Grand Island Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1893-1901, April 12, 1896, Image 1

Below is the OCR text representation for this newspapers page. It is also available as plain text as well as XML.

    TESUUUMgsVlMt des Anzeigcrsmd HEWIU
H. Jahrgang.
Grund Island Nebraska, Sonntag, den 12. April 1896
si«
fes
u«
Der Abbe-Tonart
ne heitere Polizei-Geschichte vou s.
Ost-ne Maus-man
I. »
An einem Septembertage des
hres 1810 tam der Abbe Coquet,
arrer an der Kirche St. Nizier in
U- nach der Frühmesse nach sei
» bescheidenen Wohnung in der
e Tentrale, um seinFriihsstiict ein
« huren. Die alte Wirthschafte
empfing ibn mit der Nachricht,
bestände sich in seinem Studirzim
FTiirechen wünsche
.Als der alte Herr sein Studie
s- mer betrat, stürzte eine junge,
«-.. · nde Frau in eleganter Klei
« ng auf ihn zu und rief: »Ontel
««uet, retten Sie ihn-er ist ver
—. Abbe ertannte in der jungen
s die Gattin seines Neffen
- erre Lafolais.
sp; »Wer ist verloren, liebe Senat-ie
.- ei« fragte er erschreckt »Pierre,
seen Refer Jch hoffe nicht, daß
»Doch, doch,« versetzte Genevieve
, luchzend. »Er ist verhaftet wor
n, und man hat mir gesagt, dasz
in Schlimmes bevorsteht.«
»Mein Neffe verhaftet?« fragte
r alte Herr erstaunt »Er, Der
·edliebendste, ruhigste Mensch ver
.fl«et? Und weshalb?«
« »Ich weiß nicht recht, « ertlärte die
ge Frau, »um was es sich han
« li. Der Kaiser hat von Paris aus
- s erfiigungen erlassen, welche den al
-
n von Lnon und ihren Seidenwes
- n schlichten sollen. Vierte, der
« große Seidenfabrit verwaltet,
ll nun diese Befehle des Kaisers
’cht zur Ausführung gebracht ha
. n, die Arbeiter haben sich über ihn
’ s i’m Präietten Delobelle beschwert,
« ndxschan seit einigen Tagen ist es
« zu heftigen schriftlichen Auseinan
setzungen zwischen Pierre und
I. Priifetten getommen. Heute in
, her Stunde haben Polizeibeamte
stierre verhaftet; man hat eine
" ««.·s- ussuchuna vorgenommen und sich
- eines Theiles seiner Papiere bemäch
Jch war auf der Priifetlnr,
Clzu fragen ob mein Gatte nicht
, »Ist entlassen würde, die Beamten
oen mir indessen gesagt, die Sache
ünde viel schlimmer, als ich nur
vermuthen könnte. Jn meiner Angst
bin ich nun zu Ihnen getommen
! tel Abbe, um Sie um Schutz und
s istand zu bitten.««
- »r-«Verunige Dich nur« mein Hunds
agte der würdige Geistliche, ,,selbst
, verständlich sollst Du Schutz und
Beistand bei mir finden. Aber ich
ann Dir nicht verhehlen, daß nrich
ie Sache etwas beängstigt. Es
« muß sich um mehr handeln, als um
-« einen Streit mit den Seidenwebern
« »und um die Verletzung der kaiserli
» -«n Befehle; man wiirde es sonst
s s icht wagen, einen der angesehensten
Leute von Ltyon zu verhaften. Lass,
mich nur erst srühstiicken, dann will
ich sofort zum Präsetten gehen und
· selbst einmal nachseagen, was es
- idt. Oel-' einstweilen nach Deiner
ahnung, mein Kind, in einer
Stunde hoffe ich Dir Antwort brin
en zu können. Verzweisle nicht.
ierre ist dein Bösewicht und Ver
schwören er hat sich mit Politik nie
s «besaßt, und deshalb musz entweder
ein Preschen vorliegen oder ein Ge
heimnisz vorhanden sein, über das
ichs mir Austlärung verschaffen
werde«
» Genevieve tiiszte die Hand des al
s -.tenherrn und entfernte sich weinend.
