Grand Island Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1893-1901, June 29, 1900, Sonntags-Blatt, Image 14

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    l
IWMIMR
In gefährlicher Missiosi.ä
Erzählung von Heut-s Hex-man und Klaus Dietrich.
..................... L
W
ErstesKapiteL
Trosdem es noch im Anfang des
Frühlings war, weilte ich bereits meh
rere Wochen in der dänischen haupt
fiadt. Se. Excellenz. mein Chef, hatte
mir den verantwortungsvollen Auf
trag ertheilt, die für den Herbst erfor
derlichen Sicherheitsmaßregeln zum
Schutz Sr. Majestät des Zaren vorzu
bereiten und zu organisiren, sowie auch ’
verschiedenen Anschlägen derNihilisten, ;
zu denen wir theils selbst theils durch
Warnungen von der Londoner und
Pariser Polizei die Fäden in die Hand
bctommen hatten, weiter nachzuspüren
Eine größere Zahl von Beamten hatte
ich vorläufig noch nicht mitgenommen
Nur mein altes Faltotum begleitete
mich in der Rolle meines Dieners, und
außerdem looperirte ich mit einer be
sonders gewandten und tüchtigenDarne
der vornehmen Gesellschaft, welche
ebenso wie ich selber im Dienste der
dritten Abtheilung stand. Für alle
Fälle war mir jedoch die erforderliche
Legitimation an den Chef der Mini
schen Polizei geworden, so daß mir
jederzeit ausreichende amtlicheHilfe zur
Verfügung stand.
Da ich alle europäischen Sprachen
so ziemlich gleichmäßig beherrschte und
es von Wichtigkeit war, daß ich bei
den Nihilisten, die mich und meine
amtliche Stellung bisher noch nicht
kennten, unter keinen Umständen Ber
bacht erweckte, hatte ich nur meinen
Bernamen beibehalten und mich in Ko
penhagen als reicher Engländer, Na
mens Georg Wilton, niedergelassen.
Zur Wahl der englischen Nationalität
trurde ich wohl in erster Linie durch
das Beispiel meiner Gehilfin veran
laßt, welche unter dem Jnlognito einer
reichen englischen Wittwe, Frau Mel
lard, bereits das zweite Jahr hier
weilte. Natürlich waren wir beide mit
so vorzüglichen Empfehlungen ausge
stattet, daß wir uns ungehindert so
wohl in der Hosgesellschaft, als auch in
ten reichen bürgerlichen Kreisen bewe
gen konnten.
Besonders intim war ich in dem
Hause eines reichen Bankiers Namens
Joban en geworden, der ein schönes
Haus in einer der vornehmsten Stra
ßen, der Frederitsgade, bewohnte. Er
war ein Herr in mittleren Jahren, der
sxcb fast ausschließlich seinem Geschäft
und seinen Sammelliebhabereien wid
mete, wahr-end seine wohl um 20 Jahre
ZEIT-gete- schöne, lebenslustige Stief
ester ganz in den Vergnügen der
, efelligteit ausging und, wie böse
« ungen behaupteten, die Huldigungen
der Frrcnwelt mehr ermuthigte, als
es si eigentlich für eine so junge
Deine geziemte. Meiszes Erachtens
war dies jedoch mehr Gerücht als Wirt
lichteit, denn meine Gehilsin, Frau
Mellard, war mit Fräulein Johannsen
so« ziemlich nahe befreundet und hatte
mrr gegenüber die völlige harmlosigieit
der Kotetterieen ihrer Freundin stets
auf’s eifrigsteverfochtenz
Jn noch yvdetem Messe als oukcy me -
gute Meinung meiner Gehilsin wurde
mein Urtheil über Fräulein Johan
sen durchden Umstand beeinflußt, das-,
der erste Chef des gro en Banlhauses,
Herr Matthias Peter en, der ältere
Hersmpagnon des Herrn Johansen, ein
Jrnggeselle in den fünfziger Jahren,
von den strengsten sittlichen Anschau
ungen und Prinzipien. nicht nur mit
seinem Kompagnon, sondern auch mit
derSchtvester desselben aus das freund
schaftlichste verkehrte, was- bei seinem
Charakter kaum denkbar gewesen wäre,
trenn gege den guten Ruf der jungen
Dame au nur das eringste wirkliche
Bedenken vorgelegen »ötte. »
Herr Mathias Petersen hatte zwar
seinen eigenenHanshalt mit einer zahl
reichen Dienerschast und einer würdi
gen Haushälterim thatsiichlich lebte er
jedoch mehr in dem Hause seines Kom
pagnons, als in seiner eigenen Woh
nung. Verwandte hatte er gar keine
mehr, mit alleiniger Ausnahme eines
Nessem den er jedoch niemals empfing,
mit dem er überhaupt nichts mehr zu
thun haben wollte, trotzdem derselbe
allgemein als der künftige Erde seiner
cnormen Reichthümer galt. Herr Mat
thias Petersen war ein ungemein wohl
krnservirter kräftiger Herr von bald
sechzig Jahren, der jedoch so aussah,
als ob er wenig über vierzig wäre,
und wenngleich er wegen seiner unge
rneinen herzensgilte trotz seiner stren
qen Prinzipien ein ausgesprochener
Liebling der Damen war, glaubte nie
mand, daß er noch an’z ·rathen
di:chte. Er selber beobachtete ·ber die
sen Punkt zurückhaltendes Schweigen
nnd antwortete auch nur mit einem
freundlichen Lächeln, wenn man da
raus htndentete, daß sein Derr Resse
allgemein sitt seinen einstigen Erden
gehalten würde. Derr ganz Pausen
var zwar kaum dreißiå ahre It, ais
Ihrr insolge seiner ais sangen
M seines umn igen Lebens so ans,
eis- « see-Tre- »He-er
See-s W meet-kna- sei-s
W . es - ·
VI- .
