Grand Island Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1893-1901, December 04, 1896, Sonntags-Blatt., Image 8

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    Die Schrift des Todten.
set-time « Geschichte aus dem
deutsch-französischen Kriege.
Von Jul. May.
(Fortsetzung.)
Der Gedanke war entsetzlich, aber
das jungeälltädchen war trotzdem fest
entschlossen, die dringende Mahnung,
welche ihr Landais wie der Unter
suchungsrichrer ertheilt hatten, unter
allen Umständen zu beherzigen und
weder zu offenbaren, daß sie den Mör
der Bogtrreille’s kannte, noch den wah
ren Grund zu verrathen, weshalb sie
sich jetzt geneigt zeigte, den Werbungen
Montmaheur’s Gehör zu schenken.
Möchte man sie immerhin für gefall
siichtig kalten — später, wenn es ihr
gelungen war, den Vater zu retten und
den wahren Schuldigen zu überfiihren,
würde man ihr Gerechtigkeit widerfah
ren lassen. Deswegen hatte auch Klau
dine ihr feierlich versprechen müssen,
ebenfalls das Geheimniß nicht zu ver
rathen, was auch geschehen möge.
Luzie empfand aber doch eine große
Beklogrernenheih als sie nach Haufe kam,
Frau Doriat vermied es, sie anzusehen.
Beide nahmen ihre bescheidene Abend
mahlzeit schweigend ein. Das junge
Mädchen sah recht gut, daß der armen
Frau wiederholtThränen in den Augen
standen die sie heimlich wegzuwifchen
suchte. spndlich konnte sie es nicht mehr
aushalten und fragte:
»Warum weinst Du denn, Mutter?«
»Das mußt Du doch wissen,« war
die vorwnrfsvolle Antwort.
»Du denkst an den Vater?«
»Geh-tin Luzie, an ihn denke ich Tag
und Nacht, und um seinetwillen muß
ich oft txszzien Doch diesmal gelten
meine Tiiränen nicht ihm, sondern
Dir!«
Das junge Mädchen zuckte zusam
men, weilte aber noch weiter fo thun,
als ob sie gar nicht verstande, worauf
ihre Pflegemutter abziele. Die gute
Frau e:«kiriff sie bei der Hand, setzte sich
auf einer am Fenster stehenden Stuhl
und zog sie mit sanfter Gewalt auf ily
ten Sehn-Iß
»Warum willst Du nicht mehr auf
meinen zirnieen sitzen, was Du als Kind
so gern thateft?« fragte sie, als Luzie
sich zuerst etwas sträubte, da sie fürch
tete, geaeniiber den Thränen dieser gu
ten Frau ihr Geheimniß lauen wahren
zu können. »Du warst immer unser
Aller Liebling, und Keines von uns
dachte daran, daß Du nicht unser leib
liches Kind seiest.«
,,-).), Lebe :I.Icutter, ich hab’ Dich ja
auch so zis: r!.« sagte Luzie unter Thra
nen.
»Du Hilft mir also auch keinen
Kummer ;.;-:eiten?«
»Nein, zkisstsiß nicht, Mutter!«
»Du .r - es aber dennoch und weißt
auch ga::i «-;-tnau, wodurch. —- Hast Du
Dir nidjrxs -.;orzutversen?«
»Nichts-, zsjtutter.«
Mark-: Toriat seufzte tief aus.
Ossenbar its-Laß sie das Herz ihrer
Tochthr rsxisvx mehr, wenn diese es über
sieh gekgsixxsum sie zu betrügen. »Kannst
Du mir in Isiie Augen sehen, ohne roth
zu werd-zu
Luzisxi ein«-te den Blick ihrer schönen,
feuchtssrrisstmsrrnden Augen fest auf die
Mutter; ki- toar keine Scheu in ihnen
zu gewahren koohl abereine tiefe Trau
rigkeit. stu Doriat wurde nun doch
etwas unsicher.
