Grand Island Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1893-1901, July 08, 1898, Sonntags-Blatt., Image 12

Below is the OCR text representation for this newspapers page. It is also available as plain text as well as XML.

    Klüftyund Ebenen.
Roman von Hex-man Heibercz
tzoktfktzungJ
Nur eins bedrückte Gaarz neben den
Lebenssorgem Er hatte einen Sohn
zur See schicken müssen, der nicht ge
rathen und nun schm, spärliche Rach
richt gebend, Jahre unterwegs war.
Es hatte sich wohl nichts Unltebsames
ereignet, aber sein Herz sehnte sich doch
nach Mittheilung und der Bestätigung
dessen, was er hasstr.
Während blitzschnell solche Gedanken
durch seinenKops gingen, hörte er plötz
lich von unten heraus ein lautes Pol
tern, dann einen dumpfen Fall und
zuletzt jammernde Schnierzensrusr.
Einen Augenblick zauderte er noch un
gewiß, dann aber eilte er die Treppe
hinab.
Arn Fuß der Treppe lag Legardus,
der gestolpert war und sich überschla en
hatte, stöhnenb, bleich, unfähig, sich
auszurichten, und offenbar durch den
Fall schwer beschädigt
Aber auch schon Angelica war an
seiner Seite, und jeßt eben trat Frau
Kardel mit allen Anzeichen höchsten
Schreckens aus dem Wohngemach
»Ich bitte, ich bitte, was ist, Herr
Doktot?« stieß das junge Mädchen,
chne sich zu erheben, zu Gaarz gewen
det, mit flehender Miene hervor. Und,
eine Antwort nicht abwartend, zu Le
gardus:
»Dast Du Dir sehr weh gethan? Wo.
Lieber, hast Du Schmerzen? Ach, Du
Armerl —- So, so, stütze Dich auf
Jn Leaardus' Züge trat ein seine
grrszen Schiner en verrathender Aus
ruck, auch wo te ihn eine Ohnmacht
til-erwarmen Aber er kämpfte sich em
por und 1ichtete, statt Angelica Ant
wort zu ertheilen, sragende Blicke aus
Stark
Nach einer für den Betroffenen qual
vollen Untersuchun , die im Komptoir
stattfand, erklärte ar zu aller Be
theiligten Schrecken, dazß eine Zer
xchrnetterung der Kniefcheibe stattge- »
unden habe. Ein schwere-r Seufzer
entglitt Legardus’ Brust, dann sagte
er gefaßt:
»Wie lange kann es währen, bis ich
mich werde wieder bewegen können,
Herr Doktors«
1
i
i
i
i
(
»Auf einige Monate müssen Sie sich s
leidet wohl gefaßt machen!'« erklärte I
Gaarz, besänftigende Worte hinzu-I
fügend.
»Dann möchte ich bitten, mich lieber
aleich ins Krankenhaus bringen zu las
sen. Nicht wahr, auch Sie halten das
fiir das Geeignetste, herr Doktor-Z«
Gaarz bestäti te, und Angelica rich
tete, in der Hoff
nung, da ihre Mutter »
einen Einwand erheben werde, einen «
zitternden Blick auf sie.
Aber die Frau sagte nichts, und Le
gardrrs, seiner Braut Gedanken erra- j
thend, winkte ihr heftig ab.
»Nein, lasse, es musz so bleiben! Es
ist besser so!« erklärte er entschieden.
Jn diesem Augenblick erschien Kar
delz schon draußen hatte man seine
Stimme vernommen-. Als er Legar
das dalie en sah. auch Gaarz erblickte,
en fin ere Schatte-n über sein Ge
k .
Aber Gaar kam-ihm uvor, reichte
Angelika die nd und sagte:
«Es wird wohl gut ein, daß sie
nunmehr sogleich zu Jhrem Arzt sen
den. damit er s vor dem Trans
prrt den Verban anle t. Jch lann
nichts mehr thun.« Un leise fügte er
Au rderung las-, sich Fu Fuß-ern:
«Unter den sbeste nden erhaltnrssen
eifen Sie, da ich mich entferne."
hinpfik indem er in ihren Mienen eine .
nn reichte er auch Legardus die .