MU.mu-Is sie-R
stets-, Itzt CI
,
let nach dein Abbruch aller persönlichen
Beziehungen ausgefeht hatte und« m
mailichen Raten auszahlen ließ.
reichte lauen aus, den dritten Theil sei-.
net Bedürfnisse zu decken. Aber wenn
der junge herr auch zuweilen . iiber
seinen lnickerigen Geizhals von Onkel;
schintpfte, war er doch von Natur ein ’
gutmuthiger Schwächling, von dem :
man unmöglich glauben konnte, dafx er
seinen Onkel ingrimmig haßte oder
ihm nach dein Leben trachtete, wie spä
ter behauptet wurde. Soweit ich die
Verhältnisse überhaupt zu beurtheilen
vermochte. konnte es wirklich niemand
» geben. der gegen Herrn Matthias Pe
! tersen irgend welches Uebelwollen over
« gar Feindschaft empfinden könnte, bis
sein trauriges Ende mir den Beweis
zu geben schien, daß er thatfächlich
einen unversöhnlichen Todfeind gehabt
heben müßte. Denselben zu entdecken
war meine Pflicht, denn die einzige
Spur seines Mörders deutete zugleich
nach einer Richtung hin, die ich zur
Vireitelung nihilisiischer Anschläge auf
das Leben Sr. Majestät des Zaren ver
fclgen mußte.
Bei Herrn Johansen hatte eine
kleine intime Abendgesellfchaft stattge
funden. Der Hausherr, welcher sich
nicht recht wohl fühlte, war schon früh
zur Ruhe gegangen: sämmtliche Gäste,
— so glaubte wenigstens die Diener
schaft —- hatten das Haus verlassen,
und Fräulein Johannsen weilte schon
seit einiger Zeit in ihrem Bunde-in als
pliplich lurz nach Mitternacht die Die
nerschaft durch einen Knall gleich dem
eines Pistolenschusseö und dann durch
laute entsetzte Hilferuse aus dem Bon
drsir der jungen Dame todtlich erschreckt
wurden. Entsetzt stürzten sie die Treppe
hinauf in’3 Zimmer und prallien ent
fepi zuriicl, als sie dort aus dem Tep
pich. mit dem Gesicht nach unten, die
Gestalt eines Mannes, wie sich später
herausstellte, die des Herrn Matthias
Peterfen regungslos liegend und Fräu
lein Johansen ohnmächtig auf dem Di
van ausgestreckt sahen.
Während die Kammerjungser und
die hausmiidchen sich urn ihre Herrin
bemühten und dieselbe wieder zum Be
wußtsein zurückzurufen suchten. hoben
die Diener Herrn Matthias Petersen
vom Boden auf und sahen voller
Grauen, daß der ganze obere Theil des
Fiopses fortgerissen war. Die Wände,
die Möbel, thatföchlich alle Punkte nnd
Winkel des Zimmers waren mit
grauenhaften Frogmenten feines
Kot-fes, Knechensplitter, Fleisch- und
Hautstiickchen, Blutstropfen und Ge
hirnmafse bedeckt.
Sonst hatte sich lein lebendes Wesen
im Boudoir befunden, rnii Ausnahme
eines Schoßhiindckan, welches soeben
einige aus einer zierlichen von Fräu
lein . ohanfen noch immer trampihaft
festge ltenen Konfettfchachiel gefallene
Schotoladenpralinees friedlich ver-,
zihrte.
