Grand Island Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1893-1901, December 24, 1897, Sonntags-Blatt., Image 15

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    Ereylorli Monds
Roman von Jofef Trenmamu
(24. FortfesungJ
Von der »Rosen-Herberge« gingen
mir leine weiteren Nachricht-en mehr
zu; eines Tages jedoch, als ich an
Tante Pamelas Seite durch Die engen
Straßen von Blaclport fuhr, f! r-; des
Doktors Einspänner an uufc rer Equis
page vorbei.
Nur einen Moment begegnet-en sich
unsere Blicke. Ich faß, tief in Trauer
gekleidet und in schweren Pelz gehüllt.
— neben Tante Parmela und bot ohne
Zweifel feinen Augen einen merkwür
digen Anblick dar, als ich mich text-mo
niiis verneigte. Er nabm euenfo erre
moniös den Hut ab. Ein Gefühl des
Stolzes — das erste, das ich in mei
nem neuen Leben empfunden hatte -—·T
durchzuckte mich, um im nächsten Hin-f
genblict der Wehmuth und dem
Schmerze zu weichen.
»Du bist fo bleich, mein 3kind,"
sagte Tante Pamela besorgt »Du
zitterft; füblst Du Dich etwa unwoblcs
»E2 ift die Kälte, « ftammelte ich, j
indem ich mich dichter in meinen Pelz
hülltr.
81. Kapitel.
Die Fabritarbeiterin.
Die Monate kamen und schwanden
dahin. Ein trüber Herbstabend däm
merte über die geschäftige Stadt Mill-!
bridge herein. Die Arbeitsstunden in!
den großen Wollfabriien waren vor-!
über. Eine Glocke ertönte, und dies
Arbeiter strömten einer Herde Schasel
gleich in die Straßen hinaus. Die·
ärmliche Kleidung dieser müden Män
ner und Frauen war mit weißen
Wollflocken iiberschneit, und die Vliisse
ihrer Gesichter verkündete deutlich, wie
unbarmherzig der beständige Aufent
halt in den schwülen Spinnereien ihre
Gesundheit untergrub.
Einige der Mädchen lachten und
plauderten miteinander, neckten die
jungen Männer und tauschten Scherze,
die nicht immer zarter Natur waren,
mit ihnen aus-, doch unter ihnen war
Eine, die weder rechts noch links blickte,
weder lachte noch scherzte. Obgleich
auch eine Arbeiterin, nahm sie doch tei
nen Antheil an der Heiterkeit ihrer Ge
nossinnen, welche sie an Schönheit weit
übertraf. Selbst ihr schäbiges Kat
tuntleid, ihr alter grauer Shawl und
ihr dünner Schleier dienten nur dazu,
die reinen Linien ihres Antlitzes und
das edle Eben-naß ihrer Gestalt um
somehr hervorzuheben, je greller sie ge
gen diese abstachen. Jhr groberStroh
hut bedeckte eine Fülle von goioenem
haar; durch den oerishossenen Schleier
schimmerte eine Laut ums Alabaster
und zwei große blau-: Augen ooll un
aussprechlichem Weh. Wenige Perso
nen in Millbridae degraneteu je tie
sem Mädchen, ohne stehen zu bleiben
und ihr nachzublietem
»Sie sind wohl müde-, Misz Sr:1?it««?"
sagte eine andere Armitszrin m«: tm
gerem Gesichte und tieiliegenden Blei-«
gen, die neben der soeben Bei-triebe
nen einherfchritt.
»Ja — ein wenig, Lizzie,« antwor
tete die Angeredetr.
»Gott weiß, ed ist ein harre-Z Beben-«
seufzte Lizzie mit einem Dust-n der
ihre dünnen Lungen zu zerreißen
schien. »Ich habe den ganzen Tag
Blut gespuclt. Jch werde es wohl
nicht mehr lange aushalten. L.h!«
fuhr sie mit einem plötzlichen Ansluge
von kindlicher Lebhastigteit fort;
«wissen Sie schon, Miß Sinith, dasz
ein neuer Musiklehrer nach Millbeidge
getommen ist? Etliche von den Mön
chen haben sich ein wenig Geld erspart;
sie wollen zusamnienschießen und ein
Piano miethen, um in den Abend-tan
den Unterricht zu nehmen. Jst das
nicht prächtig? Wie gern möchte ich
mich daran beiheiligen! Allein Sie
sehen, dasi es mir bei meiner Krankheit
nicht möglich ist, Etwas zu eriibri·.t.sn;
Alles, was ich verdiene, reicht lnaop
hin, um meine Rost und die ewigen
Arzneien zu bestreiten.«
,,Arme Lizzie!« sagte Mis; Smith
mit sanfter Stimme.