Land und nahm, dem Ehepaar nur
durch eine allgemein haltene Ab
sckpiedsbewegung Brach ung schenkend,
den Ausgang nach dem Flur. Aber
als er eben rm Begriff stand,»empor
rfteigen, hörte er eine sanfte Stimme
«nter sich:
»Herr Doktor. Herr Doktor Gaarz
Er wandte sich rasch um Tlngelica l
stand vor ihm Ader in ihrem über-.
nächtigen Gefühl fand sie leine Worte ’
Yeit einem stummenDaniegblick drückte H
sie ihm die Hand und noch einnnl l
Dann eilte sie ins Komptoir zurück l
i l
Es war mehrere Tage später um di e
Morgenzeit. Doktor Gaarz hatte eben
den letzten Patienten in seinem Sprech
immer empfan en und rüstete sun,
feine Krankenbe befuche anzutreten, als
noch einmal geklopft ward und zu fei
höchsten Ueberraschung Angelica
Kardel vor ihm erschien. Seit der letz
ten Bee egnung hatte er sie nicht wie
der gese n, überhaupt waren ihm seine
usbewohner nicht von Neuem zu
gekommen.
ie verschredenen Vorgänge hatten
eisu au genflicklichen Nuhestand mit
sich efiihrts es schren nicht der Zufall
usinsassen war
hlt worden, Lega rdus ins
Mauren us geschs worden ei und
das die oelser des Hauses se r viei
Sie-vorm iibe War hapu
von allem untereitet kenn-u ten, da
die Verlobungu o,te da
der site daran Lodie Frau
nie und page beFie Junge von dem
bmtlIesMitW Bewohnern unsympa
lasien wolle.
Gerade kurz vor dem Unfall der
Legatdus betroffen, sollten zudem sehr
erregte Zusammentiinste zwischen den
Verlobten aus des ersteren Zimmer
stattgefunden haben. Auch hatten sie
das erspäht, und da dies lestere mit
Gaarz’ eigenen Beobachtungen über
einstimmte, so war wohl auch das
Uebrige als glaubwiirdig anzunehmen.
—- Jedenfalls sah’s drunten traurig
aus, und alle Mitbewohner waren in
Spannung welches Ende die Dinge
nehmen würden.
Bei den überaus angenehmen Ein
drücken, die Gaarz von Angelica ern
psangen hatte, trat e: ihr mit großer
Zudoriommenheii entgegen, und seine
erste Frage alt. nachdem das schüch
tern und unsicher austretende junge
Mädchen sich niedergelassen hatte,
ihrem Verlobten.
»Eben um seinetwillen komme ich,
geehrter Fett Doktor. Um seinet- und
n.einetwi en«, stieß Angelica in sicht-v
licher Befreiung, daß Gaarz gleich die
Sprache aus ihn brachte, heraus-. »Ju
dessen wollte ich Sie «etzt nicht stören.
Jch weiß, daß Jhre prechstundenzeit
vorüber ist. Mein Besuch sollte vor
läufig nur den Zweck haben, Sie zu
fragen, wann ich ohne Zeugen würde
mit Jhnen reden dürfen. Es ist sch:
Viel verlangt, daß ich Sie darum bitte.
»An sich schon fehlt mir dazu seg
liche Berechtigung, wegen aller Vor
gänge, gänzlich Aber ich habe keinen
einzigen Menschen aus der Welt, an
den Ich mich wenden kann, zu dem ich
das Vertrauen besitze, daß er mir vor
urtheilsfrei rathen wird. Sie sind der
einzige, obschon wir uns kaum kennen.
Ihnen tat-n ich alles sagen, ach, bitte.
weisen Sie mich nicht zurück. s ch bin
so zerrissen in meinem Innern, o der
zweiselt, wie ich es Ihnen nicht aus-z
sprechen rann."
Als ihr Gaarz auf diese Worte
trostvosll zusprach und sich sogleich be
reit erklärte, sie anzuhören, schüttelte
sie, von Rücksicht geleitet, den Kopf.
»Nein, ich danke von Fetzen, jetzt
nicht. Jch kreiß, Sie mü en fort, auch
ist« was ich Jhnen vorzutragen habe,
nicht mit wenigen Worten abgemacdi.
Es handelt sich um keine gewöhnliche
Sache, sondern um etwas ganz Außer
vrdentliches, um Dinge, die im Grunde
nur zwei Ohren hören dürfen. Wenn
Sie gestatten. möchte ich Sie an einein
Nachmittag im Hause sprechen. Meine
Eltern dürfen nicht wissen, daß ich zu
oihnen gehe, daß ich mit Jhnen ver
Ehre. Und noch einmal, innigsten
Dank für ——— Ihre —- Güte. —-— Ich
t «
Nun brach die Stimme, die Worte
fehlten der Bedrückten, und sie fand
auch die Sprache nicht wieder, sondern
nieste nur unter Schluchzen und Thra
nen, als der Doktor ihr den nächsten
Nachmittag bei Dunkelwerden für eine
Besprechung oorschlu .
