hatte noch nie
gelebt. Selbst wenn es mit der Arbeit
recht slau ging, uns die Francs recht
spärlich eintamen, so hatte sie es doch
stets fertig gebracht, heiter zu erschei
nen und aus dem dürstiasten Mate
rial herrliche Subpen herzustellen
»Und jetzt weinte sie um nichts und
s wieder nichts-, aerade als« der Winter
mit seinen Extradeoensen sür Feue
rungsmaterial und Lampenöl usw. zu
Ende ging, und die beiden Söhne in
s ziemlich lukratioen Stellungen sich be
fanden.
, Jm nächsten Augenblick lag der
Jweichherzige Viktor vor ihr aus den
Knieem sie abwechselnd tüssend und
lachend.
Es wäre nur Eifersucht, erklärte er,
seht lachend, weil er vor einigen Aben
den das Porträt einer hübschen Case
»chantant-Sängerin mit nach Hause
gebracht und aus dem Kaminsims aus
gestellt habe.
»Du weißt aber doch, petite niere,
daß sie noch lange nicht so hiibsch ist«
wie Du! Schüttele doch nicht denKopsl
Jeder bewundert Dich — der Capitän
Gerault und Monsieur Bertin unb»
Doktor Gilleö, weißt Du doch! Was?
Noch mehr Thränen2 ! halt, Dudley,'· »
ries Viktor, sich mit einem tomischenä
Ausdruck von Verzweiflung nach sei-»
vom Sidfbntdsr ausdrde Orts-END«
Deine Neuigkeit, vielleicht läßt sich un
sere petite mere sich davon zerstreuen!«
Dieser Aufforderung Folge gebend,
saltete Duoley das Zeitungshlait
auseinander und sit-« n- Os
«Revelsworth« überschriehene Jnserat
aus den »Angstsvauen" ovrzuaserk
Doch ehe er his zum Schlusse ge
langt war, hatte Madame Vittoire.
ihre Thränen aetrocknet und saß, ganz »
Ohr, terzenaerade auf ihrem Stuhle.
Wie er hernach das Blatt niederteam
sprang sie wie elettrisirt auf, nahm es
hastig in die hohe uno las mit ermu
tem Gesicht und von Aufregung leuch
;tenden Augen den Aufruf nochmals
! laut. vor. Dann tanzte sie unter
ISchwenten des Papiers im Zimmer
i herum uno drückte schließlich ihre bei
den Söhne überschwänglich ah:
»Endlich,« rief sie, »ist es gekom
men — das Glück, oon dem ich hoffte,
; daß es eines Tages kommen werdet
I Sicher ist es das Reoelstoorth’sche
» Geld, das vor 100 Jahren zuerst von
kEurem Urgroßvater erivorhen wurde«
und von welchem jetzt etwas an Euch
fallen wird, meine guten, braven Jun
gen, die Jhr so schwer gearbeitet habt
und so arm gewesen seid —«— so arm,
daß Ihr manchmal tage-, ja wachen
lang von Brod und Käse und ein his
chen Salat habt leben müssen! Aber
selbst dann, wenn Eure sitt-sen fast
ganz leer waren, solltet Ihr ans alles
-verztchten. —- anf Eure Eis-retten,
Euren Kassee ·- ans alles und jede-«
W
nur damit ich nicht darunter leiden
sollte. Ach, Jhr därst nicht glauben
dass ich undantbar sei und Eure kind
tiche Liebe vergessen habe! Nun aber«
habet Acht, wirke tein Ringen mehr
geben. tein Darben mehr-! Diese anm
ren Redelstoorths, die sind reich —- o,
ungeheuer reich! Euer seliger Vater
mochte gar nicht sprechen von Eurem
bösen Großvater, der ihn oersiieß,rvecl
er nicht in sein Geschäft eintreten
wollte, und mit ihm zugleich auch Eu
ren Onkel Hat-old aus dem Hause
jagte. Jch weiß aber. wie reich Euer
Großvater war, und daß er alles Eus
rem Onkel John hinterlassen hat, der
seine reiche Cousine Margarete heira
thete und in’s Geschäft seines Vaters
eintrat. Also — hört mich an! Jch
tann mir denken, was oorgesallen ist:
Euer Onkel John und seine Gattin
sind alt, dem Tode nahe. Vielleicht
haben sie leine Kinder und sagen sich:
Wir wollen das gethane Unrecht wie
der gut machen. Wir haben alles ge
nommen, fett wollen wir unserem
Bruder, unseren Bruderstindern ihr
Theil zurückgeben Dann haben sie
ihren Sachnzalter kommen lassen, und
dieser hat den Ausruf einriicten lassen,
und Ihr beide werdet mit ihm ver
handeln und im Triumph nach End
land reisen, um von EuremEiaenthum
Besitz zu nehmen!«
Und ietzt, nachdem Madame Vit
toire sich außer Athem geredet. sant
sie aus ihren Stuhl zurück,.noch bebend
vor Erregung ganz Thriinen und Lä
cheln.