Das Mädchen bog in eine andere
Straße ein. Keine der übrigen Ar
beiterinnen sprach mit Mis; Smith; sie
war bei ihnen nicht beliebi. Schon seit
zwei Jahren arbeitete sie in einer der
Fabrilen und hielt sich mit einer gro
ßen Anzahl gewöhnlicher Manns-— und
Frauenspersonen in dem großen Kost
hause am Flusse auf, und dennoch war
sie immer eine Fremde in Millbridge.
Niemand wußte etwas über ihre Ver
gangenheit; Niemand lonnte sich der
geringsten Vertrautheit mit ihr rüh
men. Sie war artig und höslich gegen
Jedermann, wußte aber ihre Mitar
eiterinnen in respektvoller Disianz zu
halten.
Miß Smith eilte an diesem Abend
nicht« wie sonst, nach ihrem Kosthause
zurück, sondern bog mechanisch von der
geräuschvollen Straße in einen einsa
men Fußpfad ein, der längs des Flus
ses hin lies. Sobald sie sich von Nie
mandem mehr beobachtet sah, wars sie
sich plötzlich in das verdorrte Gras am
User, riß hui und Schleier ab und
schob wie eine dem Ersticlen nahe Per
son ihren alten Shawl von den Schul
tern zurück
»O, ihr Götter, warum haltet ihr
uns den Kelch der Freuden an die
Lippen. nur um ihn uns zu entreißen,
ehe wie ihn berührten?« murmelte sie
leise vor sich hin.
Die Sonne war bereits, untergegan
gen und graue Dämmerung lagerte
über dem Flusse und der Stadt. Ein
Boot fuhr mit leisem Ruderschlage auf
dem Wasser hin. Miß Smith bemerkte
es nicht; sie saß nachdenklich in dem
dürren Grase und pflückte zerstreut
Halm um Halm aus der Erde.
Was war es, das sie endlich aus
ihren Träumereien wecktei Das Boot
iam zurück und ruderte stromabwärts
den Fabriten zu. Durch die abendliche
Stille drangen die Worte: »Ich muß
morgen gehen, Denham.«
Es war nur diese nichtssagende Be
merkung, die sie vernahm, und der
Name Denhams, der einer der reichsten
Fabritbesifzer der Stadt war, interes
sirte sie durchaus nicht. Dennoch
sprang sie, wie von einer Natter ge
bissen, auf. Jhr Gesicht wurde asch
fahl; eine Empfindung des Erstickens
fchnürte ihr die Kehle zufammen. Das
Boot fuhr weiter und verschwand hin
ter einem Weidengebüfch
Welchen merkwürdigen Streich hatte
ihre Einbildungstraft ihr gespielt?
Welch’ iranthafte Erregung hatte sich
ihrer Sinne bemächtigt?
Während sie noch athemlos und wie
verfieinert dastand, erschien plötzlich ein
Mann init einer Rolle Noten unter
dem Arm auf dem Pfade, schritt an
Miß Smith vorüber und blickte über
die Schultern nach ihr zurück, blieb wie
vorn Blitze gerührt stehen, stieß einen
lauten Schrei aus und stand im näch
sten Augenblicke keuchend vor ihr, in
dem er rief: »Mein Gott, Ethel Guy
lock!«
Sie wand-te sich rasch um und blickte
den Mann an; sie war todtenblaß ge
worden.
»Fürchten Sie sich nicht vor mir!«
stammelte der neue Musiklehrcr von
Millbridge, indem er einen Schritt zu
rücktrat.
»Ich fürchte mich nicht!« antwortete
sie kalt.
»Gott sei Danll« ries er. »Bei un
serer letzten Begegnung war ich wahn
sinnig, jetzt aber bin ich im vollen Be
sitze meiner Sinne. Wie aber lommen
Sie hierher, und in dieser Verklei
dung?« fügte er hinzu, indem er aus«
ihr schiibiges Kattunlleid deutete.
Sie seyte hastig ihren Hut wieder;
aus und zog den alten Shawl um ihre »
Schultern. ’
»Es ist leine Verlleidung,« antwor- ;
tete sie. »Ich bin eine Arbeiterin in
einer der hiesigen Fabrilen und ver
diene mir mein Brot dadurch. Mein
Name ist nicht Ethel Greylocl, sondern !
einfach Miß Sinne-:- s
So standen sie einander denn wie-s
derum gegenüber —- Arthur Kenyonj
und das Mädchen, das er einst zu er
morden gesucht hatte. Kenyon sah alt,
abgehärmt nnd heruntergelommen aus. »
Seine Augen waren blutunterlausen;
und seine üppigen Locken bereits stark
mit Grau vermischt.