Wenige Augenbli e später hatte f-e
bereits das Zimmer verlassen, und fur
daraus eilte Gaarz, nachdem er nodg
nach seiner Frau gesehen und im ra
schen Vorbeigehen von Asta einen Kuß
empfangen, die Treppe hinab.
Zunächst betrat er den in der Mitte
der Hauptstraße befindlichen Laden
eines tleinen Papierhändlerö, dessen
Frau er ebenso wohl wie eine Anzahl
anderer, dem Mittelstande angehören
der Einwohner Bründes in olge
Sterbefalleg eines Kollegen kürzlich in
Behandlung genommen hatte.
Die Frau inar nach dein Tode des
einzigen Sohnes-, den sie besessen, so
leidend geworden, daß sie an fort
dauernden Schwächezuständen litt.
Obschon allezeit eine inappe und
cheinbcr iinempfiiidlidx Art an den
- ag legend. liebte der-Mann seine Frau
zärtlich. Zu Ganrz hatte er sichtlich
nicßes Vertrauen und trotz der kurzen
Bekanntschaft bereits eine ebenso große
Zuneigung gefaßt. Sie äußerte sich
inxmer dadurch, daß er die Menschen
ins Gespräch zog. Gegen Leute. die
er nicht leiden mochte, verhielt er sich so
tr-rrtkarg, daß er selbst als Geschäfts
niann bei der Bedienung kaum das
Nothwendigste sprach. Sehr gern
mischte er in seine Reden plattdeutsche
Wendunrreit; immer kamen sie zum
Virscheim wenn sich die Kritik bei itiin
regte, wes-n der Hang zum Spott ibn
frrtriß.
»Sind Sie Leute zufrieden, Herr
Doktor-« fragte er, als Gaarz nach
dem Besuch der Frau wieder in den
Laden tr:t.
»Ja, Herr Engelbrecht. Der Puls
gibt re eimäßiger, die Kur bekommt
«—-l,irer Frau ents?ieden. lten Sie
nur darauf, daß te sie fort etzt.«
Ueber des kleinen, vierschrötigen En
.lbrecht Gesicht glitt ein zufriedener
usdruck. Aber er wollte auch soiiit
noch etwai- schivayem Während er sich
gegen das- große mit zahl « n Pa
piersorten Und Mrtj besey e Re al
hinter dem Ladentisch lebnte und -
durch andeutete, daß er Tit habe,
sagte er allerlei. Auch bra e er die
ede auf Mittels
Als der Doktor Antwort gab, sa te
er, das gei tge Rassen der beiden Ege
leute berü,rend, pattdeutsch:
»Und damit immer noch mehr ward,
lkpen se jeden Sünndag in de Kirch
un beten. Da kann de lewe Gott ja
gc.rnich anneri as Ja seggein Da is
he veel to anständig dorto. Un he
hett ja ot uttodehlenl De letoe Gott
is en swer rite Manni«
Saarz hörte lachend diese und an
dere Reden an, sah dem bartlosen
zu jeder Tageszeit auf seinem Posten
stehenden Mann noch einmal in die
steudnlieiyschalthaften Augen und eilte
dam- weiter.
Gleich an der Ecke derselben Straße
wohnte eine Putzmacherin, die Jahr
ais« Jahr ein am Magen litt. Sie hieß
Dora Stille und hatte einen ganz un
gewöhnlich langen, mageren Hals und
sogenannte Straßenaugen. Von frü
hem Morgen bis an den späten Abend
saß das blasse, diirre Geschöpf bei der
Arbeit und wurde immer niatter und
matten
Mit dem Deutsch bestand sie täglich
die heftigsten Kämpfe. Sie war von
Geburt eine Dänin, hatte weniger
Sprachtalent, als eine Bohnenstange,
obschon sie ihr sehr ähnlich sah, und
brachte ein schreckliche-Z Durcheinande:
zu Tage. Als Gaarz bei ihren Klagen
wiederholt betonte, daß sie einmal
Lustveränderung und Ablösung von
der Arbeit sich verschafer müsse, ließ
sie das Seidenband und die Nähnadel
sallen und stieß in einem tliiglichen,
aber den Doktor halb rührenden, halb
zum Lächeln nöthigenden Ton beraus:
»So sotlle ich wohl, sagen Heerot
tor. Aber wo könnte ich, guter, lieber
Herr Doktor Gaatz Die Sanitätsi
räthin Weber will mich die Kundschatt
wegziehen, wenn ich den Rest von die
ses Monat nit blos für ihr arbeiten
thue. —- Und denn: mein Swestertind
Lulle Trahn, sie is noch in’s Examen
für Handarbeit Jhr muß ich auch
unterhalten, bis sie aus ihr eigene-:
Theil sitzen konn. —- Nee, wo soll ich
wegkommen? Und das Geld, guter
Herr Doktor! —-'«
Am liebsten würde Gaarz in die
Tasche gergifsen haben, um der armen
Seele einmal eine Ruhepause zu ver
schaffen. Aber da das nicht ging, ver
ordnete er ihr ätherische Ball-rinn
tropfen dreimal täglich auf Zucker und
empfahl ihr zu versuchen, Nachts bei
osefnem Fenster zu schlafen und über
haupt das Zimmer mehrmals täglich z
lüften.