Die kurze, von lebhaften Gesten be
gleitete Darstellung der Mutter machte
auf ihre beiden Zuhörer einen charak
teristisch verschiedenen Eindruck. Vit
1or tlatschte enthusiastisch Beifall, da
sein sanauinisches Temperament sich
von ihrer Hosfnungsfreudigteit mit
fortreißen ließ. wohingegen sein älte
rer Bruder, der nie leicht in die Liifte
stieg, feine Gelassenheit behielt.
«Erltens,« begann er, «wissen wir
nicht bestimmt, wer den Aufruf hat
einriicien lassen. Ferner kann der On
tel John fetzt eine sehr zahlreiche sei
aene Familie, Söhne, Töchter und En
tel, haben. Und die Kunde betrifft
aufialle Fälle uns nicht allein, fon
dern auch die Nachkommen unseres
Ontels hart-in der sich, wie uns be
kannt, mit einer vornehmen Italiene
rin derheirathet hatte und recht gut
eine Kinderfchaar hinter-lassen haben
tann, ais er vor zwölf oder dreizehn
Jahren durch einen Ahfturz in den
Alpen das Leben oerlor.«
»Er wird eine Tochter hinterlassen
haben.« rief Madame Vittoire, «etne
Tochter, fchön wie ein Engel! Und
Ihr werdet Euch in sie verliehen und
sie heirathen und Euch in’j Vermögen
theilen!«
.Welcher von uns wird sie heira
:hen?«
»Ah — bah! Das weiß ich nicht!
Das müßt Jhr selhft unter Euch ah
machen! Oder es können ja auch zwei
Töchter da sein —«
»Dort zwei Söhne! Oh. Petite, wie
die Hoffnung mit Dir durchgeh« Be
denlst Du denn nicht. daß ledig zu
bleiben, iiir Viktor und mich Pflicht
ist, um für Dich zu sorgen?«
Dudlen saate es lachend, aus feiner
Stimme aber tönte tiefes GesiihL Doch«
: feine Stiefmutter lachte wider Erwar
ten nicht. Sie ftand gerade hinter sei
nem Stuhle und klopfte ihm zärtlich,
doch schweigend auf die Schulter. Da
nach nahm sie ihren Plah wieder ein
und fuhr scheinbar mit dem Früh
IOZZJDOI Ins-Ä ist-«- ;s--- CL-h- .:t«
,.-·.«--- s-.., us-- sqss Haut-I sinkt-un
heftig, und nach nur wenigen Augen
blicken leate sie Messer und Gabel wie
der nieder und bat Viktor, die Wein
ilasche zu entiorien.
»Ich bin furchtbar durstig, ganz
ausgetrocknet, wahrscheinlich kommt
es oon der inneren Aufregung," er
klärte sie. »Und dann will ich auf
Eure Gesundheit trinken, und aus
Euer Wohlergehen in Eurem neuen
Leben in England-«
»U n se r m neuen Leben meinst Du
doch!" äußerte Viitoe, betroffen von
einem Laut im Tonfall ihrer Stimme,
und hielt, wie er sich eben mit dem
Karl-siehet in der band vom Tische
erhob, sie anblieiend, inne. »Und Du
sagtest auch, wir reisten nach Eng
landl«
»Ganz sicher werdet Jhr hinreisen,
um Euch als die Söhne von Dudlen
Reveiswvrth zu legitimiren. Und
dann hat Dudley doch stets deannsch
geheat, im heimatbland seines Vaters
zu leben; und Du —- auch Du, mein
Sohn, hast immer große Vorliebe fiir
England gehabt.«
» »Du, vetite niere. aber nicht!« rief
Bittor. »Du hassesi ja das englische
Klima, die Nebel: dann wirst Du bei
der Ueberfabrt vielleicht auch seetrant.
Du wirst doch nicht annehmen, Dud
len und ich wiirden nach England
iibersiedeln und Dich hier allein las
sen?« schloß er rnit heiteretn Lachen.
