Grand Island Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1893-1901, November 25, 1898, Sonntags-Blatt., Image 10

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    Der Todte von Horrnrz
III-land.
Roman von Heika ShM.
(5. FortsetzungJ
Die junge Dame lächelte Dann lud
sie Rheden durch eine Handbewegung
ein, aus einem schwarzen Ledersopha
Platz zu nehmen, und setzte sich ihm
selbst auf einem Holzstuhl gegenüber,
so daß der Tisch, auf dem die Lampe
stand. sich zwischen ihnen befand. Jetzt
erst war es Rheden möglich, dieBrief
schreiberin genau zu betrachten. Sie
war laum zwanzig Jahre alt, viel
leicht jünger, aber doch besaß ihr hüb
sches, regelmäßig geschnitteneg Gesicht
nicht mehr die erste Frische der Jus
gend, die Augen wenigstens, so schön
sie unter ihren kühn geschwungenen
Brauen auch waren, zeigten eine ge
wisse Miidigkeii. Maggie Broivn trug
sich einsach, ein grauer Hausrat der
in der Taille von einem türlischenGür
tel gehalten wurde, umschloß ihre
schlanke Gestalt, das reiche blonde
Haar war in einen iunstlosen Knotel
gewunden nnd durch einen Pfeil hin
ten befestigt. Einsach und sauber wie
die Besitzerin erschien auch die Einrich
fung, in welcher eine Nähmaschine, ein
Rohrgeflechi zum Anproben der Kleis
der und verschiedene Modejournaie nui
die Thatigieit der Bewohnerin des
Zimmer-E- bindentetm
Sie haben die Dame und den-Kind,
welche in 347 Eldribge-Straße ge
wohnt haben, persönlich gekannt?«' er
öffnete Rheden das Gespräch.
»Ja, gewiß — ich kannte sie, diellni "
glücklichen,« erwiderte Maggie Bist-ern
welche ein tadlloses Englisch sprach,
woraus-gesetzt natürlich, daß Sie eben
diejenigen suchen, welche ich tenne.«
»Das ließe sich leicht seststellen,«
meinte Rheden, ,,wiirdcn Sie die Da
me toiedererlennen, wenn ich Zinsen
eine Photographie zeigte?«
»Mit Sicherheit würde ich das ---— o,
die Arme besaß ein Gesicht, das man
nicht vergißt, sobald man eH einmal
gesehen.«
»Wann wurden Sie mit ihr be
kannt?«
»Ihr — vor s-« einem halben Jahre
etwa.«
»Wo wohnte sie damang«
»Wir sie wohnte? Sie meinen, wo fie
sich mit dem Kinde aushielt? TJtmn
hier in New Yort.«
»Gewiß. aber in welcher Straße?«
»Ah — sie —— sie wohnte ---— o, ver
zeihen Sie einen Augenblick, ich
glaube, ich vergaß die Thin ordentlich
zu schließen, ich will nachschen.«
Sie verließ das Zimmer und trat
aus den Gang hinaus-.
Rheden hob das Haupt und lauschte
mit schärfster Arismertsamteit. Er ver
mochte es skch selbst nicht zu erklären -——
sein Verdacht war plötzlich erregt wor
den. Obwohl die Erscheinung und
Umgebung der jungen Dame selbst ei
nen entschieden günstigen und solioen
Eindruck machten, so hatte ihn doch
ihre Besangenheit, ihre Zurückhaltung
bezüglich der Mittheilungen, welche sie
zu machen versprochen, befremdet und
seinen Argwohn erregt.
Und jetzt —- war es nur eine Folge
seines einmal erwachten Verhachteg,
nur ein Trugspiel seiner erre ten
Sinne, oder täuschte er sich n chts
Rheden glaubte unterdrücktes Flüstern
im Hauäslur zu vernehmen· War
Maggie Brown nicht allein? Verborg
sie eine Person irn Hause? War es
vielleicht au einen Ueherfall abgese
hen? Ehe Rheden sich recht Antwort
geben konnte aut d.ese Fragen, welche
mit Blitzesschnelle sein Gehirn durchs
zucktem trat Maggie wieder ein.
»Die Thiir ift geschlosssa«, sagns fte
ai:sathmend, »und nun können wir
fortfahren Natürlich wohnte oie Frau
schon n der Etdridqestreet. Welch er
baemltches Wohnenl haben Sie eng
se , dunkle Keller-Immer gesehen?«
» habe es gesehen«, erwiderte
XII-dem mit seinen Blicken Maggie
d, um eine verdächtige Bewe
MXIH sofort wahrzunehmen und ih:
gedreht-nd zu begegnet-, »aber ich tam
hierher, tkm Neues zu erfahren, und
m Sie bitten, demit nicht länger
ze: -lteu.«
»Sie sollen alles crf-:1):en««, sagte die
Kleidermacherin, »Sie müsse-: nämlich
wissen, daß ich damals die einzige char, ’
welche die Aermften :.merstiitzte.«
»Viel-isten Sie in ?cmfelben·Ha-.tic?« (
»Nein, aber ich kam hfter hin, Zu ich i
für eine Familie a:«L«-eitete, die dort i
wohntc.« J
»Für welche Famike ?« ?