»Und Dennoch, Luzie, ist Deine Auf
siihruna »He andere geworden wie
früher-. ·-.!t.- mir zuerst etwas zu Ohren
kam, bfsxt ich es für verläumderischen
Klatsch LssIJ :-.h mich mit meinen eige
nen Augen arm Gegentheil überzeugen
mußte. Zu gehst zu heimlichen Zu
sammer’ijr:ften?«
»Ja J.l?:.-fker.« «
»Sie-list Tu- wohl? Jetzt wagst Du
wohl nkctt :;e?:r zu leugnen. Du hast
fast jederx id ein Stelldichein mit
dem jijs:.·«e.se:k «;-.!";;Iontmayeur. Jhr tresft
Euch vsxr ksgsxc Dorfe, in dem kleinen
Gehölz am J,-",-:«Tedhose.«
»Das ist !r«.1i««.r, Mutter.«
»Und Tag Jktxehst Du Alles zu, ohne
Dich zu Deckt-einigem oder zu entschul
hei»Jch muß seh denn es ist die Wahr
t.«
"«Gros-zer Gott, das ist ja aber gar
nicht zu glauben! Liebst Du jenen Men
denn-«
«Jch weiß noch nicht, ob ich ihn liebe;
haft Du etwas an ihm auszusetzen'i«
»Das gerade nicht. Er hat mir war
r einen unangenehmen Ein ruck
acht, aber ich kann keinen Grund
J angeben.«'
. »Fun, dann —-—«
, »Ihr Mutter-, Unglüekseliget Denkst
« denn gar nicht wehe an Walten
" -Du Liebst, nnd derdtch sosvsvn
wiederliebtf M Du ihn ganz
L I
« vergessen? Wenn ihr ja auch noch nicht
öffentlich versprochen waret, so haben
iwir euch doch schon als Verlobte be
trachtet. «
Luzie antwortete nichts.
»Luzie, mein geliebtes Kind, so rede
doch, sage mir, was Du denkst und vor
hast!«
Kein Wort kam iiber ihre Lippen.
Aber sie schloß die Augen und biß die
Zähne zusammen, um nicht in ein lau
stes Schluchzen auszubrechen. Nein, sie
jwollte nichts sagen, denn sie mußte ihr
Geheimniß bewahren, das außer den
I durch ihre Amtspflicht gebundenen Be
s amten nur ihre Schwester mit ihr
theilte. Weder Frau Doriat, noch ihre
beiden Pflegebriider und Waltet durs
ten es erfahren, denn wie leicht konnten
Zsie eine Unvorsichtigkeit begehen die
Montmayeur stutzig machte und ihn
!an seiner Hut sein ließ. Und dann
war Doriat verloren. Nein, sie wollte
lieber Alles erdulden und über sich er
Egehen lassen, als das Gelingen ihres
Planes gefährden, und deswegen sagte
sie nichts weiter, als: »Ich Verdiene
Deine Vorwürfe nicht, denn ich habe
nichts Schlechtes gethan.«
j »Dann versarich mirwenigstens, daß
; Du mit diesem Menschen nicht mehr zu
isammentressen wills.«
. »Das kann ich nicht«
j »Warum nicht?«»
z »Das sollst Du später erfahren.
Jetzt frage mich nicht weiter, Mutter,
- ich bitte Dicht«
s »Das ist mein Recht und meine
-Pslicht. Du magst zwischen mir und
ihm wählen —- entscheidest Du Dich
Haber sür ihn, dann trennen sich unsere
Wege, dann darsst Du keinen Fuß mehr
.in dieses Haus setzen. Das bedenke
wohl!«
»Es soll geschehen, wie Du es willst,
;Mutter.«·
; »Unglückliche, hast Du denn alles
vergessen, tvas Du mir, Deinen Brit
dern und Walter schuldig bist?«
»Ich habe nichts vergessen Mutter.«
»Liebst Du denn Walter nicht mehr?«
So schwer es ihr ankam, brachte sie
es doch über sich, zu erwidern: »Viel
leicht habe ich mich selbst über meine
Gefühle getäuscht. Jch habe ihn wohl
nur wie einen Bruder und Jugendge
« spielen geliebt ——— und das ist auch sehr
Tgut, Mutter-, denn ich könnte ihn ja
doch niemals heirathen.«
Frau Doriat verstand diese Anspie
lung und schwieg. Sie blickte Luzie
mit einer gewissen Furcht an, denn es
war etwas in dieser, was sie nicht mehr
verstand, was ein Räthsel für sie war.