»Ach wa3,« fiel seine Mutter rasch
ein, »ich könnte ja möglicherweise auch
lnicht allein sein. siehst Du, könnte
I Freunde haben! Und Jbr werdet Euch
später verheirathen, Jbr beide —- o,
ich bin überzeugt« es wird eine Cousine
da sein, oder vielleicht auch zwei —
holde englische Misses mit feineinTeint
tund so hoch gewachsen wie Dudleyi
Dann werdet Ihr sagen: »Was brau
chen wir seht, da wir unsere ei enen
israuen haben, noch die kleine ni
I terli« D, schan doch nicht so zornig
aus! Ich meinte ed sa nicht Met se
denit ober. daß ich alt werde und mit
der Zeit vielleicht auch träge. Daß
W
Jbr von dem Revelswsortb’schen Gelde
etwas bekommen würdet, wußte ich
ja nicht’ Usnd vielleicht überlege ich
und sage mir: Hier ist eine Aussicht
vorhanden zu einer auten Versorgung«
damit ich meinen braven Söhnen nicht
länger zurLatt falle und mein eigenes«
hübsches Heim haben kann —- ein
hübsches Lvais in Paris und eine rei
zende Villa auf dem Lande und 3t),
000 Franten Renten 'iiibrlich. Seht
Ihr, nicht ieder Frau bieten sich solche
Chancen, zumal einer, die keine Mii
aift bat und im Mai vierzig Jahre
wird!«
Dudled und Viktor waren aus die
Füße gefizrunaen und stierien sie mit
tveitgeöifneten Augen an.
»Was denn, vetite mere!« rief der
Erstere. »Ist es möglich, daß Du Dich
verheirathen und uns verlassen
willst?«
»Du barst nicht sagen: Euch ver
lassen!« widersvrach die Mutter und
faiiete bittend die hande. während
ibre Augen von Tbränen überström
ten. .Jch wollte ilin nicht nehmen«
bis er versprach, daß unser Heini auch
das Eure sein sollte, und dasi Jbr je
den Herbst zur Kaninchenjagd bei uns
weilen solltet! Jch weiß doch, wie gern
Du Kaninchen schießest, Bittort Und
dann bat er auch Pferde und eine vor
zügliche Bibliotbek; auch ein Trunks
platz ist vorhanden. Und Du, lieber
Dudled, bist doch ein großer Freund
vom Tennisspiel und —«
»Aber. wer ist es denn, Petite? Du
bast uns nie etwas aelagi, und wir
haben nicht die leiieste Vorstellung
Und wenn Du wirklich entschlossen
bist, ibn zu heirathen, wann soll dann
die hochzeit stattfinden?«
»Es ist Doktor Gilles!" schluchzte
die Stiefmutter, ganz gebrochen und
ihr Gesicht mit den händen bedeckend;
»und ich —- ich habe mich heute Mor
gen mit ibm trauen lassen.«
Auf diese erschreckende Kunde folgte
Todtenftille. Wieder sahen die Brü
der sich an, Vittor’s Angesicht oon
jähem Groll überschattet, Dudley’3
Rüae drückten Staunen und Bedauern
auc.
»Ist? ihr Ernst oder nur Scherzt«
fliisterte der Jüngere.
»Es ist ihr Ernst,« hauchte Dudleh
zurück. »Und eigentlich ist es nicht
zum Verwundern —— sie ist noch so
jung und niedlich! Wir dürfen nicht
selbstsüchtia sein und uns unzufrieden
zeigen, da sie doch so sehr gut mit uns
gewesen!«
Keiner von den beiden jungen Män
nern hatte sich je vor die Seele geführt«
wie ibr Leben ohne ihre heitere« gut
herzige, fleißige, tleine Freundin und
Trösterin iein würde. und der Ge
danke, daß sie nun fiir sie verloren und
im Begriff stehe, ihre Zukunft einem
verhältnismäßig Fremden anzuoers
trauen, traf sie wie ein wuchtige:,
schmerzooller Schlag.
Dudley, der Selbstbeherrschtereund
weniger leicht Erreabare don ihnen«
erlangte seinen Gleichmuth zuerst wie
der.