»Den Namen this-e ich verg:sfe!s.,?
meine Kunden wechseln schnell, und ich
Fatnn nicht jedes einzelnen eingedenk
em.'«
»Aus Sie erwiesen der Daniel-Sahs
thqten. Aan Sie its-.- Gelt-V
»Das wo l auch, aber hauptsächlich
waren sie mir dankbar, weil ich ihre
e mit enmnmene Gnedeeobe auf
- chec. v e Ent eit zu beanspruchen
Zum Dank fchenk e mir die Dame —-—««
»Wir war doch der Name der Un
thieben?« warf Rlzcden schnell da
M
»Ich habe ihn niemals erfahren, die
l sen Namen« , entgegnete Maggie so
unbefangen, daß der Deutsche von sei
nem Argwohn wieder ein wenia zu
rückkam, »sie li hie nicht danzch cic
fragt zu werden Toxh ich zeige Ihnen
einige kleine Geiheiike, die ich von ihr
zum Dank siir meine Hilfe enipfing.«
»Die würden in cl; allerdin-;3 sehr
ingetessiten Was silr Geschenke sind
eg« «
»O, Gegenstände welche an sich
kaum einen Werth haben· Ein Spitzen
taschenkuch, das sie selbst gegrbeitet—-—«
»Ein Tuschenluch7 Zeigt es einen
Namen, Jnitialen?«
»Sie können es selbst sehen. Ich de
wahte es hier in diesem kleinen Kasten
unter anderen mit lieb-en Andenken
auf.«·
Das jung-e Mädchen hatte sich erho
ben nnd war an ein Wandscbtänkckpn
getreten, das sie öffnete. Die Bliie
Rhedens, die ihr aufmerksam gefolgt
waren, vermochten nichts verdächtiges
zu erspähen. Lsils sich Maqgie ten:
Tisch wieder -3it:vandte, hatte sie einen
kleinen, ebenholzforbenen Kasten in der
Hand. Mit erinbenem Haupt, als luiiie
sie die Zweifel ihres Besuchen- längst
ertathen und könne ihm den Beweis
bringen, wie gänzlich unbegeiindet
sein Argwohn sei, stand si: einen Au
genblick vor ihm. Dann ließ sie sich
nnmuthig neben ihm aus dem Zosa -
nieder.
»Wir können die Geaenstände so am
besten gemeinsam detrachten,'« faate sie.
«Sehen Sie her ——-— das ist dar- Evi
tzentuch.'«
Der Kasten sprang. dem Druck einer
Feder gehorchend auf, Und Rheden sah J
ein weiße-:- Tuch vor sich liegen. Zu .
gleicher Zeit bemerkte er, daß den-. Ka- s
sten ein scharfer, süßlicher eGruch ent
stieg.
»Welch ein widerwärtiges Parfiim,«'
dachte er, dann wars er mit schneller
Bewegung den Kopf zurück, denn ein
furchtbarer Gedanke hatte ihn erfaßt
Jm nächsten Moment stieß er einen
Schrei aus und fuhr rnit beiden Hän
den nach feinem Gesicht, um sich das
Tuch von Mund und Nase herahznrei
ßen, welches das junge Weib mit un
widerstehlicher Gewalt darauf pres;te.
Der Körper des Ueberfallenen rich
tete sich auf, um sofort langsam wieder
auf das Sosa zurückzusinten Unzu
sarnmenhängende3, unverständliches
Lallen drang unter dem Tuche hervor,
und auch dieses erstarb nach einigen
Serunderr
Maggie, die sich während de-:« Kam
pfes über ihr Opfer geworfen und es
rnit Aufgebot alle-« Kräfte unter dem
Bann des Betäubunasrnittels aehatten
hatte, riaitete sich erschöpft ani.
»Andre, Andre-K sliisterte sie leu- T
chend.
Die Thiir beweate sich, und der
Schatten einer Männergestalt fiel irr-J
Zimmer hinein.
»Verlösche die Lanipe«, tlana es ak
bieterisch von der Thür her. Mag-sie
kam diesem Befehl nach, und tiefes
Dunkel herrschte in dem kleinen Raum.
Dann näherten sich schleichende
Schritte dem Sofa, auf welchem Rhe
den leise stöhnend lag. eine dunkle frie
stalt beugte sich iiber den Körper des
Bewußtlosen, nnd eine weiße Hand
dersenlte sieh in feine Kleider über der
Brust
Als diese band wieder »in-n Vor
schein kam, hielt sie eine alte lederne
Brieftasche mit festem Griff umllani
mer .