Sie ließ die Arme sinken, die sie um
den schlanlen Körper ihrer Pslegetoche
ter gelegt hatte, und machte eine abweh
5 rende Bewegung. Luzie erhob sich von
ihrem Schooße und stand nun vor der
» ganz kalt und streng gewordean Mut
i ter
!
!
i
1
,,Kind, Du hast Dich traurig verän
«.dert,« sagte Frau Doriat halb zornig,
- halb schmerzvoll.
»Ich habe mich nicht geändert, Mut
» ter,«' versetzte das arme Mädchen unter
; Thränen und fast an der Grenze ihrer
H Kraft angelangt.
’ »Doch, doch, und ich fürchte, daß Du
Dich noch mehr ändern wirst. Was
soll denn aus der ganzen Sache wer
den?"
,,Welche Frage! Johann v. Mont
mayeur will mich heirathen, sobald der
Krieg zu Ende ift.«
»Ich kann trotz alledem nicht glau
« ben, daß die Sache ein gutes Ende neh
men wird. Vielleicht hat seine Werbung
. Deiner Eitelkeit geschmeichelt, und des
" wegen hast Du Dich für einen Augen
blick irre machen lassen. Montrnayeur
ist aber ganz gewiß kein Mann, an des
sen Seite Du glücklich werden kannst·
» Und wer weiß, obe er es auch ehrlich
meint. Jm Dorfe tlatscht man schon
» über euch, und wer giebt Dir nachher
« Deinen Ruf zurück? — Komm, Luzie,
is sieh Deine Verirrung ein und versprich
E mir, den Umgang mit jenem Herrn
aufzugeben. Dann soll Alles wieder
gut feint«
Unaufhaltsam brachen jetzt die Thes
« nen aus Luziens Augen hervor. Es
« war das erstemal, daß sie so harte
; Worte von den Lippen der Mutter ver
s nahm.
i Marie Doriat aber glaubte jetzt Alles
gethan zu haben, was in ihren Kräften
stand, um das junge Mädchen von ei
nem Wege zurückzubringen den sie für
einen verderblichen halten mußte.
«Denke daran, was ich Dir gesagt
habe,« fügte sie noch hinzu. »Bis heute
haben wir nur Freude an Dir erlebt.
Du hast aber auch die Pflicht, uns
Freude zu machen, denn wir haben Dich
vom ersten Tage an wie unsere leibliche
Tochter angesehen und gehalten. Bringe
es nicht dahin, daß wir das bereuen
müssen.«
Mit diesen Worten ging sie aus dem
Zimmer.
Kaum war sie draußen, als Luzie,
Wittgt von den Qualen, die sie
während des Gespräches zu erdulden ge
»
habt, in die Kniee sank und vergeblich
ihr trarnpfhaftes Schluchzen zu ersticken
suchte, indem sie ihr Taschentuch vor die
Lippen preßte.
»Was habe ich ausstehen müssen,«
dachte sie, beinahe verzweifelnd, »und
das ist erst der Anfang des Kampfes!
Was wird später noch Alles kommen?«
Und doch war sie entschlossen, dem
gefaßten Vorhaben treu zu bleiben,
koste es auch ihr Leben.
10.
Die Einschließung von Paris war
jeßt vollständig durchgeführt. Es gab
in ganz Garches und seiner Umgebung
tein Haus oder Gehöft, in dem nicht
preußische Soldaten gelegen hätten.
Der Borpoftendienft war sehr ermü
dend und angreifend für sie. Tag und
Nacht tnallte und knatterte es, wenn ir
gendwo im Vorgelände die Patrouillen
aneinander geriethen; dazwischen
dröhnte das Geschütz der Forts, und oft
genug fanden auch Alarmirungen der
ganzen Linie statt, wenn es wieder ein
mal einen jener kleineren Ausfälle gab,
auf welche die Pariser in der ersten Zeit
der Cernirung sich beschränkten. Dann
rückten die »Prussiens« aus dem Dorfe
aus, das hierauf oft mehrere Tage leer
von Soldaten blieb.