»Ja, bitte, gerne, guter Herr Dol
tor! Wenn Sie meinen! —- Und mit
dem schrecklichen Magendruck, was mir
beschwert, nach dem Essen, meinen Sie.
wird es denn besser werden? Gott gebe
es mich!«
Der Doktor niclte freundlich und
eilte weiter.
Nachdem Dottor Gaarz dann noch
anderweitig fast zwei Stunden zu thun
gehabt hatte, richtete er seine Schritte
vor die Sadt, um Stjoldg und der
schönen Nina Telge Besuche abzu
statten.
Die beiden Familien beschäftigten
ihn außerordentlich, denn wenn er auch
nach den empfangenen Eindrüaen eini
germaßen richtige Schlüsse gezogen zu
haben glaubte, so war es ihsn doch bis
her nicht gelungen, tiefere Einblicke in
die Verhältnisse zu gewinnen.
Die lebhafte Nan hatte nur flüch
tige Aeuszerungen fallen lassen, und
Harder Stjold war ihm seltsameri
weise bei feinen erneuten Besuchen
ausgewichen. —- Auch heute über-fiel
Gaarz beim Betreten des einsamen
Bartes ein eigenthiimlich beilemmen
des Gefühl. —- Eö war ihm, als ob sich
etwas Schreckhaftes hinter den vor sei
nen Blicken austauchenden Mauern er
eignet habe. Die Menschen waren ihm
riithselhaft; besonders wurde er nicht
tlar darüber-, in welchen Beziehungen
Juge, die Schwiigerin, zu Harder und
seiner Frau stand.
Aeußerlich gab sie sich fast als eine
Dienende. Sie legte, wie er beobachtet
hatte, niemals eine selbstständige Mei
nung, viel weniger einen eigenen Wil
len an den Tag. Sie gehorchte, stumm
sich unterordiiend. Die Bewegungen
ihres vollendet gewachsenen Kröperg
waren liinstlerisch schön. Wenn sie sich
verneigte, lag eine mädchenyafteGrazie
ir-. ihrer Erscheinung, und ihr Schrit
war so leicht und leise, daß man oft
ihr Kommen nicht bemerkte und fast
zusammenschrat.
Der schwedische Arcent verleugnete
sich nicht, wenn sie sprach, doch drückte
sie sich"im Deutschen sehr gewandt aus-.
Als Gaarz ans hauö gelangte, fand
ee die Thür nicht, wie sonst, fest ge
schlossen, sondern nur angelehnt, und
es erschien niemand, als er sich durch
Geräusch bemitbar zu machen suchte.
Jn der Absicht, ohne Anmeldung Frau
Stjold in ihren Gemächern auszusp
chen, öffnete er das lintsseitig belegene
Zimmer-, fuhr aber betroffen bei dem
Anblick zurück, der sich seinen Augen
bot.
Stjolb stand über seiner vor ian
sitzenden Schwägerin gebeugt und be
rührte ihre Wangen, und sie löste eben
die um seinen Nacken geschlungenen
Arme.
Eine geraume Weile blieb Gaarz
wartend vor der Thiir stehen; er nahm
an, da Stjolb sich zeigen und ihn zu
seiner » rau geleiten werde. Aber et
tam nicht, und als noch eine Minute
weiter verging, ohne daß sich etwas
rührte, beschloß Gaatz, sich zurückzu
ziehen und, ohne Frau Stjold gesehen
zu haben, das haus zu verlassen. Jn
diesem Augenblick erschien zu seine-«
höchsten Ueberraschung Jnge in der den
Flur mit der hinteren Wohnung ver
bindenden Mittelthiir.
Als sie Ganz offenbar ihn nicht
hier vermuthend, erblickte, stieg eine
unheimliche Blässe in ihr Angesicht,
und ihre Gestalt zitterte.