, Der Abbe schlürfte stehend seine
Tasse Chotolade und machte sich
dann sosvrt aus den Weg nach der
Präsettur. Er schien an die Trost
tvorte, die er der Gattin des Neffen
gesagt hatte, selbst nicht recht zu
s« laubenz er touszte, dasz es eine
Eil-innere Zeit site alle Leute sei, die
enit den Behörden in Conslitt ta
« M Nu vie-mf WndGalZ lKaiser
rang en au m ip e puntte
I seiner Macht;alle liest-en Entoz-W
sp hatte er gedemiit gt und gezwun
- en, ihn anzuerkenner u. den Papst
, tte er sogar gesungen nach Franck
s Tretch bringen lassen; mit der Tochter
der sjneichischm Kaisers han- ek sich!
vermählt, sein-e Brüder und Einwand-I
ten hatte er zu Königen und Fürsten;
gemacht, und das Reich Karks des;
Großen schien durch Napoleon den Er-«
sten wieder aufgerichtet zu sein. Bon,
England aus wurde allerdings fort
wahrend gegen den Kaiser confpirirt,I
nicht nur auf diplomatischem Wege-T
sondern auch durch Berschworene, dies
ihm nach demLeben trachteten, und fast
aller Behörden in Frankreich hatte sich
eine gewisse fieberhafte Thätigteit be-Z
mächtigt, die darauf ausging, Ver-«
schwörungsen gegen das Leben des Kai-;
sers zu entdecken unsd sich durch solchez
Entdeckungen Anerkennung und Be-!
lohnungen zu verschaffen i
Pierre Lajolais war nach Nr festen;
Ueberzeugung des Abbe in keiner Weisei
an einer politischen Verschwörung be-k
theiligt, verdächtigt konnte aber derj
unschuldigsteMensch werden. wenn er«
einflußreiche Feinde hatte, denen es ge-j
lang, ihn zu verleurnden. i
Der Präfekt empfing den alten Abbe
augenblicklich, wenn auch mit einer ge-;
wissen Zurückhaltung Der Geistliche11
bat um Aufklärung wegen der Ver-helfe
tuna des Neffen-, und der Präsett ant-»
wartete ihm ausführlich.
»Ich konnte nicht anders haritdeln,'«
erklärte er, »der Kaiser hat die streng-»
sten Befehke erlassen, welche das Ver-l
hältniß zwischen Fabrikanten-und Sei
denwebern regeln sollen. Diese Befehle
sind ein wenig zu Gunsten der Arbeiter
und gegen die Fabrikanten gerichtet,
trotzdem entsprechen sie der Billigkeit,
Nothnxendigteit und der Weisheit unse-;
res erhädrnen Monarchen. Hr. Lajo-.
lais hat sich direkt geweigert, diese Bez
fehle in feiner Fabrik ljur Ausführung
zu dringen; ich herbe ihn in Güte er-«
mahnt, sich zu fügen, darauf hat er
einen Schriftwechsel mit mir begonnen-T
der einen immer heftigeren Charakters
angenzmmen hat. Or. Lajolais hat:
sich erlaubt, nicht nur die Befehle
Seiner Majestiit zu tritisiren, sondern
sich auch in höchst absprechen-den ja das
Staatsoberhaupt verletzender und de
leidigender Weise iider diese Befehle zu
äußern. Ich will Ihnen nicht verheh
len, Herr Abbe, daß die Polizei mir
schon seit längerer Zeit mitgetheilt- hat,
daß Pierre Lajoiais zu den Unzufrie
denen gehört, welche mit dem Auslande
Verbindungen unterhalten. Jch mußte
selbstverständlich unter allen Umstän
den den Befehlen Seiner Majestiit Ach
tung verschaffen, noch dazu gegenüber
einem Menschen, der das herrschende
System nicht anzuerkennen schean Die
zFabritanten mußten sehen, dasz die
Befehle des Kaisers aus«-geführt wer
Hden, die Seidenweber mußten davon
überzeugt werden, daß die Obrigkeit sie
Ein ihren Rechten schütze. Jch habe des
shalb Hen. Laiolais wegen Widerstands
I egen die kaiserlichen Befehle gefangen
sfetzen und in seiner Wohnung eine
jhaussuchung vornehmen lassen. Das
ZErgebnisz ist ein siir Sie recht betrü
sbendeT Or. Lajolais steht, wie die
Eausgesundenen Briese beweisen, seit
länger als drei Jahren mit französi
ischen Emigranten in Brieswechsel, das
iheiszt mit den Berschwörern, die wach
»dem Leben des Kaisers trachten und
welche den Umsturz aller bestehenden
iVerhältnisse und sdie Rückkehr der
’Bourbonen erstreben-«
Abbe Coauet war erbleicht. »Un
-miiglich!'« sagte er. »JG kann es nicht
glauben, Herr PräsetL Mein- Nesse
hat sich nie urn Politik gekümmert, er
ist jung, verheirathet und lebt in der
glücklichsten Ehe, schon um seiner Frau
willen hätte er sich nicht in solche Ge
fahr gestürzt.«
«Ueberzeugen Sie sich selbst!« sagte
der Präselt und hielt dem Abbe eine
Anzahl Schriststiicte vor. »Hier sind
Briese aus London von einem gewissen
Querelle, welche deutlich beweisen, basz
Lajoiais Beziehungen zu ben Euri
,granten hatte.«
Der Abbe betrachtete die Briefe, und
sein Gesicht heiterte sich einigermaßen
aus. »Wenn es nichts weiter ist, als
kbas, Herr Präsett,« sagte er, »dann ist
;mein Nesse wohl entschuldigt. Dieser
Querelle ist ein naher Berwanbter von
ihm und von mir, ein Vetter Lajolais’.