«Darf ich das Tuch jeyt fortneh
nien?« flüsterte das Weil-, »ich fürs-te,
er erwacht sonst überhaupt nicht
mehr."
.Er schläft fest —- sort mit dem
Tuch nnd verbrenne es auf der Stelle
sammt dem Kasten. Vorher aber ziehe
then die Ringe von den Fingern nnd
rurehsnehe ihn nach Geld.«
.«,, glaubte, ei sei Dir nur unt die
Bue tasthe zu thun —- willst Du ihn
ganz bereut-ent«
. »Bist-wies Frauenzimmer« ich muß
rbrs plus-dem damit der Verdacht eines
Raubanfallei besehen bleibt.«
s s es- Msnsrsssriki sit
: a ren, a n en n
MEM
»Das ist alles geordnet Sie fiibs
ten ihn von hier fort, nnd man wird
ibn in einer ganz anderen Gegend der
Stadt auffinden«
»Diese, Andre, zwei Ringe und eine
Börse.«
»Bebalie das fiir Dich, ich brauche
es nicht. Jetzt mach Dich schnell fertig
send komm, wir miifsen noch heute New
York verlassen.«
»Ich danke Dir iansendmai, Andre,
daß Du Wort hältst und mich mit
Dir nimmst. Du sollst es niemals be
reuen, niemals, ich ill Dich auf Hän
den tragen, ich wi fiie Dich arbeiten
——— Deine Sklavin fein. Nur fio
mich nicht wieder von Dit. Du sie st
» ja, ich bin bereit, alles, alles für Dich
» Zu ihnn.«
! »Schon gut. Wie bleiben zufam
men. Morgen Abend befinden wie uns
f bereits in Canada.«
; »Und dort werben wie ganz siebet
feins«
»Ganz sicher. Bist Du angeileidet?
Gut. —- Komm. hilf mir. den Mann
auf den Teppich nieder-legen. Dann
lann er nicht fallen, und meine Leute
wi en Bescheid. -—— So -—— TeufeL Du
ha ihn eine ordentliche Dosis schluclen
lassen! Man wird beinahe selbst be
täubi, wenn man seinem Gesicht zu
nahe kommt. Da lirat er. —- Nun,
Herr Baron, schlafen Sie Ihren
Rausch aus. Erinnern Sie sich Jhres
gieundes Andre Geriaut, oem Sie die
okumenie des Todten von Doktor
Jsland nicht zeigen wollten. Jetzt
wollen wir sehen, wer von uns beiden
diese Geheimnisse beniinen wird --—
Sie oder ich"«.’«
Einige Minuten später verließen ein
Herr nnd eine Dame Arm in Arm das
Haus und schritten schnell der dritten
Avenue zu, der großen Verkehre-aber,
ans welcher trotz der vorgerückten
Stunde noch reaeg Leben nerrschte.
Die Dame schmiegte sich mit unver
lsiillter Zärtlichleit an Ihren Begleiter
an, der eine Opernmelodie leise viiss
und sich den angenehmsten Gecianten
hinzugeben schien· wenn man seinem
liächflnden Gesichtsausornel glaub-en
disk te.
s Die Abendausgabe oc: »New Yorler
Staatszeitung« vom 29. October 1874
» brachte, aerneinsam mit fast allen :n
J englischer Sprache erscheinenden Blät
tern der Stadt, folgenden Aufsehen
erregenden Artikel in dem üblichen sen- -
satlionellen amerikanischen Zeitunggtv -
ti :
»Olslorosormirt und beraitthkl
lkin deutscher Baron bewußtlos im
Centraloark aufgefunden.
Bedauert nicht den Verlust des Mel
des und seiner Brillanten, kandern nur
den qesvissec Papiere. !
Eli-. gebeimnißboller Bari-txt keschiiss J
tiak gegenwärtig unsere Polizei. Sie
dürfte auch besonders in deutsch-n (
kreisen berechtigtes Aussehen erreaen,
da re sich um einen vorübzraehend in
Nur York weilenden o- Undene-i Tritt- :
seten handelt. H
Als heute Moran um iiinf iinr der .
Milcbbändler Jobn Ame-learn ten s
Mznrsiania tornmend. om Saum lies
lientralparts dabinfnbr. stieß er en »
oe: M. Straße auf den Körpe: eins
scteinbar leblos dalieaendese Mannes. z
Aus MarKeang Hilferuf-, eilten der ;
Prixloolizist William Ttlsfiliq und ein «
gerade vorübergehender Mann herbei,
und stellten fest, dafe der am Boden
liegende Fremde nur bewußtlos war.