Nun trat Gaarz, ohne die mindeste
Befreindung an den Tag zu legen, ja,
mit einer Miene, als sei er erst eben
ins Haus getreten und noch bisher von
niemandem begrüßt worden, dem er
schrockenen Mädchen entgegen und
reichte ihr freundlich die Hand
»Ah, vortrefflich, daß ich Sie sehe,
hochberehrtes Fräulein. Wie geht’s?
Jst Jhre Frau Schwestr zugegen?
Kann ich sie sprechen?"
»Nein, meine Schwester ist nicht da!
Sie ist in die Stadt gefahren. Es ging
ihr heute besonders gut. Aber wollen
Sie nicht näher treten? Bitte, hier!
Jch werde doch sehen, ob mein Schwa
ger anwesend ist.'
Dabei eigte sie aus das Gemach, das
Gaarz vor wenigen Minuten verlassen
hatte, und verschwand, nicht mehr Her
rin ihrer selbst und ohne seine Ant
wort abzuwarten, eilig und hastig
durch dieselbe Thür, durch die sie so
eben aus den Flur getreten war.
Aber Gaarz that, nach kurzem, ra
schem Besinnen, nicht, wozu sie ihn
aufgefordert hatte. Er schritt die
Treppe hinab in den Garten und nahm
den Weg zum Ausgang Als er bei
einem Gebüschaudschnitt den Kopf noch
einmal umwandte, sah er zu seinem
höchsten Befremden, daß —— Frau
Eliold die Fenster in ihrem Gemach
öffnete und, sich tief vorüberbeugend,
in den Part hinausblickte.
Ein unwiillges »Ah!« drängte sich
iiber Gaarz’ Lippen! Man hatte ihm
also die Unwahrheit gesagt, sicher weil
man ihn fürchtete.
Aber da dies doch eben geschehen
war, um ihn aus der Villa zu entfer
nen, ward auch durch den Anblick der
I Frau sein Entschluß nicht geändert. «
i Ohne Besinnen schritt er vorwärts,
hatte nach wenigen Augenblicken den
Part verlassen und lenkte seineSchritte
zu der versteckt liegenden Villa, in der
Nina Telge mit ihrer Großmutter
wohnte.
I Schon als er durch den Vorgarten
s schritt, hröte er die Töne eines spani
s schen Liedes aus dem geöffneten Par
s terresenster dringen. Jbre Stimme
; klang entzückend, und dieMelodie hatte
einen überaus schwermiithigen Charak
ter. Vor der Thiir sasz die alte Dame,
wie immer sehr phantastisch getleidet.
- Sie hatte ein gelbseidenes Tuch tur
banartig um den dunklen Kopf ge
schlungen, ihre torpulente Gestalt uni
schloß ein schlasrockartiges Gewand
von demselben tostbaren Stoss in
iuntler Farbe, und unter dem Kleide
auckten mit rothen Lederpantosseln be
deckte, sehr tleine Füße hervor. —- Jbr
Gesicht erschien heute besonders gelb,
sast leder sarbig. Die Umgebung der
dunklen Pupillen glänzte in einem ei
genthiirnlichen Blauweiß.
Nina hatte bei der Anniiherung des
Dottors ihren Gesang unterbrochen
und ihm ein stürmisches Willkommen
zugerusen
»Ah, lieber, einziger Herr Dottor!
Wie gut, daß Sie da sind! Jhke arme
Patienten langweilt sich zum Sterben.
Bitte — die alte Mama ist nicht da -——
ich weiß nicht, wo sie steckt, um wieder
schreckliche Dinge gegen ihr Enteltind
auszubriiten!«
»Ich werde gleich vor Ihnen er
scheinen, gnädiges räulein. Nur ei
nen Augenblick wo en Sie verzeihen!«
entgegnete Gaarz dem schönen Mäd
chen zunickend.
» Nun ging er aus die alte Mama zu,
die sich, eine halb tadelnde, halb zärt
’ liche aus Nina berechnete Geste ma
chend, sogleich erhoben hatte, und setzte
- sich mit ihr aus eine vor dem hause
stehende, mit vielen kleinen seidenen
Polstern be deckte Bunt.
»Wie geht’s?« begann Gaarz lie
benswiirdig
« »Nicht gut!" erwiderte Frau Mar
tinez in ihrem gebrochenen Deutsch und
die nie ausdleitendein wie ein fragen
« deg »inn« klingenden Kehllaute in die
Rede einfügend. Reine Nachricht,
gar nichts. Schon iiber vie-zehn Tage.
Ich weiß nicht, wag ich denlen soll.