Dieser Mann allerdings hält sich seit
längerer Zeit in London aus« und man
wird wohl einen Brieswechsel zwischen
so nahen Verwandten nicht sür ver
dächtig sinloen, wenn nicht in diesen
Brieer aus eine Verschtoörung hinge
deutet wird.«
»Das ntcht,« sagte ber Präsett. »Die
Briefe bezichen sich anscheinend nur
auf Geschäftsangelegenheitenz es gibt
aber einige dunkle Andeutungen darin,
die sehr wohl als politische Verabre
dungen und-Nachrichten aufgefaßt wer
den können. Vielleicht würde man bei
einein ruhigen Staatsbiirger den Ver
dacht nicht hegen, bei einem Menschen
abst- »der sich gegen die Gesetze nnd kai
serlichen Verordnungen a-uflehnte, wie
he. Lajolais, muß man sich auch einer
politischen Berschwörung versehen.
Jch habe daher den herrn in haft be
halten und werde die ganze Angelegen
heit an den Minister des Jnnern in
Paris schicken. Mag man dort ent
scheiden, was zu geschehen hat. Das
ist Alles, was ich Ihnen mittheilen
tann.«
»Kann vich meinen Neffen sehen?«
fragte der Abbe. »Kann ich nicht mit
ihm sprechen, ihn fragen-. was ihn zu
»dem thörichten Widerstand gegen die
Befehle des Kaisers bewogen hat's«
»Nein,« erklärte der Präfelt, »Ihr
Nesse ist ein politisch Verdachtiger, und
ich kann Jhnen iden Zutritt zu ihm
nicht gestatten. Auch einen Briesrvechsel
würde ich nicht iduldem es muß die
Entscheidung des Ministers abgemattet
werden, welche allerdings einige Wo
chen auf sich warten lassen lann.«
2.
Zwei Tage später verließ die Post
lutsche Lnon, welche regelmäßig den
Verkehr mit Paris vermittelte, und die
auf den guten, von Napdleon angeleg
ten Heenstraszen die Fahrt in drei Te -
gen und drei Nächten zurücklegtr.
Unter densPassagieren befand sich auch
der Abbe Coquet, der die fiir sein
Alter beschwerliche, und nach damali
gen Begriffen weite Reise nicht scheute,
nm in Paris zu Gunsten seines Neffen
Schritte zu thun. Da die Sache dem
Minister zur Entscheidung vorgelegt
werden sollte, wollte der Abbe gleich
zeitig mit den Alten, die sich aus seinen
Neffen Lajolais bezogen, in Paris
eintreffen, um den Minister von der
Unschuld Lajvlais' zu überzeugen.
Er hatte einen Bekannten im Mini
sterium des Inneren, und auch der Mi
nister des Inneren und der Polizei,
Savary, der Nachfolger des berüchtig
ten Fauche, war dem Abbe persönlich
belannt· Es handelte sich nur daruni,
ob sich der Minister der flüchtigen Be
kanntschaft noch erinnern werde, welche
weiter, als zwanzig Jahre zurück lag
Damals, im Jahre 1790, war Savarn,
der jetzige Polizeiminifter, in das Heer
eingetreten und lag in Lyon in Garni
son. Der Abbe und der junge Offizier
waren mehrfach in gesellschaftlichen
Verkehr miteinander gekommen und
hatten manchen Abend zusammen ver
plaudert. Der Abbe aber war das ge
blieben, was er vor zwanzig Jahren
gewesen, nämlich ein bescheidener Welt
priefter, während Savary in den Feld
ziigen Napoleon’s General und endlich
Minister geworden war. Immerhin
schienen die Aussichten, die Abbe Co
quet fiir seinen Besuch hatte nicht un
Igiinftige Er hoffte er würde es
idnrchsetzem daß der Nesfe aus der
Hast entl ssen und daß ihm Gelegen
heit geboten würde, sich zu vertheidigen
Iund von dem Verdacht zu reinigen, daß
Irr ein Verschwörer gegen das Leben des
Kaisers sei.