»Ich habe von Jhkem Mißgeschick!
gehört, « sagte er trit einem Anflug
von Schauder-. »Die Sache gelangte
in die Zeitungen. Mich überraschte die
Geschichte nicht sehr, denn ich hatte
wohl gewußt, daß Sie nicht Iris
Grenlocls Tochter sein konnten. Jch
war einst der Gotte jener Frau, und
wenn sie Jhre wirkliche Mutter gewe
sen wäre. so hätte ich mich Ihnen, weist
Gott« nie als Anbeter genähert. Sie
haben Ihnen die Thür gewiesen — die
; ganze ehrenwerthe Sippe, mit dem Ba
! ronet an der Spitze. Pfui! Eine solche
« Liebe war des Besitzes nicht werth,
Ethel!«
»Ich muß es ablehnen, mich mit
Jhnen über mich selbst oder meine frü
heren Freunde zu unterhalten,« ant
wortete Miß Smith mit einer stolzen
Miene, die ihn an die Tage ihres
Glückes und Glanzes erinnerte. »Ich
brauche Jhnen wohl nicht zu sagen,
daß Jhr Anblick mir in der Seele zu
wider ist!«
Er fühlte sich getroffen. »Sie sind
hart,« erwiderte er vorwurssvoll »Ich
verdiene mir jetzt meinen Unterhalt als
Musiklehrer. Jch tam vor einigen Ta
gen nach Millbridge und hatte keine
Ahnung, Sie hier zu treffen. Ach,
Sie haben mir das seige Attentat, das
ich vor zwei Jahren gegen Sie beging,
noch nicht vergeben!« Er streckte die
Rechte aus« indem er leidenschaftlich
sortsuhr: »Die-Z ist die Hand, die ich
damals gegen Sie erhob; ich hätte ver
dient, das; sie siir immer gelähmt wor
den toäre. Bedenken Sie indessen, daß
ich Sie verloren hatte -— ein Ungliict,
das jedem Manne den Verstand rau
ben konnte. Jch liebte Sie mehr alH
mein eigenes Leben, und ich war toll
— das ist meine einzige Entschuldi
gung. Sicherlich sollten Sie niir ver
geben, Ethel, ob auch die ganze Welt
mich verdammte.«
»Ich verzeihe Jhnen,« versetzte sie
kalt und streng, ,,allein Ethel Greylock
existirt nicht mehr, und Mikz Smith
kennt Sie nicht —- kann und will Sie
nicht kennenl«
»Das ist eine matte Vergebung,«
sagte er mit traurigem Lächeln.
»Es ist Alles, was ich Jhnen bieten
lann.« ·
Er trat einen Schritt zurück. »Sie
sind etbarmungslos, Ethel. Was soll
ich, was kann ich thun, um Jhnen
meine Reue zu beweisen und Jhre volle
Ver eihung zu gewinnen?«
» erlassen Sie mich und kehren Sie
nie zurüctl Wagen Sie es nie wieder,
sich mir zu nähern! Es lebt keine Per
son aus Erden, deren Anblick mir so
! verhaßt ist, wie der Jheige.«
s Er ließ den Kopf hängen. »Sie ha
t ben zu veiehlen, und mir ziemt es, zu
l aeborchen,« sagte er mt erstickter
«
Stimme, indem er sich umwandte und
auf die Stadt zuschritt, ohne auch nur
einmal zurückzublicken.
Miß Smith verweilte noch eine
Zeit lang am Flusse, um nicht aus’s
Neue mit diesem dunklen Geiste aus
ihrer Vergangenheit zusammenzutref
sen. Als sie keine Gefahr mehr zu be
fürchten hatte, trat sie den Weg nach
ihrem Kosthause an.
Der Mond war noch nicht aufgegan
gen, nnd die Sterne blinkten nur matt
am Abendhimmel. Der schmale Fuß
pfad war jetzt sehr dunkel und einsa«n.
Nur die Heimchen zirpten im Grase,
und die Wellen des Flusses brachen sich
mit sanftem Gemurmel am Ufer. Un
willkiirlich beschleunigte Miß Smith
ihre Schritte.
Sie hatte die Hauptstraße beinahe
erreicht, als zwei Gestalten langsam
von der Fabrik her geschlendert kamen.
Es war unmöglich, die Gesichter in der
Dunkelheit zu erkennen, allein die rothe
Gluth brennender Cigarren verrieth,
daß es Männer waren. Als die Bei
den auf dem dunklen Pfade an Miß
Smith vorüberschritten, traf es sich,
daß einer von ihnen sie etwas unsanft
berührte.