Ter Polizist durchfuchte sofort seine
übrigens sehr eleaante ttleidunq nnd
entdeckte, daß er wede: Geld nost
Wertbgegenstände bei sich trun. Auch
wurden keinerlei Wunden an seiren
Flor-der gefunden. In der '.«lnnal)!n«,
es mit einem Schirertr..rntenen tu
tot-n zu haben, versuchte der Polizist
nat Hilfe der beiden Wonne-, re-:
Fremden zum Bewuåtlein weilele
tsrinaem als ihm dies jedoch nickn ar
lung, telegrapbirte er nagt einexn Za
i.«.la«tswaaen und bewirtte oie Ueber
fildrung des Mannes nach dem »Dan
sclcen hospital«. Hier stellten Die
Uerzte sofort eine lelorosormnarkofe
fchtverfter Art fest, und niir :t)re:i un
ausgeseytem energischen Buntitmxr en
gelang es, die Lebensartalir zu be ei
liger-. und denPatienten in's-; Beim-will
fein zurückzurufen Als er oernekss
mungsfiibig war, unt-wider ihn Jn
fpettor Wight oom Hauptgnartier
einem Verböre, welches folaendeg Re
sultat ergab: Der Fremde bebaut-tel,
der deutsche Baron Hans o. sthedem
Chef des bekannten Berliner Beni
bauses Rbeden ä- Comtiaanie zu sein,
er erklärte, daf; er sich auf einer Welt-— i
reife befindet, feit etroc drei Taan in
New Yort weile und Ein Aftornause
logirt habe. Heute Morgen habe er
l mit der »Carnpania" nach Europa rei
sen wollen. Am letzten Abend sei er
jedoch durch einen Brief umee falschen
Vorspiegelunaen in ein Haus nach
hartem gelockt und dort chtoroior.nirt
worden. Er bermifse etrva Zwanzig
Dollaro in Bantiwten. einige ileine
Münze, zwei Brillantringe, deren ;
Werth er auf fünfhundert Doktors
schont, goldene Uhr und Kette - - Und
eine Brieftasche mit wichtigen Papie
ren. Nur an der Wiedererlan ung
der letzteren sei ihrn gelegen, verfc rte
er dern Caoitiin, und er werde, srbald
er diillia en en wäre. und das spi
talverla en Inne. alle hebel in we
gung sefsenz unt jene Pariere nebst Ta
sche ou zufmdern Da sie für den
Räuber absolut werthoi seien, so hoffe
er sie stützt-erhalten Baron Rhe
den Ja «nt das Opfer eines sage-en
Ra nfallei geworden zu sein. r
deutsche Consn befliittate alle Anga
ben des Ostens, soweit sie si aus
seine Persönlichkeit und seine Refse be
ziehen, nnd« bewirkte am Nachmittag
» die Yeberfilbrung des Kroaten aus
- dem Votpttal nach temer »Und-Inmit
I nuna im Consulatsaebiiudr.
; Kurz vor Redaltionsschluiz erfah
ren wir noch einige Einzelheiten bezüg
k lich «dieieg senfationellen Vetorecht-m
Das Haus in hartem, welches Baron
Rheden als Schanplalz des Verbre.
cheng bezeichnet, ist gänzlich unbexvohnt
und liegt ziemlich ifolirt, so daß die
»Leichen«;sledderer« ungestört darin ar
beiten konnten. Zuletzt hat eine Ne
gerfamilie das Haus bewohnt; sie ver
ließ es jedoch vor sechs- Monalem man
glaubt auch nicht, daß diese Leute mit
dem Verbrechen in irgend einer Ber
bindung stehen.
Um drei Uhr Nachmittags wurden
dem Baron eine Anzahl Photogra
phien aus dem Berbrecheralbum vorge
lezzh doch ve e er das Freven
nnmer, welches i narkptisirte, nicht
aeunter zu entdecken. Die bewährte
steu Detectivs beschäftigen sich mit dem
Falle, und es steht zu hoffen, daß es
ihnen gelingt, das Dunkel zu lichten
und die Schneidigen ihrer Bestrafung
entgegenzufühtem « ·
Inzwischen ist der Cunatd Linie
Dampfer »Campania« heute morgen
nach Liverpool in See gegangen. Es
gelang nicht mehr, die bereits an Bord
efindlichen Essecten des Bat-ins v.
Nheden zurückzuhalten« -
7. C a p i ie l.
»Heute zweiundzwanzig!«
Durch das Empfangszimmet ves
Geheimeaihs Doktor Busch ging ———— es
war an einem klaren Wintertage Des
Jahres 1887 — ein leises Raufclien,
, eine flüchtige Bewe«ung, welche die
tiefe Stille dieses ! aumes fiir einen
Augenblick unterbrach, -.1ls:- der Diener
ncit gedämvfter Stimme diese Num
n:(r ausrief, unt so einer der hier hat«
ienden Personen die Nachricht über
l-mchie, daß fiit sie der Moment der
Erlösung von qualvollem Warten gei
lcmmen sei.