Am dritten Morgen nahm man aus
einer kleinen Station ein eiliges Früh
istiirk ein, dann ging die Fahrt weiter
bis Paris, wo man Nachmittags gegen
zwei Uhr eintraf.
Als der Abbe Coanet im Hause des
Postgobäudes aus der Lyoner Post
tutsche stieg, näherte sich ihm ein Herr,
der ihm die Hand auf die Schulter
legte und ihn leise fragte: »Habe ich die
JEhre, den Herrn Abbe quuet aus
Lhon zu sehen?«
« »Der bin ich,«' sagte erstaunt der alte
Herr-. »Mit wem habe ich die Ehre, zu
sprechen, und womit kann ich dienen?«
Der Fremde iiffnete seinen Rock ein
wenig, so daß unter demselben die
blau- weiß- rathe Seidenschärpe sichtbar
Iwurde, die er um den Leib geknüpft
trug.
»Ich bin Agent der Sicherheitspoli
sei.« erklärte er, »und verhaste Sie
hiermit.
su Miche« fragte entsetzt ver Geist
I »Ja-« entgegnete der Wgenh «irn
IAuftrage meines Chefs, des herrn v
Sartines. «
Der Abbe erbleichte. Der Nam
»Sartines hatte einen schrecklichen-klang
fiir alle Leute, welche mit der Polizeil
in Verbindung kamen. Sardines galt
fur«den geschicktesten Polizeibeamten,.
den te die ftauzitsische Hauptstadt betet-I
few-Das Spionen-System, das er ein-i
geführt hatte, iitberstieg alle Begriffe
und brachte den Pariser Polizeidiret-»
tor gewissermaßen in den Ruf der All-«
wissenheit und Unsehlbarteit. -
»Und weshalb werde ich verhaftet?«
fragte der Abbe. i
»Es-ragen Sie Jhr Gewissen!« ent-z
gegnete der Agent. »Ich hoffe, Sie
werden mich nicht zwingen, Gewalt an-!
zuwenden. Folgen Sie mir augen-;
blicklich nach der Polizei, wo man met-I
tere Verfügungen über Sie treffent
wird.«
Der Agent nahm das Gepäck des-F
Abbe’s, rief einen Wagen herbei, und;
dieser brachte Beide nach dem Hause,"
in dem der Polizeichef von Paris seine«
Amtszimmer u. seine Wohnung hatte«
» Jn einem Vorzimmer, in dem einet
Anzahl von Polizeidienern wartete,
wsurde der Abbe einen Augenblick un
tergebracht; dann kam der Agent, deri
ihn angemeldet hatte, zurück und for z
derte den Abbe auf, ihm zu folgen. I
; »Mein Chef,« sag-te der Agent, »hat
Hmir befohlen, Sie in seinem Arbeits-;
;zimmer einzuschließen Wollen Sie
Thier herein treten und abwarten, wagt
Jmit Ihnen geschehn wird. Jhr Gepack;
bleibt draußen.« - 4
’ Der Agent führte den Abbe in das;
Arbeitszimmer Sardines', verschloß
dann die Thür von Anßen, und der«
alte Herr war allein in dem Gemacht-J
in dem täglich das Geschick so vieler;
hundert fchuldiger und unfehuldigerj
Personen entschieden wurde, in dem:
gewissermaßen alle geheimen Fäden der;
Pariser Sicherheitspolizei zufanimew
liefen. i
Der Abbe hoffte, man« würde ihm
bald mittheilen, weshalb er verhaftet
fei, es verging indefz ziemlich viel Zeit,l
ohne daß sich nur ein Laut in der Um
gebung des Arbeitszimmers hören liefz l
jder alte Herr hatte sich auf einem Ses-’
jsel in derNäshe der Thür niedergelassen
Fund dachte itber die sonderbare Lage
Jnach, in die er gerathen- war. Sekkie
fVerhastung mußte mit der Angele
Igenheit des verhafteten Neffen in Ver-·
sbindung stehen. Anscheinend war der
HAbbe der Behörde selbst verdächtig« ge
worden, und sofort bei seinem Eintritt
»in Paris hatte man sich feiner bemäch
Jstigt. Die Geschwindigkeit und Sicher
heit« mit der die Sicherheitspolizei ar
;oe11ere, ronnre oen uooe nicht in Ur
Ystaunen setzen. Da er aus Lhon war
quszte er genau, was dem Vorsitzenden
des obersten Lyoner Gerichtshofes
iHerrn Pupil de Myons, vor eitiigen
sWochen passirt war. Der Gerichts
IPräsident war mit Herrn Sartines
befreunden und infolge einer Unterhal
ttung hatte er mit dem Chef der Sicher
Hheitspolizei gewettet, daß er sich uner
Ilannt einige Tage lang in Paris auf
jhalten wolle, ohne daf; die Aaenten
;Sardines’ im Stande sein würden,
iihn zu entdecken.