»Um Vergebung!« sagte er höflich
und verschwand dann mit seinem Ge
fährten in der Dunkelheit.
Es war dieselbe Stimme, die sie am
Flusse vernommen hatte.
Von einem plötzlichen Schrecken
überwältigt, lief sie aus Leibeskräften
nach dem Kosthause zurück. Das
Abendbrot war bereits vorüber, und
die übrigen Kostgänger hatten den
Tisch verlassen. Sie trank eine Tasse
kalten Thee, aß einige Bissen Butter
brot und flog dann nach ihrem eigenen
Zimmer hinauf, einer Dachstube.
Sie zitterte an allen Gliedern und
ihre Augen hatten den Ausdruck eines
gehetzten Rehes. Hastig schloß sie die
Thür hinter sich zu. Sie mußte gehen,
mußte mit dem ersten Morgenzuge
Millbridge verlassen —- den Platz, an
dem sie vor zwei Jahren Arbeit und
Obdach gesunden hatte. Wiederum
mußte sie in die weite Welt fliehen. Sie
öffnete eineSchublade ihrer Commode.
Dort lag das Geld, das sie sich von
ihrer Fabritarbeit erspart hatte; es
war nicht viel, doch immerhin genug,
um damit nach einem anderen Orte zu
reisen und sich dort zu ernähren, bis
sich wieder Gelegenheit zur Arbeit bot.
Mechanisch machte sie sich daran,
ihre Sachen zusammenzupacken. Wäh
rend sie damit beschäftigt war, ver
nahm sie in der Stube die direct unter
der ihrigen lag, schalYZk.des Gelächter,
hin und wieder von hohlem Husten un
terbrochen. Die Fabritmädchen hatten
sich in dem Zimmer der armen Lizzie
zu einer Abendunterhaltung versam
melt. Sie pflegten dies oft zu thun,
doch nie hatte ihr Frohsinn Misz
Smiths Ohren so unangenehrn berührt
wie an diesem Abend. Als sie ihre
Vorbereitungen beendigt harte, löschte
sie die Lampe ans und warf sich ange
ileitet auf ihr Bett, da sie mit Tages
anbruch abreisen wollte.
Bald lag sie im tiefenSchlafe, doch
grausame Träume marterten sie. Sie
vernahm zuerst Sir Gervafe Greylocks
Stimme, der ihr vom anderen Ufer ;
eines breiten schwarzen Flusses zurief. T
Dann wandelte sie wiederum, das-Kind i
des Glückes-, durch die prächtigen i
Raume von Greylock Woods und !
wähnte sich, bräuilich geschmückt, zur;
Fahrt nach dersKirche bereit. Gleich ’
darauf beugte sie sich über das blasse
Gesicht Godfrey Greylocks, der todt vor
dem Altar lag, während das buntfar- »
bige Licht des Chorfensters auf ihn s
fiel; sie wich entsetzt zurück und floh i
athemlos über die gefrorenen Salzwie- s
sen nach der »Katzen - Herberge«, wo ;
Merch Vools vierfüßige Familie pur- J
rend und miauend auf sie zulief.
Plötzlich verwandelte sich das Katzenge
schrei in Misz Smiths Ohren zu einem
dumpfen Getöse. Auf dieses Geräusch
folgte ein lauter Krach. Die Schläferin
erwachte, sprang erschrocken auf und
stand, etwas Schreckliches ahnend, ei
nen Augenblick in der kleinen, dunklen
Dachstube still.
d-- . ·--- t
Ach, das Zimmer war nicht dunkel,
denn ein rother, höllischer Feuerschein
hiillte das eine Fenster ein und zitterte
iiber die vier kahlen, getünchten Wände «
hin. Das Geräusch, durch das Miß «
Smith ausgeschreckt worden, war ein
Schlag, den eine starke Hand gegen
die Thiir geführt hatte. Während die
Ungliidliche, sich am Bettpsosten fest
haltend, rathlos dastand und nicht
wußte, ob sie träume oder nicht, er
folgte ein neuer Schlag; Schloß und
Angeln gaben nach; die Thiir fiel kra
chend in das Zimmer und darüber hin
weg sprang teuchend ein geschwärzter
und versengter Mann. Mit ihm
drang eine furchtbare Rauchwolke in
das Zimmer.
»Das Haus steht in Flammen!« riej
er, indem er seine Arme um Misz
Sinith schlang. »Ich hörte, Sie wären
hier oben. Alle Anderen sind gerettet.
Einige Mädchen im unteren Zimmer
stießen eine Lampe um, und im Nu
stand das Haus in Brand. Gott helse
mir, Ethel!« schrie er verzweislungs
voll aus; ,,wie kann ich Sie retten?«
Sie schauderte zusammen; dann
aber riß sie sich von Arthur Kenyom
denn dieser war es, der zu ihrer Ret
tung herbeigeeilt, los und lies mit dem
blinden Instinkt der Selbsterhaltung
nach der in Rauch gehüllten Thür.