Habe schon gedacht, ich wollte an mei
» nen Entel telegraphiren. Er ist im
J mer in Paris-. hm?«
l »Ist ex km beschäftigte
s »Gewiß, er hat doch dort sein Ge
; fchöft. Banlgeschäft, hni? Er reist
i so viel. Weshalb kommt er nicht hier
I her?«
f Da sie innehielt und eine Aeußerung
f von Gaarz zu erwarten schien, sagte er
s ingleich forschend:
»So? herr Mariinez ist Banlier?
Weshalb, die Frage sei erlaubt, haben
Sie sich in Bründe niedergelassen? Sie
lebten doch früher in Südamerila —'«
»Ja, in Valparaiso! Dort war Ni
naö Vater Kaufmann. Hm? Er starb,
auch eine Tochter ist gestorben, schon
früher —- sehe jung. —- Wir beschlos
sen nach Deutschland zu ziehen. here
Telge war ein Deutschen Hm? GI
avsto, Ninai Bruder, war bereits fr -
her in Paris.
»Als wir eine längere Vergnü
qungsreise machten und auch nach dein
Norden gingen, nach Shlt in das Bad,
ben? verfolgte Nina ein Mann aus
Paris, den Gustav-) durchaus nicht
will. —- Jmmer hat er rasche Ent
schliissr. hin? Ihr bleibt hier, bis
ich weiß, da er wieder drüben ist! Ich
bole Euch, agte er. Diese Wohnung
fand er zufällig. Sie gehört einem
Denn, den wir in Shlt kennen lernten.
Er bot sie ihm an. — Aber was sollen
wir hier? Om? Nina bat ganz
recht.«
Die lehten Worte der rasch dahin
geflossenen Rede sprach die Frau mit
gedämpfter Stimme und schielte, zu
gleich in etwas unschiiner Weise den
Mund ziehend, um ihrer stummen
Sprache: »Ich rede leise, damit das
schlaue Geschöpf mich nachher nicht
beim Wort saßt,'« stärkeren Ausdruck
zu verleihen, nach dem offenen Fenster.
Gaarz machte dieser Bericht denEin
druct der Wahrheit, und um noch mehr
zu erfahren, warf er in einem äußer
lich uninteressirten Tone bin:
»Sie sagten, Fräulein Nina sei von
einem unliebsamen Menschen verfolgt
worden? War es ein Mann aus der
guten Gesellschaft?«
»O —- o, sehr, sehr!« betonte die
Frau, machte große einfältige Augen
und zog die Unterlippe. »Es ist doch
ein Vetter von Ninak Sehr, sehr reich.
Hm?«
Das r in dem Worte Vetter llang
besonders scharf, und Nina, die alles
gehört zu haben schien, rief plötzlich,
ihrer Großmama Stimme topirend
und jedes Wort wiederholend, laut
durch das ossene Fenster:
»Es ist doch ein Vetter von Nina.
Sehr, sehr reich! hm? Und Nina will
ihn auch nicht. Er hat eine große citro
nengelbe Nasc, trägt rothe Krabatten
und besitzt Zähne wie ein Rhinoceros.
Sein Urgroßvater muß eianinoceros
gewesen sein.«
Dazu lachte sie silberhell, und die
Alte schüttelte, wieder die Lippen zie
hend, tadelnd den Kopf. Aber Nina
subr auch noch fort und sagte, immer
noch redend, als ob ihre Großmutter
das Wort führte:
»Es giebt aber noch einen Vetter,
Carlitos, den hat die arme tleine Nina
sehr lieb! Hm? —— Der möchte sie bei
ratben, aber auch den will der Bruder
ihr nicht geben. Er wird erst Ja sagen,
wenn sich die arme Nan beide Augen
blind geweint hat. Ob er auch eine
gelbe Nase und so große Zähne bat?
Nein, nein, nein. Hin? Er bat deut
sches Blut, ist weiß wie eine Granat
blütbe und raucht bavanesische Eigen
retten, die beste Sorte. Hint«
Die letzten Worte begleitete das
lustig spottende Geschöpf mit einem
abermaligen, eigenttriimlich tief klin
genden Lachen. Die Alte aber tnurrte
unmutbig, bewegte den Kopf und zog
die Schultern.
»Es ist nichts Respekt, nichts. Hm?
Herr Dottot? Aber bitte, wollen Sie
nicht näber treten? Bitte, darf ich et
was anbieten, MatronenZ Vielleicht
ein wenig süßen Madeiru mit Angio
stura? Gut! Hin ?«
—
Als Gaarz wieder nach Haufe kam,
hielt bereits ein Landkutfctyer mit ei
nem offenen Zweifpiinner vor der
Thür. Die Sache war so eilig, baß
der Arzt kaum Zeit hatte, in Ruhe zu
essen.