Urn so deutlicher prägte sich die Un
: getuld auf den Gesichtern der anderen
- aus. welche im Vorzimmer des be
rühmtesten Ar ten der Residenz harr
ten, bis die Hseihe an sie käme. Und
die Kundschast des Geheimraths setzte
sich doch aus Personen zusammen. de
nen das Warten sonst ern ziemlich un
bekannter Be· riff war, und die fiir ge
wöhnlich selbt die Erwarteten zu sein
pflegten. Ihnen wäre sicherlich zu an
derer Zeit und an anderem Ort nicht
eingefallen. ihren Willen dem eine-; an
deren Menschen unterzuordnen, denn
nur die «oberen Zehntausend« konnten
sich den Luxus einer Consultation des
als Autorität ersten Ranges annimm
ten Arztes leisten. Hier aber mußten
sie sich wohl oder iibel dem streng t-es
folgten Hauf-gesetz fügen, welches iete
Bevorzugung von vornherein ans
schloß.
»Warte zweiundzwanzig!« Der
junge, in anspruchslose Libree geklei
dete Diener mußte diesmal seinen Ruf
wiederholen. dann erst wurde es in
der. der Ausganasthiir zunächst bes.
findlichen Ecke lebendig, und eine ein
fach, ja sogar ärmlich getleidete alte»
Frau erhob sich von dem damastiibrrs
zogenen Sessel. aus dessen äußerster
Kante sie bisher gesessen hatte. i
»Jch?« fragte sie leise und ichtute ’
sich verlegen um.
Endlich war die Sprechsttsnde be
endet, der letzte Ratient war abgeirr- s
tigt und Franz Bartelzi ordnete nnd
särtberte im Embsangszirnmer die Mii
bel. Dann öffnete er die Fenster, daß
die frische trockene Winterluit den
Raum durchtrehte; auch er selbst lebnte
steh an die Briistung und sog rnit Be
hagen den erfrischenden Hauch ein.
Dabei schaute er schmunzelnd auf das
Leben und Treiben des Potsdamer
Platzes hernieder-. Es war sechs Uhr,
tiie Laternen brannten, die electrischen
Lichter erstrahlten, vor den eleganten
Läden der Leipziger-Straße funtelten
nnd flimmerten di: buntfarbigen
Transbarentschilder und einer endlo
sen schwarzen Schlange gleich wälzte
sich der Strom der Fußgänger und
Wagen durch die belebteste Straße der
Hauptstadt auf und nieder-.
»Das gefällt tnir," ging eH ihm
durch den Kopf. »Leben, Verkehr,
Handel und Wandel. Jch bin nun
einmal ein Mensch, der siir die große
Welt geboren ift und in ihr ohne Zwei
fel sein Glück machen würde. Hier, im
Hause des Geheimraths —--- na ja, ich
tann nicht tiagen, es geht mir ja ziem
lich gut, aber die Leute sind doch nicht
nach meinem Geschmatt. Zu viel
Grundsätze, zu wenig Unternehmungs
r.·eist. —--— Da scheint mir dieGräfin, vor
deren Augen ich heute Gnade gefunden,
aus anderem Holze geschnth zu sein.
Wollen sehen, am Ende nimmt sie mich
selbst in ihre Dienste. Um zehn Uhr
sagte sie, im Kaiserhos — —- Franz Bar
tels wird pünktlich sein und sehen,
welche Vortheile da zu holen sind!«
Indessen saßen der Geheirnrath nnd
sein Assistent beim Lampenschein im
Sprechzimmer und besprachen bei einer
Cigaree die Fälle der heutigen Praxis-.
Sie waren gerade dabei, zu erwägen,
ob eine vor so langer Zeit erfolgte
chtorosormnarlose wirtlich noch im
mer nachtheilige Folgen filr das Ner
vensystem hervorbringen tonm, als
nach leisem Pochen die Thüre sich öff
nete und eine mit vornehmer Einfach
heit geiletdete Dorne eintrat. Sie tanr
von der Straße, denn ihre schlanke Fi
gur wurde von einem langen, eng an
schließenden Mantel bedeckt, der arn
Kragen und den Aermetaufsehlägen
durch reichen Persianerpelz geschmückt
war. Ein kleiner-, an schwarzen Set
denbändern getragener Muff und ein
Barett aus gleichem Pelz vervollstän
tsigten die Straßentoitettr.