Zweitessiapitei.
Den ersten Bericht über diesen Vor
fall erhielt ich am folgenden Morgen
durch mein Faitotum. welches ebenso
wie ich sofort die Vermuthuna äußerte
daß es sich hier nur um einen Mord
licndeln könnte, der irgendwie in Be
ziehung zu unseren lieben Freunden,
den Nihiliften, stehen müßte· Bald da
nach meldete mir Jwan den Besuch
meiner Gehilfin und Freundin, Frau
Mellard, die ihm unmittelbar auf dem
Fuße folgte und mir in höchster Erre
gunse zutref:
» kmmen Sie sofort mit zu Jrene"
—- Jrene war Fräulein Johansen —
,.die Arme weint sich fast die Auan
aus. Natürlich wissen Sie doch schon,
was geschah? Meine arme Freundin
hat die ganze Nacht in Weinträmpfen
gelegen. Jst es nicht zu schrecklich —
zu grausenhaft? Das ganze Haus- ist
voll von Polizisten, aber die Leute sind
so dumm, daß ich zum Trost meiner
armen Freundin ihr den Vorschlag ge
macht habe, ich wollte Sie holen —- na
türlich ohne etwas von ihrem wirklichen
Charaktei zu Verrathen —- aber sie bat
großes Vertrauen zu Ihrer Klugheit
und Welterfahrung —- und Sie werden
doch sofort mitkommen, nicht wahr?
Dieser arme Herr Peterfeni Jst es
nicht ganz entstslichk
Jch bat Tau Mellard Plaß zu neh
men, und folgte auch meiner Ein
ladunjn sprang aber sofort wieder aus
und r es:
»Ich kann nicht still sitzen, ichltin in
einer zu heftigen Erregung. Es ist zu
entsehlich. Der arme Herr Petersen —·—
einer der liebenzwtirdzgsten Herren, die
ich je gekannt —- 1a, ich darf ohne
; Uebertretbun sagen, der beste Freund,
Fden ichje essen. Wissin auch
erst seit wenig mehr als emem Jahre
kannte —- und die arme Jrenel Wer
kann nur diesen schändlicheNMord pe
Mhabeni haben Sie gar lerne
M Miit-sur atchfelärgend eteipb
It Uns
s I « US -
" M Eier Wabe-,
»vamc-H·F-qisgt«up
ich fort, .ich werde jeht sosort mit
tommen.« ·
Während der kurzen Fahrt lernte
ich meine Gehilfin von einer ganz
neuen Seite tennen. Bis dahin hatten
wir zwar durchaus freundschaftlich
mit einander verkehrt und gearbeitet,
aber ein näheka kssutichee Verhau
nifk hatte sich zwi chen uns nicht ent
« "elt, inbesondere hatte ich irgend
. che wärmere Zuneigung fiir sie
nicht empfunden. Sie war war eine
auffallend schöne, reizdo e Frau,
schlank und blond, mit einem Paar
seltsam glitzernden graublauen Au
aen, und viele Männer fielen ihren
Reizen zum Opfer —- nur hatte ich
selbst nicht zu der Zahl derselben ge- »
hört. Vielleicht trug auch der Ums I
stand dazu bei, daß rnir ihre Beziehun- E
aen zu einem sehr beliebten und den
Damen unaeniein gefährlichen Künst
ler, herrn Marftrand, belannt waren.
Herr Bernhard Marstrand. gleich be
rühmt als Bildhauer wie als Maler,
hatte die Gewohrheit, feine Netze nach
jeder schönen Frau wie nach jedem
schönen Mädchen auszuwerfen. Ernste
Absichten hatte er dabei wohl kaum —
ihm war es vor allem um dieBefriedi
gunq seiner persönlichen Eitelkeit zu
thun — falls es ihm nicht etwa ge
länge, eine außergewöhnlich reiche Er
bin, toie Fräulein Johansen, in seine
Netze zu ziehen. Jn leßter Zeit hatte
er in besonders auffallender Weise
Fräulein Johanien und Frau Mellard
den Hof gemacht, aber ich glaubte An
laß zu der Bermuthung zu haben, daß
Frau Mellard ein tieferes Empfinien
iiir ihn hegte, daß er ihrem Herzen ge
fährlich geworden wäre.