Ein solcher Fall war wieder einmal
eingetreten. Den ganzen Tag über
hatten die Einwohner des Dorfes Ka
nonendonner und Gewehrfeuer vernom
men, das bald näher kam, bald aus
größerer Entfernung herüberklang, um
erst gegen Abend zu verstummen.
Es mochte halb zehn Uhr fein. Frau
Doriat war ganz allein in ihrem Hause.
denn die Soldaten, die bei ihr lagen,
waren in der Frühe ausgerückt und noch
nicht zurückgekehrt. Auch Luzie war
nicht daheim. Plötzlich wurde draußen
an die Thüre geklopft, und als Frau
Doriat öffnete, stand ein Bettler auf
der Schwelle, der um ein Almosen bat.
Schon griff sie in die Tasche, um dem
Manne eine Paar Soustücke zu geben,
als dieser ihre Hände ergriff und dabei
flüsterte: »Ist die Luft rein, Mutter?
Sind die Preußen fort? Jch bin’s —
Paul!«
Jetzt erkannte sie den Sohn, und ein
Ausruf des Schreckens und der Freude
zugleich kam über ihre Lippen. »Sie
sind noch fort, aber sie können jeden
Augenblick zurückkommen,« stieß sie
ängstlich hervor.
»Das schadet nichts. Dann haben
wir immerhin Zeit genug, um Dir
guten Abend sagen zu können.«
Er pfiff und alsbald tauchten aus
der draußen herrschenden Dunkelheit
noch zwei Gestalten auf, die sich rasch
näherten.
S-:--:-c --.-L M—lt-.-I« -L-t C-—
»tIJktlcch UUOU Mulskt- les IJDUU
Doriat mit gedämpfter Stimme.
,,Kinder,welche Thorheitt Was für
einer Gefahr setzt ihr euch aus! Wenn
sie euch erwischen, werdet ihr ohne Wei
teres erschosfen!«
»Hat keine Noth, Mutter,« meinte
Paul übermüthig. ,,Sehe ich in mei
nen Lumpen nicht aus wie ein echter
Landstreicher? Und die Beiden da tra
gen ihre gewöhnliche Civilkleidung.
Waffen haben wir alle Drei nicht bei
uns — wer will uns also beweisen, das
wir Franktireurs sind?«
»Nun, dann wird man euch für
Spinne halten —- euer Leben setzt ihr
unter allen Umständen auf’s Spiel.
Doch nun kommt schnell in’S haus,
damit euch niemand hineingehen sieht!«
Nachdem die drei jungen Männer
ihre Weisung nachgekommen waren,
schloß sie sorgfältig hinter ihnen die
Thür zu und umarmte und küßte dann
ihre beiden Söhne. Hierauf wandte
sie ihr von Thränen überströmtes Ge
sicht dem jungen Bourreielle zu und
fragte: »Und Sie sind mit in dieses
Haus gekommen, Walter ?«
»Gewiß, Frau Doriat; ich hoffe
nicht, daß sich in unserem Verhältniß
das Geringste geändert hat,« erwiderte
er mit Wärme. »Ich habe gleich von
Anfang an erklärt, daß Jhr Mann
nach meiner festen Ueberzeugung un
schuldig ist,« und dabei bleibe ich.«
»O, wie wohl das thut! Doch ihr
seid jedenfalls nicht blos, um mir guten
Tag zu sagen, hierhergelommen und
habt euch in solche Gefahr begeben.
Was führt euch hierher?«
»Wir stehen alle Drei bei demselben
Bataillon,« erklärte Paul. »Unser
Kommandant brauchte Nachrichten über
die Vertheidigungsanstaiten der Deut
schen in Garches und Umgebung und
forderte Freiwillige auf, sich zu melden.
Da sind wir borgetreten, weil wir hier
ia doch jeden Weg und Steg kennen.
Daß es uns lieb war, bei dieser Gele
genheit Dich und Luzie wiederzusehen
zu können, versteht sich von selbsi.«
Frau Doriat fuhr plößlich zusam
men; die beiden Brüder und Walter
sahen es wohl, konnten aber keinen
Grund dafllr entdecken. ,
Der junge Bontreille sagte: »Luzte
ist nicht bei Ihm- tvte ich lebe; sie M
F — J
! l
Iwohl schon schlafen gegangen. Möch-:
ten Sie sie nicht rasch weiten? Sie tön-»
’nen sich wohl denken, daß ich sie gern
sehen möchte.«
Frau Marie gab keine Antwort, was
die jungen Männer natürlich lebhaft
befremdete.
