Grand Island Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1893-1901, July 16, 1897, Sonntags-Blatt., Image 12

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    or Gericht
·siinalrornan von Paul Ostar Höcker-.
- (5S. FortsetzungJ
0WissenS ie auch nicht, ob die
bereits revidirt ist?«
Dis jetzt noch nicht, Herr Lieute
Mi. Man würde sonst das Rufen«
U Postens vor Gewehr hier gehört;
tax-ein« 1
Vollrath machte lehrt. Er war jetztj
mlich sicher, daß Ewald über den;
xerzierplatz den Weg genommen hat- i
. ie, und entschloß sich, ihm aus dem
- Um Westen der Stadt aus schnurge-,i
rede nach dem Wachtlotal führenoen
Wege entgegenzugehen.
Es war ein Marsch von gut fünfzig:
Minuten. Da die Kälte hier auf-;
s freiem Felde erheblich zunahm, be-!
schleunigte Vollrath seine Schritte
« Unterwegs peinigte ihn eine immeri
stärken werdende Unruhe. Er hartes
Ewald noch nie zuvor in so Unsiaxeremj
Zustand gesehen. Der Gedanke, Daßx
H « sich Ewald auf der Wache am Wer-F
Zierplatz etwa nicht ganz pflichkgernäßj
-TI« und dienstgerecht benehmen tönne,I
Flößte ihm Besorgnisse ein.
Es war kurz nach fünf, als Send
· Finger bei der Außenwache anlangte.
»War die Ronde noch nicht hier?«
fragte er den Posten vor Gewehr.
Dieser verneinte.
»Ich irre mich wohl nicht — Lieute
Kant v. Meerheimb hat doch heute die
Rande?«
»Ja Befehl — Herr Lieutenant v.
Meerheimb!«
Bollrath stand ein paar Augenblicke
mischlüssig da Es war also nur noch
die Möglichkeit da, daß Ewald einen
— «cnderen Weg eingeschlagen hatte, und
Daß sie aneinander vorübergegangen
z,,- Mun. Vollrath war fest entschlos
Ier sich wieder nach Ewalds Woh
,v- sung zurück zu begeben, um von da
den Weg der Rande noch einmal zu
.« « Ost-Zi
HEXE szYscs
Der Mond war verblaßt, ein mat
ier Schein des Frühlichts stahl sich be
« «teits von Osten her über die Föhrde,
sssxials er endlich wieder zu den Anlagen
« gelangte. Es war von hier aus noch
l. ein halbes Stündchen bis zu Ewalds
E Wohnung
Durch die schneebelafteten Zweige
drang die Morgendiimrnerung und
theschien in einiger Entfernung vor ihm
seine Bank, die an dem kleinen Brutne
Kadenweg stand. Ein untenntlicher
» ·Gege::ftand — vielleicht ein Baum
- stumpf, ein Reisigbiindel — befand sich
»sehr-its von der beschneiten Bank und
der weißen Schneedecke, die den Wald
.· vs. Irr-den bedeckte, ab.
Vollrath blieb plötzlich erschrocken
L-« IBoden lag! Hastig eilte er näher-, das
" Iniide Auge anstrengend
Ein Entsetzensschrei entrang sich
seiner Brust. Er erkannte die Uniforrn
seines Seeofficiers, ja, noch mehr, er er
1.· kannte das erstarrte Antlitz feines
-" Es- ssreundes Ewald v. Meerheirnbl
ek; Mit wankenden Knieen stürzte er
F« Isinzw
" «Ewald! Ewald!. . · Meerheimb,
FOR-as ist Jhnen2«
" Keine Antwort.
. Er warf sich neben dem leblos Da
liegenden in die Kniee, riittelte und
L·.:«v Eitttelte ihn. Der Körper war steif,
; jsz « Hände lagen regungslos im
Schnee. Die Augen waren geschlos
en.
» .Ewald! Ewald!« rief der Schiffs
"« Zaumeifter noch einmal in furchtbarem
Entsetzen.
Der am Boden liegende Officier gab
kein Lebenszeichen von sich.
»J» Bollrath riß die Handschuhe von
Den-Fingern und betastete das Antlitz
sp M die Brust seines Freundes-. Starr
J nnd eisig fühlte sich die baut an.
n- —.4 --44---h-- CI --4-- II .
: dicht dahei. Der dunkle Fleck-roh jichi
«’-.-» stehen. Das war ja ein menschlicheri
Körper, der da dicht bei der Bank am (
US »so sssss desskhuocu sjeuvr.su »n
Lider des Er starrten empor und sal)
ein gebtochenes Auge!
Sechstes Capitel.