Wie meine Gefährtin mich so aus
ihren araublauen Augen hilfefuchend
anbliclte, tonnte ich mich dem Eindruck
nicht verschließen, daß sie doch eigent
lich aanz reizend wäre. Das arme
Dina hatte schon friih die Schwere des
Lebens erfahren —- mit sechzehn Jah
ren die Gattin eines reichen, vorneh
men alten Ungeheuers und schon mit
siebzehn seine Wittwe geworden, hatte
sie sich dann infolge besonderer Um
stände keineswegs als reiche Wittwe,·
sondern in recht bedrängten Verhält
nissen befunden, so daß es ihr schließ
lich nicht zu verdenlen war, dafz sie sich
durch eine der für uns thätigen vor
nehmen Damen überreden ließ« gleich
falls in den Dienst der dritten Abwei
luna zu treten. Jetzt saß sie ganz
dicht an mich gedrän t; ob in nerböser
Erregung und unabichtlich, das der
mochteich nicht zu beurtheilen; dann
und wann zeigte sich ein seltsamerAus
druck fassungslosenEntsetzens in ihren
Augen. begleitet bon einem taum
wahrnehmbarenErfchauern ihres gan
zen Körpers. Aber dies schien immer
nur wie eine lurze vorübergehende
Wolle iiber sie hinzuhufchen und war
eigentlich in Anbetracht des schreckli
chen Ereignisses welches ihre Freun
din betroffen, ganz erklärlich und na
türlich· Wenig-: Seluuden, ehe wir
nach Frederilsgcde kamen, ergriff sie
meine-Zaud, druckte dieselbe fest, blickte
rnir flehend in die Augen und sagte:
»Sie werden doch Jhr Möglichftes
thun —was nur irgend in Jhreu
Kräften steht — nicht wahr? Um
meinet ——«« hier hielt sie inne und ver
besserte sich dann: »Ich meine um
Jrenes willen. Die Folgen dieses
schrecklichen Ereignisses treffen sie jetzt
schon aufs schwerste. Meine -arme -
Freundin, was soll sie nur Guns«
Nochmals drückte sie meine Hand fest
und sah mir lange Underroandt leiden
schaftlich in die Augen. Das war mir
denn doch etwas ganz neues· Frau
Mellard suchte sogar mich zu bezau
bern, mich, der ich doch von allen
männlichen Wesen dem Zauber weibli
cher Reize am nnzugiinglichsten bin,
nnd der ich die gute Dame bisher doch
nur als- meine Gehilfin, der unsere
Beziehungen vollkommen klar wären,
betrachtet hatte. Aber vielleicht waren
die besonderen Umstände des heutigen
Taaez eine ausreichende Erklärung
dieses seltsamen Verhaltens. Jch de
aniizite mich deshalb, ihr nur mit ei
nem leichten Handedruck und einem
melancholischen Lächeln zu antworten,
aber letter verstehe ich mich schlecht auf
melancholischeö Lächeln, so daß sie
meinen unwillkürlichen Spott doch
wohl heraueiiihlte, denn sie entzog mir
heftig ihre Hand und warf mir einen
zornigen Blick stolzer Entriistung zu.
An Unserem Ziel angelangt, fand
ich das ganze Haus ooll Polizisten
und hätte keinen Einlaß gefunden,
wenn nicht Herr Polizeihauptmann
Jürgensem der mich persönlich in mei
ner amtlichen Eigenschaft »amte« zur
Stelle gewesen wäre. Nachdem ich ei-.
niae Worte mit ihm gewechselt, ging
ich zuerst in den Garten nnd fand dort
mehrere Beamte, welche nach Instit-u
» ten suchten, nnd einen Photographen,
: der die Fenster des Bondoirs von
Fräulein Johansen aufnahm —- es
wurde also offenbar nichts versäumt.
Dann ging ich in das Haus und wur
de sosort nach dern Schlafzimmer des
qniidigea Fräuleins geführt —- fie er
«dend. mich im Salon zu empfangen.
Ich fand das arme Fräulein noch tin
Morgenrots und in einer ganz schreck
lichen Gemüthsoersafsung. Ihre Au
aen waren roth und vorn Weinen ge
schwollen. Jbt Gesicht war leis-m
blasi und ihre Lippen ganz farblos.
M hätte nie fiir lich ehalten,
date eis- eiusior Nacht »W
ltena des ganzen Aus s seistan
Mut-. Ihre ganze re seither-fris-4
wartete mich bereits, war aber zu lei- ?
leit war verschwunden, und regungs
,los. sast wie gelähmt saß sie aus dem
Sol-ha. Als ich einirai, vers e sie
sich zu erheben, sank aber schlu send,
als ob ihr das Herz brechen wollte,
wieder zurück. IF nahm aus einem
Stuhl neben ihr las und versuchte
sie zu beruhigen.