Er zog sie zurück.
»Die Treppe brach hinter mir zu
sammen,« sagte er, »aus diesem Wege
zu entkommen ist unmöglich. Das
alte Haus ist trocken wie Zunder. Die
Wände können nur noch einen Augen
blick stehen bleiben. Die Straße ist
voll von Menschen; ob sie uns aber zu
helfen vermögen oder nicht, ist eine an
dere Frage.«
Sein Heldenmuth verfehlte seinen
Eindruck auf sie nicht. Das Haus war
von innen und außen in Rauch und
Flammen gehüllt, und hier, in dieser:
kleinen Dachstube, stand sie dem Tode
gegenüber und blickte in Arthur Ke
nyons geschwärztes, aber surchtloses
Gesicht.
»Warum setzen Sie Jhr Leben aus
diese Art auf’s Spiel?« sagte sie. »Ich
wäre im Schlafe umgekommen, wenn
Sie mich nicht aufgeweckt hätten —
das wäre ein schmerzloses, barmherzi
ges Ende gewesen« Retten Sie sich
nun, wenn es noch möglich ist! Was
mich anbelangt« — der Schrecken war
fast völlig von ihr gewichen, und sie
sprach ruhig, fast heiter — »so ist es
mit mir zu Ende. Jch kann mein Le
ben jetzt und hier ebenso gut beschlie
ßen, wie zu irgend einer anderen Zeit
oder an irgend einem anderen Orte.«
Die Flamme umzüngelte schon den
Eingang. Schwarze, erstickende Rauch-«
wollen drangen herein. Das Geschrei
und die Rufe der Feucrwehr sowie der
unten auf der Straße oersammelten
Zuschauer vermischten sich mit dem
Prasseln des Feuers.
Kenyon zog das Mädchen nach dem
kleinen Fenster der Dachstube hin.
»Es isk nur noch ein Augenblick zwi
schen uns und dem Tode,« sagte er
rasch. »Warum ich mein Leben daran
wagte, Sie zu finden, EthelZ Weil ich
Jhnen dies als Sühne schuldig war.
Niemand wagte das Haus zu betreten,
um nach Ihnen zu sehen —- Niemand
als ich! Ich freute mich darüber. Jch
gelobte mir, Sie zu retten oder mit
Jhnen zu sterben. Sie sollten sehen
daß ich Sie mehr als mich selbst liebte
—- Sie werden mir jetzt die volle Ver
zeihung gewähren, die Sie mir vor ei
nigen Stunden versagten!«
Er ergriff einen Stuhl und zer
schmetterte das kleine, schmale Fenster.
Jn demselben Augenblicke wurde von
außen eine Leiter an die Mauer gelegt;
bald darauf erschien der Kopf eines
Feuerwehrmannesz
Kenyon hob Miß Smjth auf seinen
Armen empor und übergab sie den
ausgestreckten Händen des Mannes auf
der Leiter. Ein unerllärlicher Im
puls trieb sie an, einen Blick zurückzu
tverfen. Es war das Wert eines Mo
ments. Sie sah Kenyon noch am Fen
ster, rings von rothen Flammen einge
hüllt. Seine Hand hatte das Fenster
gesims berührt und dann —- dann —
als der Boden unter feinen Füßen wie
eine Eierschale zusammenbrach, da
reckte er noch einmal die Hand aus, fiel
zurück und verschwand·
Ein Flammenmeer wogte mit un
widerstehlicher Gewalt über den Fleck
her, an dem er gestanden hatte, lectte
mit hundert gierigen Zungen an dem
Fenster empor —- eisi Sturm Von Fun
ten wirbelte zum mitternächtlichen
Himmel empor, und dann war Alle-:
vorüber·
Er war dahin. —- Von Jris Gren
lockå geschiedenem Gatten ward nichts
mehr gefunden als eine Handvoll ver
tohlter Knochen, die unter den Trüm
mern des Hauses aufgelesen wurden.
Mifz Smith war nach einem benach
barten Hause getragen worden, wo ein
Theil der obdachlosen Arbeiterinnen
ein Unterkommen gefunden hatte,
Als das Mädchen wieder zum Be
wußtsein gekommen war, dachte sie mit
tiefem Bedauern an Kenyons tragische
Selbstaufopferung, und zu diesem Be
dauern gesellte sich Reue über ihre
Strenge gegen den Unglücklichen, dem
es so aufrichtig darum zu thun gewe
sen war, den früher an ihr begangenen
Frevel zu sühnen. Allein sie hatte
nicht lange Zeit, über das schreckliche
Ende des Musiklehrers nachzudenken,
denn ihre eigene verzweifelte Lage er
füllte sie mit Grauen vor der Zukunft.