Nur wenige Augenblicke währte bei
: - Bollratb Sendlinger die lähmende Be
; ·Ftiirzung. Dann· raffte er sich auf, um
Zu handeln.
. Daß er dem Erfrorenen hier im
» Freien keine Hilfe leisten könne, sah er
- sofort ein, allein er konnte den kräfti
Ien Körper des Freundes ohne Hilfe
ledigteer sich denn rasch seines Pale
MT um ihn über die reglose Gestalt zu
Wen, und eilte dann durch die An
y III-en nach der Wohnung des Ober
sseidzarztes mit dem er noch vor weni
M Stunden gemeinsam an der Tafel
gesessen hatte.
Doetor Herling wohnte e eich am
Osaka-i der Viaenstmße Von-ach
- an der Nachttlingel —- zweimal,
mal Erst als er hier im Schnee
- das Oesfnen der Hausthür warte
begann es ihn wieder zu frieren.
— Zähne schlugen ihm auseinander,
zitterte an allen Gliedern.
MS giebkii hat der Bursche
’ " « noch nicht aufgemacht?« rief es
Ich eins dem obersten Stockwerk.
Essenogfberftabsarzz ich bitte um
—-««:- e
» Walz Sendlinger —- Sie?! Und
« « in Gala ohne Baute-M Schwere
« woher kommen Sie denn?'·
« Unglück, Den Oberstab5
va«««MU Ra« dann werde
ficht von der Stelle schaffen. So ent- ;
» ich mich schnell in die Kleider wer
«fen!' Ohne weiter zu hören, trat er
ins Zimmer zurück, und das Fenster
flog zu.
Der vor dem Haufe harrende
Schiffsbaurneifter vernahm nun das
ungeduldige Klingeln in dem Innern
des Hauses, dazwischen Ruer und
endlich sanken Wenige Minuten spä
ter öffnete der aus dem Bett geschreckte
Bursche das Hausthor und führte den
frühen Besuch nach dem Wartezim
mer.
»Wohnt hier im Hause nicht der
Corvettencapitän Holst2« fragte Voll
rarb den Soldaten.
»Jawohl, Herr Lieutenant. Jch
liege mit seinen beiden Burschen zu
sammen.«
»Wecken Sie sofort Ihre beiden Ka
meraden. Jhr müßt euch fertig ma
chen, mit nach den Anlagen herauszu
lommen.«
Der Bursche sah den Reservrofsicier
mit blöden Ausdruck an. »Jetzt gleich,
Herr Lientenant?«
»Auf der Stelle! Und hat der Ober
tabsarzt nicht ein Depot der Sant
tätgcolonne hier im Hauer«
»Jawohl, Herr Lieutenantx augen
blicklich ist aber fast alles zur Neptun
tur abgeholt, denn nächste Woche ist
ökonomische Musterung. Nur die
Verbandstasten sind da und zwei
Tragbahren.«
»Gut, eine Tragbahre wird mitge
nommen. Lieutenant v. Meerheimb
liegt draußen im Schnee erstarrt."
Vollrath hatte diese Worte gespro
chen, während er schon ins Wartezim
mer eintrat. Die Thür zum Nebenzim
mer, in dem der Hausherr eilfertig
Toilette machte, stand offen. Sofort
rief Hertling dem Schiffsbautireister
erstaunt zu: »Um Meerheimb handelt
sich’s? Alle Wetter! Und was ist
ihm zugestoßen, dem glücklichen Bräu
tigam? Erfiarrt, sagen Sie, erfro
ren?«
»Jawohl, Herr Oberstabsarzh Jch
fand ihn soeben, als ich vorn großen
Exerzierplan aus durch die Anlagen
nach seiner Wohnung gehen wollte. Er
muß schon stundenlang dort im Schnee
gelegen haben, denn er war bereits ei
means
»Hm, Herzthätigieit?«
»Ich konnte keine mehr wahrneh
men.«
Bollrath herichtete. während er dem
Oberstahsarzt in den pelzgefiitterten
Paletot half, über den Auftrag, den
er dem Burschen eigenmächtig ertheilt
hatte.
»Gut, gut!« murmelte der Arzt.