«Beate!« tief der Gehen-nach und
stand aus« um seiner Frau Veice Hände
entgegen zn strecken und die ihrigen
warm zu drücken, »das ist schön, daf,
Du jest schon zurijcktonunstk wir kön
nen auf diese Weise noch ein halbes
Stündchen bei einer Tasse Thee plans
dem, da ich leider mn siebet-. Uhr noch
einen Besuch abzustatten habe.«
»Du Vielbeschättrgter«, antwortete
vie Gattin des Arztes, »Du findest
nimmer Rude. Wie mant Tu Dich
heute Nachmittag svieder angestrengt
haben. —- Betten Dant, Herr Neu-mit
tet, legen Sie den Mantet nnr auf ie
nen Sessel. — Sie nehmen doch den
Thee in unserer Gesellschaft?«
Der junge Arzt lehnte die Einla
dung mit Dank ab. Er habe heute
noch an seinem Werte u arbeiten.
.Den hast Du auch fett-m ganz unt
gqr verdorben, Eberhard«, leschekte
Beate, während sie den Arm um die
Schultern ihres Mannes schlang nnd »
nsit leuchtenden Augen zu i rn aus
schautr. »Ja, wer in Deiner R he lebt,
der lernt die Pflicht über alle-J seyen
nnd den Inhalt des Lebens erst richtig
verstehen.«
»Man kann seinem Dasein nnr den
Inhalt geben, den man in sich selbst,
in seiner Seele trägt. Aus Empfin
dungen und Gedanken baut sich die
leat aus« tvo diese fehlen, lann diese
niemals geschehen. Und wenn dieses
vortreffliche, tleine Weib, das ich lvier
in meinen Armen halte, nicht das Ma
terial zur Ersüllerin der Pflichten
menschlicher Barmherzigkeit in sich ge
ttaaen —- sie würde sicherlich niemals
gelernt haben, gütia, opsersreudia und
theilnelnnend zu sein.«
Beate wieate zweifelnd das Haupt.
»Du irrst, mein Freund«, sliisterte sie,
»die anten Einenschasten die wir in
« uns tragen, bilden nur den Boden, aus
welchem die goldenen Früchte eine-z
nützlich anaewendeten Leben-.- gedeihen,
, aber dieser Boden bedarf desi« Pslttaes,
der ihn umarbeitet und zur Ausnahme
der Aussaat bereit macht. llnd weißt
Du, tvie dieser Psllla« der riiclsichtslog
und mit scharfem Eisen das Erdreich
answiiblt, beißt —- Die Erialiruna!«
» »Die Ersahrungk« widerbolte Busch
’ mit leiser Stimme, er hatte seine Frau
entstanden.
Doctvr Neumiiller empfahl sich mit
einem halblauten »Guten Abend« und
ging geräuschlos hinaus
« »Sieh, Elterhard«, fuhr die schlante
Frau fort, sich innig an den großen
isiirtigen Mann schmiegen-, »leben
nicht Tausende von Frauen, deren Jn
siinlte und Gefühle die besten, die edel
sien sind, aber ihre Augen sind geschlos
sen, ihr Bewußtsein schlasumfaiigen
Sie haben teine Fühlung mit der Welt,
ii«. der man von gedeckten Tischen und
nsarmen Kleidern nur triiuinen tanii,
in der man hungert und friert, lrasitt,
ohne Heilung suchen zu sonnen und
lzsiesiecht, ohne Zeit zu finden, sich nach
Rittung umzutliun. Sie ahnen nicht.
diese Kinder der Sonne, das-, es ihnen
ssi nahe einen Abgrund gibt, iii den
i.nr selten ein Strahl des Lichtes stillt, -
dat- sie selbst nicht einmal besonders
leachten und schätzen, weil sie gewohnt
sind, es beständig zu haben. Ich aber
ich habe diesen Abgrund lennen ge
lernt, ich habe im Dunkel getastet sind
geirrt ich fühle nicht nur, ich wxssß
« und ivie schwer auch dieses Wissen
ertauft sein mag s» ivie schwer —- - priie
unaussprechlich theuer —--—- jetzt, nach
sr- vielen Jahren, da alles ---— alles
hinter mir liegt, ist die Erinnerung an
das Entsetzliche mein unsichtbarer Ge
fährte auf meinen Wegen in die Stät
ten des Elends und der Verzweif
lung!«
Eberhard hob sanst ihr Haupt ein
nor und tiisite die Thriinen von den
langen dunklen Wimpern.
»Lasz das vergessen sein. mein
Lieb,'« bat er, »Du hast gelitten, und
Deine Leiden haben geendet. Daisst
Du nicht die einzig wahre Geniigthi:
ung empfinden, die der Mensch oug
derartigen Prüfungen in den sicheren
Port hineintragen kann? Die Wogen
haben Dich nnibraust und Du mußtest
mit ihnen rinnen und täinv en, aber
als Tit a:i««:s Land stiegst, ha ten Dich
die Wasser reiner, weißer gemacht — —
der Tona. der Schlamm, den sie mit
sich führen, er hatte Dich nicht er
reicht.«
»Nein —— er hatte mich nicht »
rcicht!" sagte Beate einfach, doch mit
fester Stimme.