»Las; uns aus Dein Glück ansto-.
szen!« rief er heiter. »Warum aber iii
Doktor Gilles nicht »Ich anwesend
beim hoch«teitssriihstiick?«
«Jch dach:e, zzor tourdet mich zum
Hthenmal lieber allein für Euch ha
I ben,« erwiderte die Stiefmutter, ihren
Kopf aufrichtend und die Thriinen
trocknend. »Und dann mußte ich Euch
das Geständnis doch erft avlegen und
tonnte doch nicht wissen, wie Jhr ev
ausnehmen würdet! Jch habe gezittert«
ftann ich Euch oersichern. und wagte
nicht, Euch zuvor davon in Kenntniß
zu setzen, damit Jbr mich nicht, weil
ich non Euch ginge, für herzlos halten
möchten Zugleich mußte ich aber auch
die andere Seite in Betracht ziehen
Doktor Gilles ist erst fünsundoierzig
EIN-Inst AOAII nnd Ists-I «IIOZ« Its-nd
!reich, ein höchst intelligenter und lie
’ den-würdiger Mann, und unser Haus
I wird das Eurige sein« Und daß mir
I noch ein heirathgantrag gemacht wer
s ve, ist Doch kaum wahrscheinlich Dot
x tor Gilles glaubt, ich wäre erst sieben
Junddreiszia Jahre-. und Viktor zwan
»zig; es thut ja aber nichts, wenn er
J das denkt- Jch habe Tbriinen verans
sen, daß ich Euch verlassen muß —
Jhr wißt nicht, wie sehr ich geweint
habe! Die gütige Vorsehunq aber de
trachtet ersichtlichermaßen meine Ver
heiratlsung nicht als ein Unrecht, da
sie in anderer Weise sür Euch sorgt —
durch Zuwendung eines Theiles des
Rebelsworth’schen «Bermöaens. Und
nun, meine lieben, gutenFungem wollt
Ihr mir, nachdem ich Euch alles ge
beichtet, verzeihen, auch nicht übel neb
men, wenn ich mich jetzt zurückziehe,
um mein Reisetostiim anzutegen.«
«Schön, petite mere? Um welche Zeit
kommt denn Doktor Gilleo?«
»Mit dem Zweieinbalb-Uhr-Zuge
reisen wir nach Dr. Gille ’ Schlößchen
ab. Nun gebt mir rasch noch einen
Kuß, meine lieben, guten Jungen!
Und nicht wahr. Jbt wollt mir nicht
zürnen und mich sitr egoistisch und
herzlos halten, weil ich Euch ver
lasse?« wiederholte sie stehend. »Ich
habe eine lressliche, ältere Person en
gagirt, die siir Euch kochen und noch
dem Rechten sehen soll, und —«
»Nun laus’ aber und zieh’ Dich
rasch an, Liebe, sonst wird’s zu spött«
mahnte Dudlev.
Durchsfriinen lächelnd, verschwand
e aus die e Mahnung bin denn auch.
ittor war völlig niederneschmettert,
unfähig zu allem und jedem. Dudley
llberließ ihn seinem schwermüthigen
Sinnen und eilte fort. schleunigst Ein
liiuse zu besorgen. Bald lehrte er wie
der zurück. beladen rnit einem reizen
den Strauß, einer Diite feinsten Kon
selts und einein Dutzend Glacehand
schuhen, No. 5,5, in einem fein gemal
ten Seiden-Etui. Sechzia Franken
seines sauer verdienten Geldes hatte
er siir diese Kleinigkeiten aeopfert. er
achtete es aber fiir Pflicht. der petite
mere ein kleines Andenken mitzugebem
wußte er doch, dast drrartiae Aufmerk
samkeiten ihr Freude bereiteten.
Und hocherfreut war sie auch, als
sie ein paar Minuten später in einem
chiten Reiselostitm von grauem Plilsch
mit Pelzoerbriirnung erschien, fort und
fort ihrem »großen Jungen« gegen-·
iiber sich entschuldigend und beim An
blick von Viktors Betrübnis wiederum
in Thränen ausbrechend und gerüh:t
und über die Maßen entzückt von
DudleW niedlichen Geschenken.
»Sie müßten recht bedacht sein aus
ihre Gesundheit. und ihr ieden Tag
schreiben, ihr auch alles iiber die Ne
velswort’sche Anaeleaenbeit und ihre
englischen Verwandten berichten und
vor allen Dingen sie —- ihre petite
mere, ——- nicht fiir garstig halten«
Eben fuhr ein Couve an der haus
thrir vor, dem ein großer, tröstiger,
gutlaunia anssebender Belgier mit
grauem Baarnbart und in einem deli
gefiitterten Ueberzieher entstieg. Es
war Doktor Gillez der nun mit strah
lend-m Lächeln in’j vierte Stockwerk
heraustant, seine Neuvermiihlte abzu
bolen. Mit seinen Stiessöhnen war er
freundlich und sand Viktors Kummer
beim Abschied von seiner Mutter ganz
natürlich. Er hatte aber aus Villori
Bitten seine Abreise schon um einige
Stunden hinausgeschoben und sah
während des sebr in bie Länge gezo
genen Abschiednehmens der »Mitte«
verschiedene-Male mit bedenklicherMiene
nach seiner Uhr.