Schon im Begriff fortzugehen,
drängte sich Asta an ihren Vater und
fragte, ob sie ihn nicht begleiten dürfe.
Er fuhr nach dem Dorfe Kalthoi,
Gaarzens bisherigem Wohnsitz· Afta
toiinfchte lebhaft, die dortige Paftorew
familie, mit der sie fehr nahe Freunds
fchaft gehalten hatten. auf einige
Stunden zu besuchen. Gaarz ftimrnte
bereitwillig zu, verfiändigte noch feine
Frau iibet einige Dinge der Praxis
und stieg mit Afta die Treppe hinab.
Gerade als fie aus der Thiir schritten,
begegnete ihnen Angelika KardeL die
äußerst bedrückt ausfalp Beide Mäd
chen nickten einander freundlich zu, der
Doktor aber nahm Angelika rafch bei
feite und fagter
»Komm« Sie von Jhrem Verlob
ten? Wie geht's ihm?«
.Nichk gut, Herr Doktor —-—-·' Sie
sprach’s mit einem hoffnungslofen
Blick.
Gaarz redete befanftigend auf sie
ein; zuletzt knüpfte er an die letzte «le
rede an und sagte:
«Morgen Nachmittag beim Dunkl
werden in meiner Wohnungst Adieu!
Verzagen Sie nicht. Es wird alles noch
gut werden!«
Nun entfernte sich Angelika mit ei
nem dankbaren Blick. rau Kardel aber
guckte hinter den Blumen deg Fensters
bervor und schaute ihnen finster nach.
Asta wußte ihrem Vater, alg neufte
Nachricht mitzutheilen, daß an Stelle
ron Legardus, lur vorher, bereits ein
anderer erster Gchulfe eingetroffen sei.
Wie Brunnererzählt hatte, wars ein
Verwandter der Frau, tier einzige
Sohn einer Schwester, die hoch im
Norden, nahe der jiitischen Grenze
wohnte. i
Der junge Mann war eigentlich
Apotheler und hatte bisher in Schle
sien eine Thätigleit gefunden.
Diese Mittheilung beschäftigteGaarz
sehr, und er ließ sich auch in Worten
über Angelieas Kummer our-.
»Was Jhr armen Doktoren alles in
Euren Kon zu nehmen habt» bedau
erte Aste-, während sie dahinfuhren. «
»Ein Arzt, Nr ein fiihtendes herz !
besish den die Menschenliebe in feinem
Berufe leitet, kommt eigentlich gar
nicht aus der Aufregung heraus. hat
er zudem noch selbst Sorgen, dann
muß man seinen Seelenqleichmuth
und seine Aufopferungsfähigteit be
wundern. Aber trotzdem -—· ich möchte
auch Arzt sein, freilich nicht in der
Stadt. Immer thiitig, in steter und
neuer Beziehung zu anderen Personen,
irsstend, helfend, heilend und deshalk
doch auch einmal Dant einerntend,
wüßte ich laum etwas Schöneres.«
Gaarz bewegte beipslichtend den
Kopf, dann sagte er, seiner Tochter
Gedanken ergänzend:
»Unsere Nebenmenschen erschweren
uns unserenBeruf, weil sie selten wahr
gegen uns sind. Sehr häufig rühren
ihre Leiden von Ausschreitungen her,
. die einzugeftehen sie sich scheuen! Sie
verheimlichen die Gründe« statt sie mit
zutheilenl
»Man tann aber nur die rechten
Mittel anwenden, wenn man die Ur
sachen tennt, aus der eine Ver-stim
mung des Körpers herrührt. Justie
sondere miißte man auch die inneren
Familienverhältnisie tennen, die Be
ziehungen der Ehegatten zu einander,
die Lebensumstände. Ost ift’s nur die
Sorge, die eine Krankheit hervorruft.
Ein guter Arzt soll zugleich der geist
- liche Berather, der beste Freund des
Kranlen fein, dann erst ist er ganz im
.Stande, seiner Aufgabe gerecht zu
werden« ,
»Sie sind ein solcher, Herr Doltort«
entgegnete Afta, ihren Vater mit dem
schelmischen Sie anredend. Es geschah
immer dann, wenn ihr Gefühl sich start
erregte.
»Sie haben das beste Herz von der
« Welt, Sie möchten allen helfen, und
bei Ihnen weiß wirtlich die rechte-Hand
nicht« was die linle thut.«
Guarz drückte, das Lob abwehrend,
Afta sanft an sich. Dabei überflog er
ihre Gestalt. Er mußte sich selbst ge
stehen, daß es tauin ein reizvolleres
Geschöpf geben könnte. Ihre llugen,
neclifchen Augen, ihre weiche Stimme
nahmen ihn immer wieder gefangen.