Sie war jetzt eine Bettlerin, All’ ihre
geringen Habseligleiten nebst dem er
sparten Gelde waren ein Raub der
Flammen geworden. Selbst die Klei
der, die sie am Leibe hatte, waren
theilweise vom Feuer versengt. Womit
follte sie ihre augenblicklichen Bedürf
nisse bestreiten?
Jnsolge der Verletzungen, die sie er
halten hatte, mußte sie den ganzen sol
genden Tag im Hause zubringen; als
aber die Nacht hereinbrach, erhob sie
sich, borgte sich die nöthigsten Klei
dunggstiicke und riistete sich zum Aus-:
gehen.
An einer Kette um den Hals trug sie
zwei werthvolle Ringe, die letzten Reli
quien aus ihrer glücklichen Vergangen
heit. Sie hatte sie als Geschenk von
Godsreh Grehlock erhalten. Sie mußte
Geld haben, und zwar sofort. So
nahm sie denn die Ringe und wanderte
hinaus durch die Straßen von Mill
bridge, um einen Platz zu suchen, wo
sie sie verlaufen konnte.
Es dunkelte bereits, als sie an den
geschwärzten Ruinen des Hauses vor
beieilte, wo Arthur Kenyon seinen
Tod gesunden hatte. Einen Augenblick
hielt sie inne, wars einen wehiniithigen
Blick aus die Brandstätte, bog dann in
eine Nebenstraße ein und trat in einen
kleinen, dunklen Laden, in dessen
Schausenster etliche Uhren und eine
Anzahl Schmucksachen zur Schau Ia
gen. Ein junger Mann zündete eben
die Lampen an, als Miß Smith her
eintrat und die beiden Ringe auf den
Ladentisch legte.
»Ich wünsche diese Ringe zu ver
tausen,« stammelte sie.
Der junge Mann blickte das schöne,
blasse Mädchen verwundert an; dann
betrachtete er die Ringe mit der prü
fenden Miene eines Geschäftsmannes
und fragte: »Wie hoch schätzen Sie
diese Ringe, Miß?«
»Ich weiß selbst nicht, was sie werth
sind. Geben Sie mir dafür, was Sie
wollen«
»Der Besitzer des Ladens ist zum
Abendbrot gegangen,« versetzte der
j Cleri. »Kommen Sie lieber etwas
später zurück, wenn er hier ist. Jch
bin nicht ermächtika solche Köufe ab
zuschließen.«
Sie vernahm diesen Bescheid mit
Thränen in den Augen, nahm die
Ringe wieder zu fich, um sich damit zu
entfernen, als einer ihren Fingern ent
fchlüpfte und über den Boden hinroll
te. Als sie sich umwandte, um ihn auf
zuheben, wurde sie gewahr, daß Je
mand den Laden betreten hatte und
nun dicht hinter ihr stand. Es war der
Mann, dessen Stimme sie in der Dun
kelheit am Flusse vernommen hatte —
der Mann, mit dem sie vor dem Altar
in der Kirche von Blackport gestanden
hatte, um mit ihm für das-ganze Le
ben vereint zu werden — der Mann,
den sie dreitaufend Meilen über dem
Meere gewähnt hatte —- Sir Gervafe
Grehlock! Da stand er in dem kleinen
Juwelierladen in Millbridge und
blickte sie mit den ernsten grauen Augen
an, deren Zauber sie so oft empfunden
hatte.
»So habe ich Dich endlich —- endlich
gefunden!«
Dies waren seine ersten Worte.
Dann nahm er ihre Hände in die fei
nigen, beugte sich über sie und drückte ;
einen Kuß auf ihre bleichen, zitternden H
Lippen.
»Meine Braut!« fuhr er mit fester, :
ernster Stimme fort. »Du weißt, daß -
Du nie aufgehört hast, dies zu sein!«
»Oh!« stöhnte sie, indem sie sich aus
seinen Armen zu befreien suchte, ,,treibe
keinen Spott mit mir! Denke an Han- T
nah Johnsons cnthiillungen Denke
an Alles das, was jetzt zwischen uns
stehtPJ
Seine Arme schlangen sich inniger
um sie, während er lächelnd sagte:
»Nichts steht zwischen uns! Zwei
Jahre lang habe ich Dich in der ganzen
weiten Welt gesucht. Du entflohest
mir an unserem unglückseligen Hoch
zeitstage; Du wirst mir aber nie mehr
entfliehen. Nan! Jch habe Dich jetzt
und werde Dich für immer behalten.