»Aber bedenken Sie doch nur,« rief
das arme lleine Fräulein voller Ber
zweislunz »bedenlen Sie doch nur!
Die schreckliche Polizei hat mich inVers
dacht, und selbsi mein Bruder dars
das Saus nicht verlassen. Bedenlen
Sie doch nur —- mich hat man inBers
hestia, daß sie tro ihre ’che aus
ihrn Spiel gehabii
»Wer allen Dingen miissen Sie sich
sassen und beruhigen, mein liebes
Fräulein Johansen,« sagte ich zu ihr,
» »sonst lann ich Ihnen nichts niiperr.
s Zu vördersi müssen Sie mir erzählen,
F wie es alles geschah, und mir zeigen,
; wo sich das Schreckliche zutrug.«
Sie machte einen Schritt nach der
Thür des Nebenzimmers hin, wich
dann aber voller Entsetzen wieder zu
rück und ries: »Nein, ich bin ause
stant-e, wieder hineinzugehen. ch
iann das entsetzliche Zimmer nicht wie
dersehen.«
»Nun wohl, dann schieben wir das
noch etwas hinaus. Sagen Sie mir
nur, wie es geschah.« —
Sie setzte sich wieder auss Sovha
und trrcknete sich die Augen. Frau
Mellard hatte die ganze Zeit über
stumm dagestanden, anscheinend lalt
und unbewegt wie eine Statue, aber
jetzt nahm sie neben ihrer reundin
Platz,umarmte sie zärtlich,liiß e .sie aus
die Wange und flüsterte ihr zu:
»Fasse Muth, Jrene; fasse Muth,
meine liebe Freundin. Sage es alles
Herrn Wilion, und er wird »aus ge
wiß hclsen, der Sache aus den Grund
zu lommen. Er ist llug und weltersah
ren und wird das Geheimniß sicherer
,erariinden, als die alberne Polizei.'
»Ich sprach also mit Herrn Peter
sen,« berichtete das lleine Fräulein,
»und saß auf dem Sopha meines Bau
doirs aanz ebenso, wie ich hier sitze,
und er saß aus dem Lehnstuhl mir ge
aeniiber.- Meine Schachtel mit Pra
linees bielt ich in der Hand und aß da
von und bot ihm auch eins an, und er
nahm es, und wie dann das Schreck
liche geschah, weiß nur der Himmel,
aber in demselben Augenblick, als er
das Pralinee durchbiß, hörte ich einen
lauten Knall und sah eine rotheWolle
vor den Auqu und seinen Kopf der
schwinden und fiihlte dann eine schreck
liche Art von Feuchtigleit oder Regen
silber mich fallen und dann sah ich
dacht!« Und ihre Cniriistung war so »
sprang. »Wie nnen die e Leute es ;
nur wagen. zu argwöhnen, ich hiitte H
meine Band bei dieser Greuelthai mit s
Herrn Petersen aus der Erde liegen «
und dann wurde ich ohnrniichtig und
weis-, von nichts mehr.«
»Es war also keine Masse im Zim
mer, es siel lein Schiisz?«
»Nein,« murmelte sie halb erschreckt,
»nur ein Anall.«
»War denn ausxer Ihnen und Herrn
Petersen niemand im Zimmer?«
»Nein, lein lebende-s Wesen außer
meinem Schvizhiindchen.«
.
22215 norre ney Ia ganz wunderoar
an, aber bei meiner Erfahrung in der
Kampfes-weise unserer lieben Freunde,
der Nihilisten, sand ich sofort die Lö
sung, aus welche Weise dieser Mord
geschehen war. Der Kopf des armen
Mannes war durch einein dem Scho
toladenpralinee verborgenen Explosio
tapsel zersprengt worden. Aber wie
war diese zwerghaste Höllenmaschine
in die Konsettschachtel hineingekom
men?
»Wo hatten Sie die Praiinees ge
tauft?« fragte ich daher.
»Bei Porta am Fiongens Nntorv,
w i sie immer tause,« erwiderte sie
sosor .
»Hatten Sie denn das Kästchen
schon vorgestern Abend geöffnet?"
»Nein, ich öffnete es erst nach dem
Sonnen-«
«War die Schachtel vorher aus
Ihrem Gewahrsarn oder überhaupt
aus Ihren banden getommens Hat
denn überhaupt irgend jemand sonst
die Schachtel berührt?«
Sie überlegte einige Setrinden und
antwortete dann: »Beriibrt haben sie
mehrere, wenn Sie das meinen.«
«Wer?« .