Auch befand sich Gaarz heute in einer
besonders lebensfrohen Stimmung. Es
ging doch allmählich schon immer bes
ser mit feiner Praxis, er fühlte, daß
die Menschen ihn mochten, er sah, daß
er Erfolg hatte, und die Seinigen
zeigten, nachdem in die Hausangele
genheiten Ruhe gekommen war, ein
vergnügteg Gesicht. So schaffte ihm
J die Umfchau iiber das, was ihm oblag
und wag zu ihm gehörte, frohe Gedan
- ten. Ueberdieg hatte er gegenwärtig
leine schweren Fälle zu behandeln, die,
die Veranttorttlichleit des Berufeg er
böhend, ibn oft ernst und nachdenklich
machten.
Auch der herrliche Tag forderte seine
gehobeneGemiitbsstimmung Die Ruhe
in der Natur wirkte besänftigend. Doch
kraus- nicht ganz einsam. Viel Fuhr
I wert rollte iiber die Landwege dahin
und Gruß und Gegengruß erfolgte.
Dem Arin bot sich immer Neues, und
der Reiz der norddeutschen Fluren kam
gerade bei dem klaren Wetter beson
ders zum Ausdruck.
Wo einmal ein freierer, nicht durch
die nKicke gehinderter Ausblick sich be
fand, da boten sich dem Auge überaus
libliche Bilder. Jn weiter Aug-deh
nung fügte sich eine grüne durch Vieh
belebte Wiese neben die andere; da
zwischen vieltarbige Ackerstreisen, eben
umgepfliigteø oder brach liegendesFeld,
aus dessen tahler Mitte bisweilen ein
einziger mächtiger Baum empor ragte
und einen schönen Farbengegensaß
schuf. Tiesschwarzes Land und grü
nes Laubdach. Und dann wieder von
silberglitzernden Auen durchzogene
. Gras-streifen umsäumt von Gehölz.
Zweimal tauchten in sanften Win
dungen sich hinschlängelnde, an der
: einen Seite von Wasser, an der ande
- ren von dichtem Waldreviet umsäumte
einsame Wege aus« Und Dörser und
; tleine Bauernstellen, Gutshöse und
; duntelbedachte weißschimmernde herr
I schastssitze, umgeben von grünem Ge
; biisch und Gärten, und endlich, nach
! dem das Wagengeräusch eine Schoar
i ungeschickter Gänse von der Landstraße
; verscheucht hatte, die Einsahrt in Kalt
. hof.
Das Pastorenbaug versteckte sich
reden dem bochdeleaenen, aanz von
alten Bäumen umschatteten Friedhof,
in dessen Mitte sich eine ursprünglich
in alten Feldsteinen ausge:)aute, neuer
- dirgs v.tukqetnauerle stirche erbot-, hin
ter zwei riesigen Linden, nnd man er:
reichte dac- einem Herrenbesitz glei
chende, hübsche Gebäude, indem man
einen große zierlich aebaltenen Vor
PlaX durchsänti
» « sta stieg, nachdem sie »s;eit und Ort
der Wiederbegegnung verabredet llatle,
vor diesem ab, schlug aber nicht den ge
raden, sondern einen lleinen versteaten
Seitentveg zu dem Psarrbause ein.
« Hinter demselben lag ein herrlicher,
tsarlartiger Garten. Nachdem Asta ihn,
Vorsichtig um sich spähend, betreten
hatte, näherte sie sich der weinuniranl.
ten Rückwand des hause-z und schaute
in die tieilie ende Studierstube des
Beste-m « Es war niemand da, aber
aus dem geöffneten Fenster drang ihr,
durch die unbewegte tust gefördert, ein
s rser Duft von Tabal entgegen, auch
s oebte noch über dem mit ochristen
und Büchern bedeuten Schreibtisch ein
« blaues, sich ’e t in weißen Streifen zer
theilendes lieben, während die eben
sitt sestr. ge n den Arbeit-se el e
lehn e lanae leise in ihrer chi n
Lage fast det· Gefahr des Ausgleitenj
arsige th schien. Die alte, unendliche
Gemüthli teit des Raumee drang auch
; heute aus sta ein.
H Zwischen den fast bie an die Decke
L erlitt-enden mit Büchern in altnio
chen Ein-banden von oben bis unten
be e ten Regalen befanden sich ein paar
bequem eins-sehen mit sange
ltitnteni St , et te So hat« Da
vor Wcht T selx und St· le.
OM Mis)
.
as