»Nun, mein Engel,'· rief er schließ
lich. »der Zug war:et nicht!«
Und nun begleitete »la Petite« die
vier schmalen Treppen hinab ihren
neuen Herrn und Gebieter, über seine
breiten Schultern entsank-nimm- Blieb
Izuriickwerfend auf den schönen Eng
länder und den schlichten jungen Fran
zosen, die sie hatte heranwachfen se
hen und mit denen sie zehn Jahre hin
durch ein friedvolles Leben geführt in
dem dürftigen, billigen Logik oben.
Ein paar Minuten später winkte sie
ihnen aus dem Coupe mit der band
einen Ahschiedsgruß zu, und die bei
den jungen Männer blieben in dem
scharfen Dstwirde barhäudtig auf dem
Pflaster stehen« bis sie ihren Blicken
entschwunden.
»Sie ist fort!« feufzte Dudleh.
»Beim Jupiter, wie werden wir sie der
missen! Nun, Vittor, alter Bursche,
raffe Dich aus! Für den französifchen
Theil an Dir hatsi Du genug «eweint!
Bedeute, daß Du halb englisch hift,
und ftecke nun die andere Seite heraus!
hier weiter zu leben ohne sie, wiirde
unerträglich tein. Der alte Gillei
scheint ein guter Kerl zu sein: sollte et
sich aber einfallen lassen, die Kleine
nicht zu gut zu behandeln, dann schla
gen wir ihm ein Loch in den Kopf. Ich
halte es fiir angezeigt, daß fogleich an
jene Rechtsanwälte geschrieben wird;
und wenn uns nur die leiseste Ermu
thigung von ihnen zugeht, dasz wir
dann unseren Anterplah hier verlas
fen, um die Segel zu lichten nach Eng
land, unserem künftigen Heim —- kurz,
hin nach den Revelworthschen Fleisch
töpfen und den imaginären schönen
Cousinen!«
2
Vierzehn Tage später sehen wir
Dudley und Viktor Revelsworth im
Bureau der Rechtsanwiilte Simpson
und Watt, den Mittheilungen des äl
teren Partners der Firma aufmerksam
lauschend. Der kleine, bleiche, mage
re, weißharige Herr von gerader hal
tung und gewandtem, artig zuvortom
mendem Wesen. mit dem sie seither in
Brieftvechiel gestanden, brachte gewisse
Thatlachen, die ihnen noch unbekannt
z gewesen, zu ihrer Kenntniß.
! Ehe es jedoch bis dahin gekommen,
F hatten sich die beiden Brüder einem
i zwar in den höflichsten Fragen gestell
ten, doch gründlichen Kreuzverhör un
terwerfen müssen. Auf herrn Simp
sons Wunsch waren sie nach London
gereist, versehen mit nicht zu bezwei
felnden Beweisen ihrer Jdentität, wie
auch über ihres Vaters, Dudlen Re
oelsworth sen» Bewegungen seit seinem
Weggange vonckngland vor 43 Jahren,
seine erste Ehe mit Fräulein Graham
im Jahre 1856, die Geburt seinesSolp
nes Dudley jun. im Jahre 1863, über
das wei ahre später erfolgte Ahle
ben Keiner , rau, von feiner folgenden
weiten Verheirathung mit Mai-emai
selle Viktoire Meunier, deriGehurt ih
res einzigen Kindes Viktor im Jahre
1867, und schließlich vom Tode Dud
len Revelsworths sen. zu Paris 1880,
im Alter von 56 Jahren.
Jn einem Punkte nur waren die
Antworten der jungen Männer siir
den Rechtsanwalt ein Räthsel: dem
Manne des Gesehes war es geradezu
unfaßbar, daß die Urenkel des be
rühmten Baumwollenspinners Jsaal
Revelsworth über die Vermögensver
höltnisse ihrer Verwandten in Eng
land so wenig wußten, und sich so we
nig darum kummerten.
»Sie sa en,'« bemerkte Heer Simp
son, heim prechen den älteren der hei
den Brüder scharf durch seine Oriac
ixiereud, »daß Sie beide mehrereJahre
n En lond aus der Schule warens«
»F ui Jahre.«
Gortsehung solat.)