»Wo ist übrigens Meerheinibs Woh
nung?«
»Gleich oberhalb von Bellevue an
der Düfternbrooter Allee.«
,,Hm. Wir wollen ihn dann lieber
zu mir herschafsen. Werde inzwischen
das Mädchen merken und zumLazateit
gehilfen Braun schicken, der hier ir
gendwo in der Nähe wohnen muß
Braun weiß mit solchen Fällen Be
scheid, er kann inzwischen hier alle Vor
bereitungen treffen.'« —
Kaum zwanzig Minuten stäter
stand der kleine Trupp an der Un
glücksstättr. Für Hertling bedurfte eg
nur einer flüchtigen Untersuchung
»Ausfichtslos!« fliifterte er sofort dein;
Baumeister zu. Mit lauterer Stimme
ordnete er darauf an, daß der erstarrtei
Körper auf die Traghahre gehobenj
und nach Hause geschafft werde. (
Während er mit Vollrath den dreii
Burschen folgte, die sich heim Fort-z
schaffen der Last ahlösten, sagte er zu
feinem Begleiter: »Wie tam Meer-z
heimb denn aus den unseligen Einfall,
heute Nacht noch einen Spaziergang zu
machen?«
»Er hatte Rande, her-r Oberfiabs
arzt.«
»Hm. Jch will Ihnen etwas sagen,
Sendlinger. Unser Freund muß ein
bißchen zu stark eingeheizt haben. Sie
verstehen.« Er machte die Bewegung
des Trinkens. »Gehiirte Meerheimh
denn auch für gewöhnlich zu den Allo
holikern?«
III-CI Im —ÅZ-—sJC-I.« III-e Ohn
rath lebhaft. Er war ein nüchterner
solider Mensch. Nun, Sie wissen, ja,
Herr Oberstabsarzt, daß bei Festlich
keiten allerdings hie und da wohl ein
Gläschen mehr getrunken wird, als
nothwendig wäre. Aber von einer
Neigung zum Trunk tann bei Meer
heimb durchaus nicht die Rede sein."
Hertling schüttelte den großen Kopf,
der aus seiner kleinen Gestalt fast ohne
Halsansatz auffaß, langsam hin und
her. »Ich meine aber, im vorliegenden
Falle ist doch ganz erheblich über das
pernünstkge Maß hinausgegangen wor
den« denn im nüchternen Zustand hätte
Meerheimb dies Unglück nicht zustoßen
lönnen!«
»Meerheimb hat allerdings zu Hause
noch getrunken, bevor er seinen ver
hängnisvollen Marsch antrat.«
»Ah, Sie haben ihn daheim noch ge
sprechen?«
»Ich kam wenigstens an seinem
haus vorüber, sah noch Licht bei ihm
und bemerkte, dasz aus einem Its-Fla
schen und Gläser standen.« Vollrath
wollte von der persönlichen Begegnung
mit Meerheimb Karlai wegen nichts
verrathen. »Gleich daraus muß er das
Saus verlassen haben.«
»Ja, nnd er ist nicht weit gekommen.
Seien Sie versichert, Sendlinget, da
ran ist das verwünschte Bowlentrinken
schuldi«
»Es ist mir unsaßbar, wie der sonst
so nüchterne, verständige Mensch plötz
lich auf den unseligen Gedanken sol
cher Unmiißigteit kommen lonntel'«
Eli er dort vorn an der Bank an
gelangt war, wird der genossene Alto
bol eine unwiderstehliche Müdigkeit in
seinen Gliedern erzeugt haben , er
lonnte der Versuchung, sich siir ein
paar Augenblicke aus die Bank zu
setzen, nicht widerstehen — und schlief
dort sogleich ein. um nie wieder auszu-»
wachen« E
Vollratb atbmete ties aus. »Sie
glauben also, herr Oberstabsarzt, daß
Meerbeimb im Schlas von der Bank
herabgeglitten und aus die Stelle hin
gesunlen ist, an der ich ihn aus
sandi«
»Das ist meine feste Ueberzeugung.
— Nun sagen Sie mir aber nur, wie
sind Sie zu dem nächtlichen Spazier
gang getommen?«
»Nun, offen gestanden, ich hattes
Sorge um Meerheimb. Er ist mein
Freund, und ich wollte nicht daß er ir
gend eine Dummheit anrichtetef
»Na Sie sind ja leider dennoch zui
spät gekommen. Aber es ist imnierhinE
E hübsch von Ihnen, daß Sie trotz Ihrer-;
E grimmigen Nebenbuhlerschaft —- bebeZH
, — den guten Meerbeimb zu schützenE
E vorhatten.« E
- Bollraib hatte grämlich mit denj
zAchfeln gezucit Er wollte über dass
EMärchen diefer Nebenbublerschast ftp-E
wie über daå gute Einvernehmen, dass
E zwischen Ewald und ihm bestandenE
E hatte, ein paar ausilärende Worte sa- -
E gen; doch soeben hatte man dass
E Haus des Oberstabsarztes erreichtJ
und die Träger traten mit ihrer star
; ren Last ein. E
E Jm Sprechzimrner Hertlings hatteE
s inzwischen der durch das Dienstmäd-E
E chen benachrichtigte LazarettgehilseE
E alle Vorbereitungen getroffen, um die
s Behandlung des Erfrorenen nach
E allen Regeln der Wissenschaft vorzu
E nebmen
E Ein Ruhebett mit sester Matratze
E die mit wollenen Decken belegt war
stand inmitten des Zimmers Daneben
T die Geräthschafien für ein kaltes Bad.