Die Liebe der Grehlocks ist stärker als
ihr Stolz. Jch frage nicht darnach, ob
Du in einer Hütte oder in einem Pa
laste geboren bist; es genügt mir, zu
wissen, daß Du die schönste, die lieb
lichste, die holdeste der Frauen bist!
Weniger als das könntest Du unter
keinen Umständen sein —- mehr als
das würdest Du nicht werden, wenn
Du eine geborene Prinzesfin wärest.
Antworte mir nur auf die eine Frage:
Liebft Du mich noch?«
»Ich liebe Dich noch und werde Dich
ewig lieben!« schluchzte Nan, indem ein
himmlisches Licht aus ihren thränen
umflorten Augen strahlte.
»Was brachte Dich aber nach Mill
bridge?« fragte sie endlich, nachdem sie
von vielen. vielen anderen Dingen ge
redet hatten.
»Der reine Zufall,« antwortete er.
»Colonel Denham, dessenBekanntschaft
ich in einem Club in New York mach
te, lud mich zu einem Besuche hier ein.
Seit drei Tagen war ich fein Gast,
und jetzt befand ich mich eben auf dem
Wege nach dem Bahnhofe, um nach
New York zurückzukehren, als ich Dich
in den Laden treten sah. Nun aber
erkläre mir, wie Du nach diesem klei
nen Städtchen, das kaum hundert Mei
len von Blackport entfernt ist, kamst,
und wie Du die unzähligen Zeitungs
ausrufe, in denen Pollh und ich Dich
beschworen, nach Deiner Heimath und
zu Deinen Freunden zurückzukehren,
unbeachtet lassen konntest?«
»Ich fah sie nie,« seufzte sie. »Sel
ten bekam ich in dem Kosthause eine
Zeitung zuGesicht und wagte nicht ein
mal in meinen Träumen daran zu den
ken, daß irgend Jemand in Greylock
Woods meine Rückkehr wünschen
könnte. Als ich von Blackport floh,
hörte ich zwei Arbeiterinnen, die in
dem nämlichen Zuge mit mir reisten,
über einen Mangel an Arbeitskräften
in den Fabriken von Millbridge spre
chen. Diese Unterhaltung hat mich
hierher geführt.«
»Und während dieser ganzen Zeit
besuchte ich jedes Theater nah und
fern, in der Hoffnung, Dich zu fin
den!« sagte er. »Mein armes Kind!
Wir wollen unverzüglich nach Plack
port und zu Polly zurückkehren.«
82. C a p i t e l.
Nach Ablauf zweier Jahre verließ
ich die Schule und kehrte nach Greyloct
Woods zurück. Wenige Wochen nach
meiner Rückkehr kam Nan in einer
dunklen Herbftmitternacht mit dem
letzten Expreßzuge an.
Sie wurde erwartet. Schon einige
Stunden vorher hatte Sir Gervase die
frohe Kunde von ihrer Entdeckung tele
graphirt, und Tante Pamela und ich
harrten ungeduldig, um sie mit offenen
Armen zu empfangen.
»Wie sollen wir sie nennen, Ethel?«
fragte Tante Pamela.
»Bei ihrem eigenen Namen — Nan
nette Harkneß,« antwortete ich. »Wie
derBaronet sie wohl ausfindig machtes
Natiirlich konnte er uns das i«i feinem
Telegramm nicht erklären. Tinte Pa
rnela, eine innere Stimme seit mir,
daß er sie noch liebt, daß er rkr aufge
hört hat, fie zu lieben. Hat er nicht
zwei lange Jahre darauf verwendet, sie
Es s«
allenthalben zu suchen? Jst er nichi
Amerika nach England und von i
land nach Amerika zuriick gereifth
Rast und Ruhe zu findt n?« « E
Tante Pamela schüttelte den s
»Mein liebes Kind, Du vergißtj
ungeheuren socialen Abstand zwi«
den Beiden Die englischen Bare —
verheirathen sich nicht mit den Töck «
don Circustänzern.'
»Nun hat keine Verwandte n
deren sie sich zu schämen braue«
wandte ich ein. »Sie steht allein it;
Weit da und besitzt die Erziehun
Reize und das Benehmen einer?v
stin. «
Tante Pamela seufzte, sagte
nichts. Jch hatte eine Equipage
dem Bahnhofe geschickt; sie kam g«
Mitternacht mit Sir Gervafe und
zurück. Keine Ueberraschungen l
ten der Letzteren, denn der Ba1
hatte sie bon Allem, was sich seit
Flucht zugetragen, in Kenntniß
setzt. Mit großem Ernste führte s«,·
in den Salon. Wie blaß und c:
hiirmt sie aussah, und dennoc?
schön! Jch öffnete meine Arme
und im nächsten Augenblicke lage
beiden einftmaligen Straßenbettli
nen aus der Harmony Alley einafjx
in den Armen.