« »Wie, Sie sagen nichts?« meinte
Walter bestürzt.
»Was geht hier vor?« erkundigte sich
Heinrich.
»Sie schläft,« erwiderte die Mutter.
»Sie ist seit einigen Tagen etwas lei
dend, und deshalbmöchte ich sienicht——« l
Die Erregung ließ sie nicht weiter
sprechen. Paul sah seine Mutter scharf
an und fragte hastig: »Mutter, wo ist
Luzie-«
»Ich sagte es ja schon: sie ist in ih
rem Zimmer. Laß sie ruhig schlafen,
es ift besser so."
»Und wir sollten fortgehen, ohne sie
gesehen zu haben ?"
»Ach nein, Frau Doriat,« meinte
Walter, »das geht unmöglich. Sie
wird sich auch dermaßen freuen, uns so
unerwartet wiederzusehen,daß ihre Un
päßlichkeit sofort verschwinden wird.
Sie würde Ihnen böse fein, wenn Sie
uns so fortschickten.«
Frau Doriat war ganz sassungs
. und rathlos. »Was soll ich ihnen nur’
sagen, was thun?" dachte sie.
; Plötzlich meinte Heinrich: »Ich werde
E sie wecken!'« Und dabei eilte er trotz der
kabmahnenden Worte seiner Mutter zu
jdemim Erdgeschofz gelegenen Gemach
k Luztens und begann erst leise und dann
Zimmer stärker an die Thür zu pochen.
IEs kam lein Laut aus dem Innern,
Bauch nicht. als er mit lauter Stimme
den Namen der Pflegeschwester rief.
l ,,Luzie ist gar nicht drinnen,« sagte
kPauL »Warum hast Du uns gesagt,
sie schliefe, Mutter-?- Antworte doch,
man bekommt ja völlig Angst bei Dei
nem Schweigen.« ·
Alle Drei waren ganz blaß gewor
den, und Walter schrie plötzlich auf:
»Sie ist doch nicht etwa todt? Von ei
nem Granitsplitter oder einer verirrten
Kugel getroffen? Aber so reden Sie
s doch, Frau Doriat, ich beschwbre Sie!«
»Vielleicht wäre es besser, wenn sie
todt wäret« antwortete Frau Marie ge
senkten Hauptes.
Die jungen Leute schwiegen, sie ver
standen sie nicht. Plötzlich machte Frau
Doriat eine Bewegung und lauschte.
Leise Schritte näherten sich auf der
Straße dem Hause, dann vernahm man
nichts mehr.
,,Kinder,« begann Frau Marie dann
wieder, »ich ängstige mich euretwegen.
Bleibt lieber nicht länger hier, denn die
Preußen können jeden Augenblick zu
rückkehren. Geht also jetzt; ihr entfernt
euch am besten durch den Garten; ich
werde euch durch den Ausgang, der auf
das freie Feld führt, hinauslassen.«
Keiner von ihnen rührte sich jedoch.
»Nein, Mutter,« erwiderte Paul,
»wir gehen nicht, bevor- Du uns nicht
gesagt hast, was aus unserer Schwester
; geworden ist, sollten wir auch hier auf
« der Stelle festgenommen werden.«
Jn diesem Augenblicke hörte man,
wie die Hausthür behutsam geöffnet
i und dann wieder verschlossen wurde.
»Das ist Luzie," sagte Frau Doriat
- zitternd.
»Woher tommt sie denn noch so
lpäk?«
l »Das mag sie euch selber sagen.«
- Als das junge Mädchen eintrat und
sich so unerwartet ihren Pflegebriidern
und Walter Bourreille gegenübersah,
s wurde ihr Gesicht noch bleicher, als es
schon war. Sie schwankte und griff
» mit den Händen nach ihrem Halse, als
ob sie zu ersticken fürchte.