»Was Du in jenem Lande zurückge
lassen hast,« fuhr Busch fort, das Ce
liebte Weib fester an seine Brust »tie
liend, »das war ia nur ein Todter.
Bist Du nicht zufrieden mit dein Le
benden, für den Du jenen einge
tauscht?«
»O Eberhardl Lieber, fgeliebter
Mann!«
»Du kannst vergessen, Beatex iezie
Zeit darf fiir Dich nicht mehr existi
ren, sie ist ausgelöscht Der Main,
dem Du nach der Neuen Welt solgtest,
init dein Du Dich drüben vermähltest,
er ist todt. Du selbst hast ihm die An
gen zugedriickt - -- Du hast eo mir er
zählt ----- Du zitterst, mein ariietz
Weib. Du verbirgst Dein Gesicht, v, ich
errathe Deine Gedanken. Du weinlt,
weil Du nicht mir die erste, ungetrübte
Neigung schenten durftest. Ich ioill
Dich an Deine eigenen Worte von vor
hin erinnern: auch die Liebe ioirv oft
durch die Erfahrung veredelt, die reine
Gluth, die der lodernden Flamme
folgt. sie strahlt mehr Wärme aus als
iene und ei laßt sich beha licher in ihrer
Nahe weilen, weil Rau und Qualm
verschwunden sind. Nein, wirklich,
ionntesi Du in mein herz siZauem Du
iviirdest Dich überzeugen, da ich jenen
Mann, der so schnell nach so lurier
Zeit des Glücks von Dir scheiden mu -
te, bedaure und beinitleide, fast nt t
weniger, wie Du es toolil thust. Steh,
wäre sein Grab und nicht so fern, ich
! roiirde Dich zu seinem hiigel begleiten,
: und wir wiirden verint dort seiner ge
i deuten —- doch er ruht jenseits oeo
? Meeres s-— tvo war es doch, wo hast Du
l ihn in die Erde gesentti«
»Ja — In Mer YorU haucme
» Beute.
« »Und auch Dein Kind list dort be
graben?«
Mit selifamer Starrheit war ihr
Blick in's Leere gerichtet, ihre Hände
umschlangen mit krampfhafiem Druck
die seinen.
»Mein Kind,« kam es kaum hör-Eint
von ihren Lippen, »ich —- ia ich begrub
es auch dort.« Und im nächsten Agi
ßenblickswarf sie sich mii leidenschaft
lichem Ungestüm an Eberhards Brust
und pre te ihre Wange an die seiniqe:
»Wir-it u mich immer, immer Fie
benf« tief sie« nnd eine unausks pro
chene, die Seeie idetnde Nkchi z iterie
in ihrer Stimme. «Sag es mit. EIN-sk
hard —- fchwiire es mir --— o laß mschc
niemals daran zweifeln!« ·
»Thörichte Fran, weißt Du nicht.
Du meine Seele bist, heute wie
vor sieben Jagrem da ich Dich fand.
tsmaebn von od nnd Verderben, —
Dn dentst doch noch daran?« . ,
Sie nickte bejahend, doch ihre site «
danken weilten nicht bei den Bildern,
die ihr Gatte mit feuriger Beredsarni
leit entrollte·
»Das Blatternltospital in Neapel.
Welch ein trauriger-, schreckensvoller
Platz! Die preußischeReaiernn hotte
mich binaeschickt, die furchtbare raan
neit, die einer Gottegaeiszel gleich fass
sonniae Land durchzog, zu studircn
und zu beachten. Jch erfüllte meine
Pflicht ohne eine Spur von Besornriisr.
Wir Aerzte sind aewöhnt, die Ver-tiefs
t.ma in ihrer avschreaendsten Gestalt
zu sehen: doch den Jammer-, dies
uranenvolle Elend, das sich biet den(
Blicken bot, vermochte tax-m der ARE
Zu ertraaen. Viele von den italieni
schen Kollegen flohen, andere brachen
erschöpft nach einigen Tagen und Näm
ten aufopfernder Arbeit zusammen,
einige starben wie Helden auf dem
Gchlachtseld den Ehrentod « die Evi
dernie hatte auch sie erfaßt. Angesichts
dieses großen, Herrscher und Voll»
Arm und Reich niederbengenden Un
aliiag vergaß ich die Grenzen meines
Auftrags, ich vermochte nicht den miis
ßigen Beobachter zu spielen, ich wurde
ein Mitarbeiter, ein Helferi«
»Ein Gottgesandter, den man an
betete » vergötterte,« ries Brate.