»Ich lebe nicht recht, welchen Zweck
die Frage hat, aber —«
»Wer berührte die KonseltschachteL
wenn ich bitten dars?«
«Nun,« suhr sie sort, anscheinend
bemüht, sich jede Einzelheit ins Ge
. dächtnisz zurückzurufen, »ich biete mei
nen Freunden immer von meinem
« Konselt an und gestern — ja, da gab
ich doch zuerst dir etwas, liebe Freun
din,·« wandte sie sich zu Frau Mellard.
Frau Mellard lächelte gezwungen :
und rief dann mit einem leisen etwas :
aedriickten Lachen: Allerdings —- !
gewiß. Kann man daraus etwa Vers s
dachtgriinde gegen mich herleiten?«
»Und dann meinem Bruder,« suhr
Fräulein Johansen sort, »und dann
nahm auch noch der jung-e Herr Peter
sen eine Pralinee.«
·Niernand sonst-F seagte ich.
»Ja, dann auch noch here Mar
ikrand. Er nahm auch ein Pralinee,
und auch Herr Dr. hausen —- Imser
hause-est —«
.Und dabei gaben Sie das Kästchen
überhaupt nicht aus der Mk
« MW MI- Meist-IMM
W
7oweit ich mich erinnern tann,« erwi
derte das kleine Fräulein. »Es ist
aanz schrecklich — ein unlösbares
Rätbsel.«
Ich mußte rnir selber estehen, daß
ich gleichsallb noch teine bnnng hatte,
wie das Mordinsxrument unter die
Pralinees von Fräulein Johansen ge
rathen sein könnte, und versank in tie
fes Nachdenken Unterdessen wander
ten rneine Blicke balb mechanisch im
Zimmer rnnber und blieben aus einem
Damentleide hassen welches wenige
Schritte von mir liber einem Stuhl
I laa. Es war ein dunkles, in seltsamer
; Weise mit graurotben Flecken liber
iiites Atlaslleid
Unwikltiirlich erhob ich mich, nahm
das Kleid in die band nnd fragte
.Trugen Sie gestern Abend dies
Kleid?«
Ihr ganzer Kbrper erbebte in einem
heftigen Schatte-, sie wandte ihren
Kot-s ab und sliisterie dann:
»Ja, bas Kleid trug ich gestern
Abend. Lassen Sie es herausbringen
Lassen Sie mich das schreckliche Kleid
nicht wiedersehen.
Aber aus mich übte dies schreckliche
Kleid eine Art anwidersteblicher An
ziebanqslrast aus. Diese unheimli
chen Flecken hielten meine Augen wie
gefangen. Das Lebensblut eines ge
stern noch kräftigen und gesunden
Manne-s bedeckt-: das ganze Kleid.
Und während ich es so in der Hand
bin- und berwandte, bemerkte ich vorn
an der Brust in dem Spitzenausputz
sorgfältig sestgesteckt ein Zedernbiatt
mit verweltten und zerbriictten Pjirs
sichbliitlxen.« .
· »Pfirsichblütl;e und Zedernblatt,«
dachte ich bei mir selber. Gerad-e da- »
mais war in der besseren Gesellschaft s
Kopenhagens besonders unter Den H
Damen, die Thorheit einer neu erfun- I
denen Blumensprache, deren Wärm
buch ich zusiilli erst am vorhergehen
den Taae durckgyblättert hatte, sehr in
der Mode, und seltsamer Weise basie
ten gerade diese beiden Zeichen sest in
meinem Gebächtniß — Zedernblatt:
ich liebe dich —- Psirsichbliithe: ich bin
die deine und folge dir bis an das
Ende der Welt. Sollte etwa Fräulein
Jahansen diese tleine Sträuszchen in
irgendwelcher besonderen Absicht ange
legt dabeni Dem mußte ich doch wohl
weiter nachsorschen, wenn ich der
Hauptsache, dem Gebeimnisz dieser
Mordthat, aus den Grund tommen
wollte. , » .
Allerdings war ich von ver oouigen
Unschuld des Fräulein Johansen an
dem Morde selbst durchaus überzeugt
und sah außerdem, daß ich bei ihrem
derzeitigen Zustande lrampshaster
Ueberreizunq durch zu weit gehendes
dringliche-i Fragen und Forschen ihre
Gesundheit ernstlich gesä »in lönnte.
Aber andererseits empfand ich auch
nicht den cringsten Zweisel, daß sie
am derle cnen Abend wieder einmal
in einer ihrer beliebten lleinen Initi
auen Unterhaltung gesucht haben
mußte. Denn wie iviire sonst dieses-—
seltsame Stridißchen an ihre Brust ge
tommeni Psirsichbliithen und Jedem
bliitter taust man doch nicht im Blu
menladen, entnimmt man doch auch
nicht dem eigenenGewäctzshause, wenn
man dabei keinen besonderen Zweck
versolai. Jch mußte also in unant
siilliger Weise zu entdecken suchen, mit
wem sie diese tleine Jnirigue gespielt,
und ob der Ermordete daran theil ge
habt hätte.