; Walter eilte ihr entgegen mit den
; Worten: »Luzie, was ist Dir?«
Aber Marie Doriat antwortete an
i ihrer Stell- ernst und beinahe feierlich:
F »Ihr habt mich vorhin gefragt, wo
E Luzie sei. Jhr waret erstaunt, sie um
. diese Zeit nicht zu Hause zu finden, und
? wundertet euch über das Ausweichende
. meiner Antworten. Jhr wolltet wis
sen, wo sie sei« -— sie faßte Luzie heftig
bei einem Arme und zog sie in den
Lichtireis der Lampe, indem sie sie zwi
schen Walter und die Brüder drängte—
i »nun wohlan, jetzt soll sie’s euch selber
sagen!"
; Sie öffnete den Mund, aber ihre
sLippen und der Hals waren ihr wie
z ausgedörrt, so daß sie kein Wort her
; vorbrachte. Vor den Augen war es ihr
i dunkel, so daß sie die Anwesenden an
starrte; ohne sie zu sehen; ihr herz
trampfte sich bei dem Gedanken an die
- harten Worte, die Schmähnngen zu
- sammen, die, wie sie ganz genau wußte,
; jetzt gegen sie geschleudert werden wür
T den, ohne daß sie ein Wort zu ihrer
Rechtferti ung äußern durfte.
»Sprieå Luzie,« drängte auch Paul,
»denn jede Minute des Zögerns tann
f uns gefährlich werden!«
s Da sie noch immer schwieg, so ent
; gegnete Frau Doriat heftig: »Sie wird
» euch nichts sagen; die Schande schniirt
W
ihr den Hals zu, seht ihr's denn nicht?
Aber ich will fiir sie reden.«
»Mutter!« flehte das arme Mädchen
mit gerungenen Händen, aber diese ge
bot ihr durch eine Geberde zu schweigen
und fuhr fort: «
»Sie kommt von einem Stelldichein
mit Johann v. Montmaheur, dem sie
den Kon verdreht hat. Er will sie,
wie sie sagt, zu seiner gnädigen Frau
machen, vorläufig aber deuten die Leute
im Dorfe mit Fingern auf sie.«
»Luzie, ist das wahr?« schrie Walter
außer sich. ,
»Ja, frage sie nur, ob es nicht wahr
ist," fügte Frau Dotiat erbittert hinzu,
»diese Ehrvergefsene, die sich nicht
schämt, sich Abend für Abend zu ihrem
Galan hinzuschleichen, dessen Bethiirun
gen sie so dumm ist fiir baare Münze zu
nehmen.«
»Du antworiest nicht, Luzie, also ist
es wirklich wahr? Freilich, Deine Mut
ter würde so etwas nicht sagen, wenn es
nicht erwiesen wäre. Nun, dann bist
Du eine elende Kreatur, die ich nur noch
verachten kann.«
Sie zitterte an allen Gliedern und
konnte nur murmeln: »Walter, Walter,
so habe doch Erbarmen mit mir!«
,,Erbarn:en mit Dir? Wefzhalb?
Hast Du Mitleid mit mir gehabt, als
Du mich verriethest und Deine Schwüre
brachf C« «
Paul umarmte seine Mutter, indem
er sagte: »Du mußt ja schrecklich gelit
ten haben, Du arme Mutter, und hät
test doch fiir alle Deine Wohlthaten
einen besseren Lohn verdient, als eine
solche Undankbarleii. Du mußt das
Mädchen, das Du so lange thre hin
durch wie ekne Tochter gehalten hast,
jetzt v:rgessen. Aber sie kann und soll
unter diesen Umständen auch nicht län
ger unter unserem Dache bleiben. Hat
; sie alle ihre Pflichten vergessen, so mag
Jsie auch die Familie vergessen, der sie
,bisher angehört hat. Sie besaß keine,
; als wir sie aufnahmen, so soll es auch
I jetzt wieder sein, dann hat sich nichts in
Jihrem Leben geändert.«
! »Ihr sagt mich fort s« stohnte sie
i dumpf.