Kübel mit Eis und Schnee waren zur
Stelle, auch Wein, Schweseläther und
Salmiaigeist. Das Zimmer war kühl.
annn IMM- hio ob's-n TonT0-7"1«insf
geöffnet, gleichzeitig aber einheizen
lassen, um, wenn der Erfrorene im
Zimmer war und die Fenster ge
schlossen wurden, eine allmähliche Er
wärmung des Raumes vornehmen zu
können.
Mit großer Vorsicht wurden die er
sten Hiter geboten; man versuchte
künstliche Athmung zu erzeugen und
nahm Waschungen und Einreibungen
mit Schnee und Eis vor. ,
Nach kurzer Zeit schüttelte aber ders
Lazarettgehilfe den Kopf. Er hielt ei
nen Scheintod für ausgeschlossen und
ersuchte den Oberstabsarzt, die Puls-!
ader öffnen zu dürfen. s
Hertt ing wies den Unterossizier je-;
doch an, ruhig tn denWiederbetebungs
versuchen fortzusahren. »Hauptsache;
ist bei all solchen Versuchen die, daß
man nicht zu früh ermüdet. Es ist«
mir in meiner Praxis mehrfach vorge- J«
kommen, daß erst nach ein- bis zwei-:
ständigen Bemühungen die ersten Zei
chen des zurückkehrenden Lebens sich
eingestellt haben.«
Vollrath, der sich während der gan- i
zen Zeit in namenloser Erregung be- !
fand, zog endlich den Oberstabsarztsk
beiseite »Auf Jhr Wort Herr Ober-.
stabsarzt, halten Sie den Zustand deås
Unglücklichen wirklich noch für aus
sichtsvoll?'«
»Nein! Jch halte es aber für besser,
den Lazarettgehilfen nicht darüber
aufzuklären Er soll meine Befehle
ebenso gewissenhast ausführen, als
wenn wir alle noch an eine Rettung
glaubten, damit wir uns auch nicht
den geringsten Vorwurf zu machen ha
den-«
»Und Sie glauben, daß unser
Freund der Kälte widerstanden hätte,
wenn er vollkommen nüchtern gewesen
wäres«
«Jeh bin davon fest überzeugt«
Der Gedante an das turze Zusam
: msnövssssn Ists-C III-»Is- «n. htt- N -----
»-»--0·- -» »s-. k----·v Ists-s »v- wksusv
da Von dessen Wohnung peinigte den«
Schiffsbaumeifter. Wie hart und;
s schroff hatte er denKameraden zurecht- E
Aufgabe übernähmen, im Laufe des
s Vormittags Frau o. Zeck über den
gewiesen, und wie schnell und grau- f
fam hatte sich der Leichtsinn des Un
glücklichen gereicht! »
Vollraih verrieth eine so iiesinner -
liche Bewegung, daß Heriling es end-:
lich siir angemessen hielt, den Schiffs-?
baumeister nach Hause zu schicken
»Sie können weder Ihrem armen«
Freunde noch uns etwas helfen. GeJ
den Sie also heim, legen Sie sich hin;
und versuchen Sie zu schlafen Esz
steht Ihnen noch manche Aufregung
bevor. Denn meines Erachtens wäre:
es am Platze, daß Sie die traurige
Vorfall schonend aufzuklären. Wenig
stens glaube ich, daß Sie jejt der näch
te hierzu sind!'«
Vollratb merlte, daß der Oberstabs
arzt wieder auf die mannigfachen
Huldbeweise anfpielte, die ihm von
Fräulein von der Tann auf dem Ball
fesi zu theil geworden waren. Er hielt
den Augenblick aber nicht für passend,
um Hertling über die Vorgänge und
Abmachungen aufzuklären.