Dirette Fragen waren unthunlich.
Ich mußte mich ebensosehr, wenn nicht
noch mehr, ans meine Augen als meine
Ohren verlassen.
»Wenn Sie gestatten, werde ich jetzt
nach dem Zimme: gehen, Fräulein Jo
hanlem Sie brauchen mich nicht zu
bealeiten.«
Damit erber ich mich und össnete
die Tbür des Baudoirs.
Aus einein niedrigen Tabnret, ganz
nahe der Thür, so dicht, daß er jedes
Wort gehört haben mußte, welches ge
sprochen worden war, san der Herr ;
Polizeihanptmann Jürgensen. Jch ?
lächelte, als ich ihn sah, und er lächelte
gleichfalls· Eigentlich hätte ich daraus
aesoht sein sollen, aber dies ileine Ma
növer zeigte so viel mehr diplomatische
Schlauheit, als ich einem bloßen Po
lizeibeamten Fugetraut hätte, daß·der
Herr Hauptmann bedesilend in meiner
Achtung stieg.
, »Sti- hielt es file kweckbienlich dies
Zimmer noch einma in aller Stille
aeiindltch zu durchsorschen,« bemerkte
er leichthine «Dabei findet sich mögli
cherweise doch noch eine besondere
Spur- , -
,,Ja,« erwiderte ich, ,,tveniasten55 ist
es immerhin möglich, deshalb wollte
ich mir das Zimmer auch einmal an
sehen. Wir müssen in dieser Siche
unsere Augen weit offen hatten-—oder
ich müßte mich sehr irren."
Auf der Erde mitten im Zimmer,
mit einer dunklebraunen Neisedecte
kerlsiillh lag dir Leiche ins Ermorde
en.
»Da-es ich einen Blick auf ihn wer
sen, here Hauptmanni'« fragte ich.
»Ja, aber seien Sie vorsichtig. Die
Leiche ist allerdings bereits photogra
phiet, aber vorläufig wenigstens darf
in ihrer Lage nichts verrückt werden«
Fehl-ob die Deck- Inf, aber dieLeiche
war bereits in der Nacht von den
Dienstboten in ihrem Schrecken aus
der ersten Lage sebracht worden, in
der sie gefallen war. Diese ängstliche
Vorsicht be- ceeen cauptmann war
also san übersiiissig. Es war ein
scheitert r sitt-lieh —- Von dein Ge
W
ficht und der vorderen Hälfte delschb
del-? war nichts weiter brig edliedery
als der Unterkiefer und der and der
linlen Seite. Das übrige war eine
dunkelrothe, sorinlose, grauenerregen
de Masse. Die » eine lagen freis gesj »«
streckt fest an den Seiten des Irr-ers « «
Dls Fin er waren lrampihast ausein-; :
CUVU as Meist- und aus dem einenJ
Aermel des hellgeanen Sommeriibers «
l ziehet-Z zeigte sig ein großer brauner 2»
Fleck, von.der teile, wo der Manns VII
in sein eigean Blut gesallen war. «
Hieraus war nichts weiter zu ersehen
und deshalb legte ich die Decke wieder
über die Leiche
, Dann sah ich mich im immer um. ’
Etwas rechts von dem csonnt-, auf
welchem Fräulein Johansen gesessen
hatte· und vor dem der Ermordete zu , - «
Boden gestürzt war, befand sich Mäg
Kamin von weißem Marmor, dessen». (
Sinis mit bellblauem Seidenplüsch " s
; und Goldbrotat drapirt war. Auf F
« demselben standen eine kostbare Por
zellanuhr nebst Kandelabern und noch
andere Porzellansiguren und Vase
—- alles befleckt, als- ob ein Blnirege
darüber hinaespritzt wäre. Eine v
zierlichen kleinen Parzellangruppe i
ein Meisiner Schöserpaar, war in die
Itaminöiinung hinuntergefallen nnd
dort zerbrochen. Sonst zeigte sich tei
nerlei Unordnnna. Die Fiel-le auf der
Wand und auf dem Spiegel zeigten,
das-. die Erplosion sich nur in einer
schräge-n Linie nach rechts nnd gerade
auz aerirhtet hatte. Daher war es nn
denlbar, daß irgend ein Schuß oder »
Annriif von hinten her, trenn auch
noch so unbemerkt und schlau, ersulg
lein konnte. Langsam ging ich im
Zimmer umher und durchrorschte jeden
Winkel, sämmtliche Thüren und Fen
ster, während der Hauptmann mir
lächelnd mit seinen Augen folgte und
schließlich bemerkte:
»Das alles habe ich schon längst er
ledigt, das heißt, soweit es möglich
war, ohne iraend etwas von der Stelle
zu rücken. Denn das Zimmer ist noch
nicht photographirt worden. Wenn ;«..«:
das erst geschehen ist, werde ich ex
gründlich durchsuchen. Der Kerl, de »
Photograph, müßte übrigens draußen
schon längst sertig sein. Wenn Sie
einen Augenblick aus mich warten wol
len, möchte ich mich einmal nach dem
Menschen umsehen und ihn herholen,
damit wir hier weiterlommen.« «»r
Damit verließ er das Zimmer-. Jch jg
setzte mich auf das Sopha und siii te «
den Flapf in die Hände. Jn di et A
Siena-m gab ich onst-sichtliche
Sol-da einen leichten Ruck nach hinten .