»Ein Mensch, der sich sgliicllich
schätzte, Menschenelend lindern zu hel
sen. Und ich hatte ja eine Mitarbei
terin siir meine schwere Ausgabe, eine
Bundesgenossim die mit mir Schulter
an Schulter tämpste, ein junges
Weib ---—"
»Jnng? Du unznverlässiger Fr
zähler! Fast dreißig Jahre alt nur
Fene Frau nnd lranl und weltn:··»de
da3n.«
»Sie besaß die Schönheit nnd ksie
simende Kraft der Jugend, sie that
nicht, als alle Männer um sie ber, nnd
lie Kranken liiszten ihr die Hand, die
ihnen ein Labsal reichte. — Nnn, der
Schluß der Novelle ist doch ganz sehst
verständlich? Der Arzt und die Pfle
i.r«rin, die in bangen Nächten die Wis
lsrn nnd Gefahren theilten, sie sehnsen
ixch danach, auch im Sonnenschein zu
sammen zu leben, zusammen das Gliici
lknnen zu lernen. Sie waren bxide
frei und unbehindert in ihren Ent
schließnngen s---«
»Frei und nnbehindert,« wiederholte
Veate leise
»Und als der Arzt wieder iiber die
Alpen zog, der heimath entgegen, Ja
iiihrte er sein Weib mit sieh heim — -
sein stilles, ernstes Glück-«
Eberhard hatte längst das siill ne
nsordene Weib in die Nische ani Fenster
gezogen, er saß in seinem ArmseZsel
und sie lniete vorihni, das haupt kn
seinem Schoosi beraend. Jeßi, als er
aeendet. fühlte er feine Hand, aus die
sit ihre Augen gedrückt, feucht werden.
»Du weinst?'« staate er weich.
»Freudenll)riinen!« sliisterte iie,
ohne zu ihm ernporzuschauen, »Fun
ren thränen!"
8. C a v i t e l.
Die ,.H«ohle", in der, wie der Diener
Franz Bartelg versichert hatte, die Fa
milie Strohbach in der Kovpenstrosfe
hauste, und aus der selbst er nach lnrs
zem Ausenthalt entsetzt geslohen war.
bestand aus zwei Räumen, einer cui
den dunleln, unsauberen Hof hinaus
gehenden Stnbe und einem Altoven.
Hätte- der Die-net des Geheimrathg
den letzteren gesehen — man hatte Ihr
nieht so weit kommen lassen, sondern
ihn in der Stube abgelrtigt ·«- wer
dreiß, ob er nicht sein Urtheil ein toenia
gemildert hätte. Während näneliai
las Zimmer von dem Lithogralem
nnd seinem Weibe bewohnt wurde und
tlpaisiichlich ein Bild der wüstesten Un
ordnung nnd jeder Vernachlässigung
bot, welche die Armuth noch um e.n
cnt Theil iirmer erscheinen läßt, wäh
rend hier auszer einem tleinen eisernen
Kochherd, einem zerbrochenen TZLh
und nicht viel besseren Stühlen, einer
nkit Lumpen bedeckten Bettstelle nnd
einigen alten in der Ecke ausgethiirxn
ten Kisten sast nichts, was als Modi
liar bezeichnet werden tonnte. zu be
merken war, machte die daran stoßende
Kammer den Eindruck peinlichster
Sauberleit, die den geringen, hier le
slndlichen habseligteiten einen Anstrich
von Wohlhabenheit verlieh s-— nmal
im eVraleich mit dem .hauistan « des
benachbarten RaumetL
Hier wohnte die alte Frau Stroh
dach, oder vielmehr, sie wurde hier ge
duldet, so lange es ihrem Sohne mqu
seinem Weibe so gefiel. eDie Grekim
mar, soweit ihr lahmej Bein es stunk
stattete, ängstlich bemuht, Ihr kleine-«
Stiibchen in Ordnug zu halten. Ihre
Lagerstatt tourde vqn einer sauberen
aebliiinten Decke verhallt, an ·dem Fen
ster prangte eine weiße Gardine, Tisch,
Faßt-unt und Stuhl waren mit Sand
tlitzblantgescheuert tote der Faßt-o
den« ja sogar emen schwachen Versuch,
ihr heim ein wenig zu schmücken, hatte
die Alte unternommen, han doch iibek
ihrem Bett an ver weißaeiiinchten
Wand eine Kreivezeichnnnq ihres feli
am Kett Strobbacn ihkes in Amsan
verstorbenen Mannes-, und über dem
Titel-, an welchem sie zu arbeiten
pflegte —— sie übernahm tleinere Reva
ralnren an Kleidern und Was-He
tgijen —- ioar in Glas nnd Rahmen
das Vaterunser angebracht, for-ben
pkächtig mit Schnörleln und tunstvpll
retschlnngenen Initialen verziert und
von einer Fülle paradiesilcher Blumen
nmrantt.
Mortlesunq May