»Gut denn, Herr Oberftabsarzt, ich
werde Ihnen gehorchen!«a agte Voll
rath. »Ja wenigen Stirn n bin ich
wieder hier, um nach dem armen Meer
heimb zu sehenX
Er wollte nach kurzem, ernstem Ab
schied von Heriling gerade das immer
verlassen, ais der Lazaretige ilfe « !
gedämpstem Ton dem Oberstabsarzt
seine Wahrnehmung z.uries
Hertling be ab sich· wieder ins Ne
benzimrnen ach einigen Minuten
tarn er zuriick
»Sie brauchen nicht mehr hierher zu
rückzukehren, Sendlinger Ich lasse den
Leichnam nach der Todteniapelle des
Martnelazaretts überstihrern Der Tod
ist unzweifelhaft.'«
Sendlinger überlies ein eisiger
Schauer. Er preßte die Hände an die
Schlafen, ein trampfhaftes Schluch
zen machte seine Brust erzittern. Aber
er drängte seine Bewegung mannhast
zurück, ließ sich den Paletot umhängen,
winite dem in sich versunkenen Arzte
schweigend zu und ging von dannen.
Die große Erregung hatte ihn alle
Müdigkeit vergessen lassen. Jetzt ward
es ihm aber doch schwer, sich riisiig
vorwärts zu bewegen. Es ging aufs
sieben Uhr; in den Straßen war es
daher schon ziemlich lebhaft. Zeitungs
träger, Bäckerjungem Milchhändler
und Dienstboten belebten die Gasse.
Da Vollrath am ersten Halteplatze eines
leere Droichte entdeckte, warf er sichs
mein-, dein verschlaienen Kutscher die;
r,trai e und Haugznummer seiner Woh- »
nung zurufend i
Der Schiifi. baumeister hatte in der
Nähe der tatserlichen Werft eine be
haglich eingerichtete,gut möblirte Woh
sung von mehreren Zimmern inne.
Seine Wirihin war in jeder Hinsicht
Lc miikkn ihm seine Häuslichleit so
wohnlich als möglich zu machen. Die
sreundiiche alte Dame —- sie hatte stü
her bessere Zeiten gesehen und war
nicht ungebildet —— hatte etwas wie
müttertiche Zärtlichkeit für ·"il)n. Bei
seiner Rücktehr von größeren Festen,
die ja selten vor dem beginnenden
Morgen ihr Ende erreichten, fand er
stets eine warme Stube sowie alle Vor
bereitungen zu einem kleinen Frühstück
vor.
Da es schon sieben Uhr schlug, als
Sendlinger heute nach Hause tam,tvar
Frau Briesen bereits wach. Vollrath
hörte sie rnit demMädchen in der Küche
sprechen.
Er wollte sich in seiner Verfassung
nicht zu einer gleichgültigen Unter-z
nauung zwingen, aus zog er jkch sofort
in fein Schlafzimmer zurück.
Einen Augenblick lang dachte er
wirllich darun, seinem durch die An
strenaungen und Aufregungen start -
mitgenommenen Körper Ruhe zu gön- s
nen Schwer fiel ihm aber dann:
plötzlich aufs Herz, daß Karla sich ja;
entschlossen ht« ite, trotz ihrer spätenZ
Heiinlehr vom Balle früh um acht Uhr )
den Zchnellzug nach Berlin zu benu- T
tzenl i
zn fliegender Haft entledigte er sich
feiner Uniform wars sich in Civilllei-ks ;
dung und zwang sich sog-zar, ein paar;
Schluck des schnell auf der EllinschineI
bereiteten Kaisers zu genießen.
Von seiner Wohnung bis zumBahm
hos hatte er fast eine Viertelstunde zu;
gehen. Zu seiner unangenehmen Ueber
raschung waren die Droschlenp lätze in
der Nähe seiner Wohnung leer Alsoz
mußte er den Weg» u Fuß zurücklegen-Z
Häufig sah er während des be- I
schleunigten Marsches nach der Uhr.
Es fehlten nur noch wenige Minuten
vis acht. Er We sich schukßtich, ais I.
er —- nur noch wenige hundert Meter
von dem großen, stottlichen Vahnlwsz
gebäude entfernt —- das Pfeier und
Schnauben einer Lokomotive vernahm,
in einen scharfen Trab.
Erschrocken bemerkte er plötzlich, daß
es auf der über dem Portal angebrach
ten großen Normaluhr schon zwei Mi
nuten über acht sein.
»Ist der Schnellng nach Berlin
schon ferti« rief er einein Gepiickträger
zu, der vor dem Portal stand.
«Fahrplonmiißig urn 7 Uhr 55 Mi
nuteu!«' lautete die gleichmiithige Ant
wori.
Bollrath hielt ien Laus noch immer
nicht inne. Aber da höre ich doch noch
das Pseisen der Lokomotive?«
»Das ist der Schnellzug, der unt 8
Uhr 1 Minute aus Berlin hier ein
trifft!«« ?
Rathlos blieb Vollrath jetzt ftes
ben.