) Paul Toriat schaute seinen Bruder
i und Walter Bourreille an. »Halte ich
inechte Vesdient sie diese Simses-«
»Ich stimme Dir bei," erwiderte
Heinrich. »Dies Mädchen ist fortan
ein Fremder für uns.«
»Auch ich muß Dir Recht geben,«
sagte Walten ,,sie darf dies Haus nicht
länger durch ihre Anwesenheit schan
den.« «
Jedes dieser Worte traf das Herz ver
Armen gleich einem Dolchstoße, aber sie
stöhnte nur: »O, Walten Du wenig
stens dürftest das nicht sagen!« Jedoch
sie las kein Erbarmen in seinen Blicken,
und nun fühlte sie, wie Kraft und
Mutls in ihr schwanden, wie ihre Ent
schliisse in’s Wanken kamen.
»Wenn Du Dich noch vertheidigen,
Dich zu entschuldigen suchen wolltest,«
hub Marie Doriat, von mütterlichem
Erbarmen getrieben, nochmals an,
»aber Du stehst da, steif und stumm,
und suchst uns nicht einmal begreiflich
zu machen, wie das überhaupt Alles ge
schehen lonnie. Dieser Trotz ist ärger
als alles Andere. O, wie tief bist Du
gesunken, armes Kind!«
»Ich will mich nicht vertheidigen,«
hauchte sie mit ersterbender Stimme.
»ich könnte es wohl auch incht. Doch
seid nicht allzu grausam gegen mich,
denn später werdet ihr es bereuen.«
»Sie will noch drohen,« meinte Paul
ironisch.
»Nicht doch, Paul, ich bitte nur«
Wenn ich euch anflehe, so thue ich das,
um euch in der Zukunft Selbstvorwiirfe
zu ersparen.«
»Die fürchten wir nicht, denn Du
hast nichts anderes verdient, als aus
dem Hause gejagt zu werden. Es ist
ein Alt der Gerechtigkeit, den wir aus
üben. Kannst Du etwa leugnen, Zu
sammenkiinfte mit Monimaheur ge
habt und Dich seinen Werbungen ge
neigt gezeigt zu haben?«
»Nein."
»Kannst Du leugnen, Walter die
Treue gebrochen zu haben?«
»Nein, das kann ich nicht, es ist
wahr.«
»Nun, dann ist die Sirae gerecht,
die Dich trifft. Jn Abwesenheit mei
nes armen Vaters bin ich das Ober
haupt der Familie und als solches be
fehle ich Dir, morgen dieses Haus zu
verlassen-«
D»»Jch werde gehen, Paul, ich verzeihe
ir.«
- ,,Behalte Deine Verzeihung fürDich,
Heuchlerin. Du wirst nie mehr hierher
? zurückkehren-«
i Niemals bis zu dem Tage, andern
H ihr mich selbst zurückholt.«
f Paul zuckte die Achseln. » Dieser
Tag wird niemals kommen-. Fortan
bist Du eine Fremde file uns Doch
snnn genug. Wie dürfen nicht liinger
weilen, sondern miissen uns wieder zu
L - - J M
unseren Kameraden durchzuschleicheri
suchen-«
,,Still!" flüsterte Marie Doriat.
Man hörte draußen die sich nähern
den Soldaten.
»Ihr seid verlorenl"
» »Ganz und gar nicht. Die Hausthür
z ift verschlossen; halte die Deutschen nur
Jnoch einen Augenblick hin, bevor Du
ihnen offnest. Inzwischen machen wir
uns durch den Garten davon.«
Noekf einen letzten Kuß wechselten die
Söhne mit der Mutter, dann schlichen
sie durch die Hofthiir hinaus, und Wal
ter Bourreillk folgte ihnen, nach einem
schmerzvollön Blicke auf Luzie, die un
beweglich wie eine Statue, mit gesenk
tem Kopfe und schlaff herabhängenden
Armen dastand.
Die Soldaten klopften ungeduldig;
Frau Doriat ging aber erst zur Thür,
und öffnete, als sie die jungen Leute
bereits außerhalb des Gartens wußte.
Jene schalten iiber das Zögern, hatten
aber kein Arg und beruhigten sich in
ihrer vertrauensvollen Gutmiithiglcit
gleich wieder.