,,Willkommen in Grehlocl War
rief ich fchluchzend ,,Willkomme
Deiner Heimath, Nan; es ist Und
immer Deine Heimath sein! Alles
ich hier besitze, ist auch Dein!« «
»Und vergieb mir, verzeihe «
mein liebes Kind!« bat die arme I.
Pamela. »Verzeihe mir, daß ich
an jenem schrecklichen Morgen ir -
Kirche von mir stieß! Jch war as
mir von dem Unglück, da? über?
Alle hereinbrach. Du weißt nicht,
Kind, wie bitter ich seither meine
lose Handlung bereute!«
»Liebe Tante Pamela!« erwi
Nan, durch ihre Thränen lachend
habe Dir nichts zu verzeihen. D
nie in Deinem Leben eine be
Handlung begangen. Es war
natürlich, daß Du Dich an jenem
von mir wandtest. Jch wundere
nur,« fügte sie traurig hinzu, »das
Alle Euch so viele Mühe gabt, mi
finden und zu Euch zurückzubrin «
Ihre großen, prächtigen Auge
ren roth umrändert; auch war si
blaß und mager geworden; alle
war noch immer meine schöne, u
gleichliche Nan. Trotz der s
Stunde harrte ein großes Dine
meine Gäste, und als die Ma
vorüber war und wir wieder im
lon beisammen saßen — denn i
ser Nacht dachte Niemand an S
— vernahmen Tante Pamela u
Rang traurige Geschichte.
»Du wirst uns nie wieder verla
sagte ich endlich. »Sir Gervase -
meine Pläne; die Hälfte des Vei
gens meines Großvaters ist Deini
die andere Hälfte mein. —- Wir?
den Beide reich sein, Nan.«
Jhre schönen Augen füllten si
Thriinen.
»Du wirst das nicht thun, P
sagte sie. »O, Du edles Mädchen
kannst Du erwarten, daß ich ein
ches Anerbieten annehme? Nie,
werde ich einen Dollar von D
Vermögen anrül)ren!«
»Recht so!« rief Sir Gervase
Wärme, nnd dann wandte er sicl
chend zu mir. »Du hegtest viel Zu·
in Bezug auf mich, Polly,« ——— J
mann, auch Tante Pamela, nc
mich noch zuweilen bei meinem v
Namen —- »jetzt will ich diesen eii
alle Mal ein Ende machen. Nan
ihre Heimath nicht in Greylock W
ausschlagen, denn sie geht mit mir
England. Unsere Verlobung ist
rückgängig gemacht worden. Jn
kurzer Zeit wird sie mein Weib
und dann muß ich sie Euch entfii
allein nicht ein Cent von dem C
lock’schen Vermögen geht mit
Ihre Schönheit und ihr Seeler
sind mir l,inreichende Mitgift
verlange teine andere —— ich n
keine andere aan«
i
i
Uer meine Einwendungen erw
sich nutzlos; er beharrte Unerschiitti
auf seinem Entschlusse. Meine Fi
über seine Treue gegen Nan wo
groß, daß ich ihm nicht zürnen ko
Jch legte meine Hand aus seinen i
blickte ihm in seine großen, sri
strahlenden Augen und rief unwil
lich: »Cousin, ich bin stolz auf Dis
Er drückte seine Lippen aus
Hand und antwortete lachend:
laube mir, Dir ein gleiches Co.
ment zu machen, liebe Cousine!«
»Ganz aut,« nahm Tante Pc
nun das Wort: »Sie können «
überstimmen, Sir Gervase, aber
mich. Jch besitze ein eigenes, unal"
giges Vermögen; Pollh wird essi
vermissen; sie ist reich genug. qu
mein Geld erhalten, und zwar di
Hälfte an ihrem Hochzeitstage
andere nach meinem Ableben.« «
Ach! Nan besaß bereits ein be
Vermögen als Geld und Gut «
unwandelbare Liebe ihres Verl
Es war ganz wie in dem Feenmizv
——— der Prinz war treu gebliebeiii
ihm und der lieblichen Bettle
konnte die Zukunft nichts als
bringen.
Fortsetzung folgi.)
-
—- D a h e r. »Was ist das
Lieutenant, Jhr sonst so wohlg
ter Schnurrbart ist heute gar
-
zaust2« »Habe ich mich eben« r. «
—- Braut mir Verlobungstuß
lieb lobe stiirrniseb neaeben!« H