Ob Karla abgereift ist? fragte sich
Vollratb. Ob sie fortgefahren ift, ohne1L
von dem furchtbaren Ereigniß der ver
flossenen Nacht gehört zu haben? Viel
leicht hatte sie ihn, wie verabredet,
noch bis zum letzten Augenblick in
dem der Abfahrt harrenden Zuge er
wartet?
Jerend spähte Vollraths Blick um
her. Die Eintrittshalle des Bahnbofs
war zumeift von Anlörnrnlingen er
füllt. Aber auch Marttfrauen mit
großen Kiepem Schulkinder, die aus
den Vororten kamen, mischten sich un
ter die Menge.
Verzweifelnd rannte Vollratb nach
dem Abfahrtsbabnfteig, trotz der
Fruchtlosigteit feines Bemühens die
dort ftationlrten Beamten wieder und
wieder ausfragend, ob sie nicht wüß
ten, wer in die erste Klasse desSchnell
zugs eingestiegen, ob nicht eine fchlante
junge Dame im großen Pelzmanteh
buntelblond, mit großen dunklen An
aen, darunter gewesen fei.
Die Beamten zuckten die Achseln; sie
batten die Reisenden daraufhin nicht
angefehen.
Da Vollrath in feiner Etregung
ziemlich laut sprach, wurde er von ver
schiedenen Seiten beobachtet. Viele
der Antiimmltnge, die sich von der Ge
päcksanögabe ihre Koffer aushändigen
ließen, mufteeten ihn erstaunt tm Vor
iibergehen.
Auch ein auffallend großer here in
eleganien Civil, der inmitten der halle
neben zwei kleinen Kossern stand und
anscheinend siir das Wegschassen sei
nes Gepiiels nach einem Träger suchte.
dcisien ihm Aufmerksamkeit zuzuwen
en
Vollrath merlte endlich, daß er ein
Gegenstand der Neugierde wurde, nnd
wandte dem Bahnhos unmnthig den
Rücken.
Was nun thun? Wohin ietzt?
Wenn Karla wirklich abgereist war,
hatte er dann einen Grund, Frau v.
Zecl auszusucheni Sollte er die Be
nachrichtigung der alten Dame iiber
das entsetzliche Unglück nicht lieber
einem der Vorgesetzten Ewalds über
lassen?
Und doch — es trieb ihn nach jenem
Hause· Er mußte etwas über Karla
erfahren, und sei’s auch nur die Bestä
tigung seiner Befürchtung, daß sie ab
gereist war.
Was sollte sie Von ihm nur denlen?,
Mußte sie nicht annehmen, daß ihre
kühle Haltung beim Abschied, die der?
so schwer bestrafte Vetter Ewald ver
schuldei, ihn veranlaßt hatte, die Ab-.
niachuna der gemeinsamen Reise nicht;
inne-zuhalten? Sie konnte ja leineE
Ahnuan von dein gräßlichen Ende«
ihres usiglijcllichen Vetters haben. s
Wiederum sagte sich Bollraih, daß
es Vielleicht noch das beste war, wenn
sie erst spii ter von dein raschen und
traurigen Ende Ewalds erfuhr Die«
Nähe des Todten mußte ja nach den;
Ereignissen dieser Nacht etwas ganz«
besonders Schauerliches für sie ha-;
ben
Schweren Herzens machte sich Voll
rath auf den Weg, um Frau v Zeci
anfzusuchcn. Es wurde ihm von einem
Mädchen geöffnet, dessen Antliy völlig
verstört war.
Vourath nannte hastig seinen via
men und ersuchte das Mädchen, ihnI
bei der gnädigen Frau zu melden. Da;
ging auch schon die vom Vorzimmerz
nach dem Treppenhaus führende Thür?
auf, nnd Karla erschien im Rahmen;«
auch in ihren Zügen spiegelte sich Ber- ;
wirkung und Entseßen wider ?
Bollrath starrte sie an wie eine Gei- E
stererscheinung.
»Karla —- du noch hier! Und du
veißt ——— Sie wissen?«
Das Mädchen war bescheiden zu-?
rückgewichen, als es den verweisendenz
Blick der jungen Dame sah. Nasch:
lam Bollrath näher. Karla zog ihn«
ins Zimmer. Sie wollte sprechen, aber
Thriinen erfiietten ihre Stimme. Nun
7irl die Thür hinter ihnen iss Schloß,
rnd sie waren allein. Jetzt erst, als er f
Den wahren, ausrichtigen Schmerz der
Beliebten um den nahen Verwandten
sah, ergriff auch ihn eine nicht nieder
kuzwingende Betrübniß.
»Todt —- todt —- unser iustiger,"
Herzensbraver Ewald ist todt!« .