Z Der Präsident war dann nach Lhon
Izurückgereist, hatte sich hier einige Wo
Zchen aufgehalten und swar plötzlich —
Inicht mit der Post, sondern mit einer
fanderen Fahrgelegenheit —- deå Nachts
fvon Lhon in einer Verlleidung aufge
Ibrochem nach Paris geeilt, hier Mor
Tgens gegen elf Uhr angekommen, und
Tihatte in einem kleinen Gasthof-e Quar
jtier genommen. Um zwölf Uhr erschien
zbei ihm ein Agent der Polizei, der ihm
Feine Einladung zum Mittagsmahl bei
sSartines itberbrachte. Die Pariser
Polizei hatte sofort von seiner Ankunft
Nachricht erhalten und der Chef dersel
Jben erließ sdie ironische Einladung, um
kdem Lyoner Präsidenten zu zeigen, daß
’er seine Wette verloren habe. —
Stunde auf Stunde derrann, es be
gann zu dunkeln, ohne dasz Jemand
«kam, der den Abbe über sein Schicksal
Fund über die Gründe seiner Ver-haf
jtung aufklärte. Ein anderer unange
znehmer Gast aber fand sich ein, und
;«das war ein wüthender Hunger bei dem
’alten Herrn, der seit dem frühesten
Morgen nichts genossen hatte. Anfangs
thatten Schreck und Aufregung den
Hunger verdrängt; jetzt nach langstiin
digeni Fasten kam er aber um fo ener
gischer wieder, und der alte Herr wußte
nicht« was er beginnen sollte. Er wagte
nicht, Lärm zu schlagen, weil er jeden
Augenblick hoffte, Sartines oder einen
seiner Beamten eintreten zu sehen
Stunde auf Stunde verging indeß,
die Nacht war längst hereingebrochen,
ohne daß sich Jemand zeigte, oder auch
nur in der Nähe des Arbeitszimmers
hören ließ.
Der verzweifelte Abbe hielt es end
lich nicht mehr aus. Er sprang auf
und begann mit den Fäusten an der
Thiir des Arbeitszimmers zu trom-i
meln. Nach einiger Zeit näherten sich
Schritte und Jemand fragte, wer in
dem Zimmer sei. Der Abbe erklärte,
man habe ihn gefangen genommen Und
hier eingeschlossen, unsd die Stimme
draußen, die einesD"ieners, antwortete,
Herr Sartines sei nicht zu Hause, aber
seiner Gattin würde man Mittheilung
machen.
Nach einiger Zeit kam die Dame und
drückte ihr höchstes Erstaunen darüber
aus, daß sich ein Gefansgener in diesem
wichtigen Zimmer befinde. Der Abbe
llagte ihr seine Noth, und daß er fast
vor Hunger sterbe; Frau v. Sartines
erklärte ihm in«defz, sie könne ihm n"cht
helfen, da sie die Schlüssel zum Ar
beitszimmer nicht besitze. Sie bäte ihn,
sich zu gedulden, da gegen Mitternacht
ihr Gatte zurückkehre, der sich augen
blicklich aus eintrHoffestlichkeit befinde.