Marie ging in ihr Zimmer. Darauf
trat Luzie, ein kleines Bündel in der
Hand tragend, bei ihr ein. Sie sah
; ihre Pslegemutter vor dem Bette auf
ider Erde knieen und heftig weinen.
Luzie fiihlte sich tief ergriffen. »Ja,
es ift hart,« dachte sie, »daß ich Dir
diesen Schmerz bereiten muß, aber um
so größer wird Deine Freude sein,tvenn
das Ziel erreicht ist, das ich mir gesetzt
habe.'« Sie hustete leicht, da Frau
Doriat ihre Anwesenheit immer noch
nicht wahrgenommen hatte.
»Jetzt drehte diese sich um und
fragte: »Was willst Du noch?«
»Dir Lebe-wohl sagen, Mutter. Da
Paul mich aus dem Hause gewiesen
hat, io will ich nicht länger bleiben.«
»Und Du gehst ohne Reue und Be
dauern?«
Q-!-2--- ke--·I.--. «»2 h-« Als-»n
- ......... -. um«-« ....« »... ....,,...
des jungen Mädchens hervor, es drückte
ihr fast das Herz ab und zum zweiten
Male tani sie in Versuchung, Alles zu
offenbaren. Ein solches Geheininisz
trägt sich gar zu schwer.
Eiren Moment gab sie dem Drange
nach, indem sie ihrer Pslegemutter um
den Hals fiel und ihr unter heißen
Küssen zuflüsterte: »Denle immer da
ran, Mutter, daß ich Deine Tochter
bin; denke daran. daß ich Dich von
ganzem Herzen lieb habe, und vergiß
alles Andere.«
Als Jene aber fragte: »Was willst
Du damit sagen?« entgegnete sie blos:
»Nichts, nichts,« und war bereits
verschwunden, bevor MarieDoriat noch
eine weitere Frage stellen tonnte.
Als ob Verfolgee hinter ihr wären,
so eilte das junge Mädchen durch die
dunklen Gassen von Garches nach Les
Bernadettes Wohl begegnete sicher
schiedenen Gruppen von Soldaten, aber
sie erfuhr nicht die geringste Belusti
gang.
Dort war das Wohnhaus ebenfalls
mit Militär belegt, allein äußerlich
hatte sich aus dein Gehöste sonst nichts
verändert. Noch immer führte die
vor der Giebelwand der Scheuer leh
nende Leiter zu Klaudinens Schlaf
zinimer empor. Luzie schlich mit
schwankenden Schritten in die Höhe,
pocht-e und nannte ihren Namen. wo
raus die Schwester, die bereits schlafen
gegangen war, öffnete. Fast ohnmäch
tig sank sie in Klaudinens Arme und
konnte erst allmälig so viel Fassung zu
rückgewinnen, um der Mitwisserin ih
res Geheimnisses die furchtbaren Vor
gänge in der letzten Stunde anzuwe
trauen.
Klaudine trocknete ihr zärtlich die
Augen« küßte sie und suchte sie zu be
ruhigen.
(Fortsetzung folgt.)
—... — « - ..
Einer der Lieblingsplä
ne Kaiser Wilhelms ist die Verstär
kung der deutschen Flotte. Nur we
nige Deutsche würden ihm wohl dabei
hindernd in den Weg treten, wenn
diese Pläne eben nicht so loftspielig
wären und das deutsche Volk für Hee
res- und Flottenzweike schon ohnehin
genugsam belastet wäre. Das Cen
trum, ohne das für die Regierung tei
ne Mehrheit im Reichtstag zusammen
gebracht werden kann, hat nun er
klärt, daß es seine Zustimmung zu
den kaiserlichen Forderungen für die
Verstärkung der Marine nicht geben
werde.
».»,»--«.-»
BetheiligteKreise in New
York agitiren fiir ein ,,Befähigungs
Attest'« der Barbiere: erst nach einer
einschlägigen staatlichen Prüfung sol
len dieselben- das Recht und die Licenz
erhalten« uns mehr oder weniger ver
schonern zu dürfen. Nach den Duf
schmieden seht die Barbiere. Wir
machen? tapfer den Europäern nach
ins der Reaktion auf dein Gebiete der
Gewerbefreiheth wie bald der-allge
meine Jnnungszwang des mittelalteri