Die beiden hielten sich an den Hän- -
den fest. Vollrath schämte sich der
Thriinen nicht, die auch über die Wan
ien rieselten. ;
Karla schluchzte laut auf und
Ireßte ihren Kon stürmisch an die
Brust des Geliebten. Dort weinte sie
ich aus.
»Und sich sagen zu müssen, daß
man sich in der letzten Stunde mit
Zlbscheu von ihm gewendet hat, statt
daß man den Jrregeleiteten beschützt
dätte!« :
»Wir haben uns keine Vorwürfe zu
machen. Karlcn Jch bin sofort zu
ihm zurückgekehrt, nachdem ich dich«
verlassen hatte. Jch traf ihn aber
nicht mehr zu Hause an. Von jener
Minute bis zu dem Augenblick, da ich
ihn auffand, blieb ich unterwegs. Jch
lief die ganze Postentette ab, doch in
zwischen hatte der Arme schon dort
orüben am Waldrande sein Ende ge-;
fanden-« ä
»Es ist also wahr, was hertlingd
Bursche uns meldete: du selbst warst?
es, der seinen Leichnam entdeckt bat L;
f-: frsus sahn-tout uns-o k- Use-usw«
ern. . ;
Vollrath schüttelte langsam dens
Kopf. »Er lag ganz friedlich dort
draußen im Schnee, als ob er fchlafe."
Aber es ift unrecht, daß man dich fo
ohne jede Vorbereitung mit der ent-;
fetzlichen Nachricht überfallen hat.« ;
»Der Bursche des Oberstabsarztess
konnte nichts dafür. Wie ich soeben
durch das Mädchen erfuhr, war er.
nämlich in Ewalds Wohnung gefei)iclt·kv
worden. Trotz allen Läutens war;
ihm dort nicht aufgethan worden. Da s
er nun um die verwandtfchaftlichen ;
Beziehungen Ewalds zu Frau v. eckl
wußte, so eilte er in feiner Rathlo1g
teit hierher und oerrieth dem Mädchen
alles. Jammernd kam sie zu mir.:
Jch war soeben aufgeftanden und im ’
Begriff, mich in Reifetleidung zu wer
fen.«
Vollrath fah sie überrascht an. Ein
wehmüthiges Lächeln hufchte über
seine Lippen. »Ich komme oeben vom
Bahnhof. Jch suchte dich dort.«
Karla hatte fich, still vor fich hinwei
nend, an’s Fenster gesetzt.
»Sieh fagen zu müssen, daß er noch
vor wenigen Stunden fröhlich und
ausgelassen mit uns gelacht und e
fcherzt hat« und daß all der frifche e
bensnmth nun fiir immer gebrochen ift
— ach, ei ift furchtbar!«
Sie fchwiegen darauf beide. End
lich erhob Karla ihr Antlih und fah
Bollrath forfchend ins Auge. »Was
fagtehertling zu dem grausigen Fund?
Kennt er die wahre Urfache des Un
glücks?«
Bollrath nickte ernst. »Es gab ftir
ihn keinen Zweifel.«
Karla reichte dein Geliebten die
hand über den kleinen Tisch. »Es ist
aber unsere Pflicht, Vollrath, über die
unselige Begegnung mit Ewald kurz
vor seinem Tode zu schweigen. Denn
der Gedanke ist mir surchtbat. daß wir
das bestätigen müßten, was eine
schross und seindselig urtheilendeMen
ge sofort iiber unseren gemeinsamen
Freund aussprengen würde. Du ver
stehst, Bollrath?«
Der Schiffsbaumeister nahm ihre
band und erwiderte: »Bis jedt habe
ich nur dem Oberstabsarzt eine ganz
Wichtige Mittheilung über meine
Wahrnehmung gemacht. Aber ihm
muß ja gleichsalls daran liegen, et
waigen häßlichen Gerüchten über sei
nen Kameraden keinerlei Nahrung zu
geben«
Ein Entsetzensschrei, der in diesem
Augenblick im oberen Stockwerk, wo
sich das Schlaszimmer der Frau v.
Zeck befand, aus-gestoßen wurde,machte
Karla erzittern.
,,Tante Asta!« kam es scheu von
ihren Lippen. »Wie sie das Furcht
bare nur ausnehmen wird!«
»Wie, deine Tante wußte bis jetzt
noch nicht darum?« fragte Sendlin
ger.