gegen die Wand zu und begegnete das
bei einem unerwarteten Widerstand-« »
Ueberrascht wandte ich mich um und z
blickte nach unten hinter das SIde » —
welches etwas von der Wand abstand. ·
Wahrlich dort lag ein dunkler Gegen-i
stand auf der Erte. Ich erhob mich.
und durch teine solche Bedenten, wie »L-«
der Herr Polizeihauptnranm behin
dert. schob ist«- rsas Sopha etwas zur
Seite, tun zu setzen, was sich dahinter
befande, und entdeckte eine ziemlich«
große lederne Neiletaiche, wie Damen s«
sie zu benutzen pflegen. ·.Seltfa2n,«
sagte ich zu mir selber, und zog die
Reisetaichr ans ihrem Versteck. Es war
eines jener schönen tosibaren Stücke,
welche sämmtliche Bequemlichkeiten
des Toilettentifches mit der Geräu
rniateit eines tleinen Koffers verbin
den. Ein leichter Druck gegen das sil
berne Schloß und die Tasche flog auf, . z
sie war so voll wie nur möglich gepackt, (
mit allen erdentlichen Gegenständen s -
der Damentoiletle und sogar ein paar
rosa Pantoffeln zeigten fich in der ei
nen Ecke. «Siimmtliche tleine Fläsch
chen und die anderen Gegenstände tru
aen das Monogramm J. J. »Als
Fräulein Jrene Johaner hatte alles
zu einer Reise fertig gepackt.« mur
melte ich vor mich hin. «Der Polizei
hauvtmann darf dies nicht sinden.«
Ich schloß vie Tasche, ftieti das Sopha
wieder in seine triibere Stellung zu- . «
rück, klopfte an die Thöre des Schlaf
zirnmers und trat mit den Worten
·,Diete Neisetafche fand ich im Bon
doir hinter den-. Sovha. Es dürfte
besser fein, wenn sie nicht dort bleibt.«' j s.
Das tleine Fräulein wurde ganr
d1.nletrotl), trotz ihrer bisherigen lei
chenhaiten Blasie, und blickte auf mieli -·-«
und- dann von mir auf Frau Mellard -;
in fprachloser Angft und Aufregung-. «
Selten habe ich jemanden so erschreckt
aeseben, wie Fräulein Johanlen in
ienemAugendlirt sich zeigte, aber schon
nach wenigen Sekunden gelang eåilzrz
ihre Fassung wieder zu gewinnen.
»Wie thöricht von Rosa. meine
Kendtafche dort zu lassen. Jch pflege
si: stets fertia gepackt bereit zu halten.
s falls ich sie einmal brauchen lollte, wis
s sen Sie. Das nachliisstae Mädchen-—
» nun. dafür werde ich lie ordentlich aus
i lchelten.'« .
I Frau Mellard biß sich auf die Lip
pen und verharrie in tiefem Schweigen
So, wie ich sie kannte, war sie zu der
aleichen Schlußfolgerung wie ich ier
gelangt Dann lehrte ich nach d .« (
Baudoit zurück und warieie auf dm ’
Pokptmanm der auch bald wieder ein
ta .
»Das Kästchen Pralinees haben Sie
doch wohl, Herr Hauptmann?« fragte
ich ihn.
»Naiiirlich,· antwortete er.
Könnte ich die Pralmees einmal
schmi«
»Seit-er nein. Bis auf drei bat der
nichtswürdige Schatzhunv sie sämmtlic
qus Messe-h und vie drei sind bereits
im atralbureau.«
czorisegung folgt)