»Nein; wahrscheinlich hat ihr die
Gesellschafterin in diesem Augenblick
erst die Mittheilung gemacht. Ach, ich
habe ja an der eigenen Trauer schon
soviel zu tragen, denn Ewald war mir
mehr als ein guter Kamerad, er war
mir ein Bruder! — aber den lauten
Schmerz der Tante fürchte ich nicht er
tragen zu können!'«
Sie war ausgestanden und ging
nun in nervöser Erregung auf und
nieder. Vollrath hatte sich gleichfalls
erhoben. Er zögerte nur einen Au
nonbiick h»nn »in-«- ses pfiff-blossem ans
Thür. Karla hörte ihn gleich darauf
die Treppe zum oberen Stock hinan
steigen.
Frau o. Zeck verließ soeben, in einen
hastig übergetvorsenen Morgenrock ge
kleidet, an der Seite ihres Gesell
schafisfriiuleins, einer nüchternen, un
bedeutenden jungen Dame, ihr
Schlafzimmer. Sie schluchzte fortge
setzt, ries dabei nach Karla und richtete
im selben Athem unzählige Fragen an
die Bringerin der ungeheuerltchen Bot
ichaft.
Plötzlich sah sie sich dem Schiffsbau
meister gegenüber.
»Gniibige Frau«. sagte Bollrath in
ruhigem Tone, »ich bin gekommen, um
Sie über alles aufzuklären. . ."
Frau v. Zeck hörte kaum nach ihm
hin. Etwas wie Zorn leuchtete aus
ihrem Antlitz, als sie des Fremden an
sichtig wurde. Sie wollte ohne weiteres
an ihm vorübergehen, fortgesetzt unter
Thränen und Schluchzen nach ihrer
Nichte verlangend
»Friiulein von der Tnnn habe ich be
reits über die näheren Umstände des
traurigen Falles unterrichtet, gnädige
Frau!« sagte Vollrath. »Ihr Fräu
lein Nichte ist durch das Ereigniß der
art erschüttert, daß jetzt äußerste Scho
nung geboten ist.«
Die Hausfrau maß den Sprecher
einen Augenblick lang mit einem er
staunten Blick. Es blitzte in ihren
Augen. Ein hochmiithiger, saft ver
ächtlicher Ausdruck trat auf ihre Lip
pen. »Ich danke fiir die Rathschlitge,
mein Herri« tagte sie zitternd vor Er
regung·
»O, gnädige Frau, es liegt mir
durchaus fern, Jhnen irgendwie zu
nahe treten zu wollen. Ich glaube
nur, bei den herzlichen und freund
schaftlichen Beziehungen, die mich mit
dem Todten vertniipft haben, das
Recht zu besitzen. auch fiir das augen
blickliche Wohl seiner nächsten Hin
terbliebenen aus eigener Machtvoll
tommenheit sorgen zu dürfen. Fräu
lein von der Tnnn bedarf nämlich so
beede«-nd hsk Nob- dns ipdk Istlt
Aufregung ein Frevel an ihrer Ge
sundheit wäre!«
»Meine Nichte, die ihren Bräutigam
verloren hat«, sie betonte das Wort
mit einer eigenthiimlichen Schärfe,
,,wird sich allerdings nicht so leicht zu
trösten missen als ein gelegentlicher
Betannter des Verstorbenen. Sie
verzeihen aber jetzt wohl, mein Herr ;
mein Platz ist an der Seite meiner
Nichtel«
Sendlinger zitterte vor Zorn über
die wegwerfende Behandlung, die ihm
von der ihm wenig günstig gestimmten
Dame zutheil wurde. »Sie find die
Hausherrin und haben zu befehlenl«
sagte er in tiihlern Tone. »Sie ge
statten dann also wohl, daß ich mich
von Fräulein von der Tann verab
schiede.«
Frau v. Feck hatte in ihrer nervösen
Erregung i r Taschentuch zerrissen.
»Ich werde die Bestellung selbst über
nehmen!« sagte sie, flüchtig mit dem
Kopf nictend.
Sie wandte sich hastig zum Gehen.
Bollrath sah ihr bestürzt nach. Offen
bar wollte sie ihm eine weitere Begeg
nung mit Karla unmöglich machen.
Die haussrau hatte sich von der
Treppe aus direct in das Var-terres
zimmer versitgt, in dem sich ihre Nichte
aushielt. Vallrath vernahm ein tur
zes erregtes Gespräch; Frau v. Zeck
begann plötzlich in ihren höchsten Tö
nen wieder zu jammern und zu wei
nen. Markerschiitternd drang der
Ton durchs ganze Haus« Vollrath
hatte die Thür, die zum Treppenhaus
führte, noch nicht erreicht, als Karls
schon aufgeregt aus dem Zimmer her
ausftiirzte, die jammernde Tante da
selbst alletn zurücklassend
Gortseiung solgt.)»