Sie fragte eindringlich den Abbe, wie
er in das Arbeitszimmer des Gatteni
gekommen sei, und schien sehr erstaunt
über vdie Auskunft, dsiie sie erhielt. (
Sie kehrte endlich nach ihrem Zimz
mer zurück und glaubte sich nach eini
gem Nachdenken verpflichtet, ihren
Gatten von der Hossestlichleit nach
Hause holen zu lassen. Es schien ihr
unglaublich, daß mit der Einwilligung
ihres Gemahls ein Fremder in diesem
Zimmer eingeschlossen worden sei, das
so hochwichtige Geheimnisse und Pa-;
pjere enthielt, in die nie ein unsberufH
nes Menschenauge einen Einblick thuw
durfte. . i
Frau d. Sartines besafz noch die
Vorsicht, das Zimmer durch Polizeibe
amte, die sie rufen ließ, bewachen zu
lassen.
Sartines, der auf der Hofsestlichkeit
Nachricht von den Vorgängen in sei
nem Hause erhielt, zeigte sich sehr er
schrockenund kehrte sofort nach Hause
zurück. Der arme Abbe Coquet, deri
darauf gewartet hatte, befreit zu wer-;
den und endlich seinen nagenden Linn-J
ger stillen zu können, sollte nun noch»
schlimmerm Dingen entgegens·ehen. !
Gegen Mitternacht öffnete sich die
Thür und an der Spitze einer Anzahl
Polizisten drangSartines in das Zim
mer ein.
»Was thun Sie hi-er?« fragte er den
Abbe sehr erregt. »Wie kommen Sie
in dieses Zimmer?—Bemächtigt Euch
dieses lljiannes,« rief er den Polizisten
zu, »und verhaftet ihn. Das ist ein
politisches Complott! Untersucht ihn
sofort, ob er Papiere gestohlen hat·«
Geübte Hände durchsuchten die Klei
der des Abbe, aber fanden nichts. Der
alte-Mann war sprachlos über die
neue Ueberraschung, die ihm hier zu
Theil wurde.
»Ganz gleich,« sasgte Sartinses,
»wenn er nichts gestohlen hat, dann hat
er sich Kenntniß Von Dokumenten ver
schafft, die nicht für ihn bestimmt wa
ren. Wir werden morgen weiter sehen,
was zu thun ist. Das Gewand des
Geistlichen, das der Verbrecher trägt,
ist wahrscheinlich auch gestohlen.
Bringt ihn in eine Zelle und bewacht
ihn« auf das Schärsfte. Jhr hafiet mir
mit Euren Köpfen dafür, daß der
Mann nicht entspringt. Wir werden
Mittel und Wege zu finden wissen, daß
er die Geheimnisse, die er hier erfuhr,
nicht verräth.«
Mehr todt wie lebendig wurde der
unglückliche Abbe nach einer Zelle ab
gefiihrt, wo er bald darauf in einen
ohnmachtiihnlichen Schlaf verfiel.
i 3.
: Es war ein· trauriger Morgen fiir
den alten Herrn, als er in seiner Zelle
wieder erwachte. Er glaubte eine Zeit
Ilang, daß er noch träume, und nur
Jallmälig ward ihm die Wirklichkeit
klar. Das Abenteuer, in »das er ber
wictelt worden war, schien ihm rath
selhafter werden zu wollen. Verhaftet
von einem Beamten und in das Ar
beitszimmer des Chefs der Sicherheits
Polizei geführt, hatte er hier geduldig
ausgeharrt, bis er vor Hunger nicht
mehr aushielt; dann hatte man ihn wie
einen Verbrecher behandelt, trotzdem er
doch keines wegs freiwillig in das Ar
beitszimmer hinein gegangen war. Aus
feine Vertheidigung hatte Niemand ge
.h«ort. er war auch viel zu bestürzt ge
swesen, um sich vertheidigen zu können.
Vergeblich grübelte der Abbe diesen
Geheimnissen nach. Er fühlte sich so
erschöpft vor Aufregung, Angst und
Hunger, daß er kaum richtig zu den
ken vermochte.
Plötzlich rasselten die Schlüssel in
der Zellen thür und herein trat Sar
tines selbst, nur gefolgt von dem Ge
fangenentvärter·
Der Abbe hatte sich bei feinem Ein
tritt erhoben und blickte jetzt erwar
tungsvoll seinen Besucher an.
»Wer sind Sie?« fragte Sartines«.
»Ich bin der Abbe Coquet ausLyom
Gestern hier in Paris angekommen,
wurde ich beilm Verlassen der Post
tutsche verhaftet.«
»Wie heiß-en Sie?« fragte nochmals
Sattines.
,,Abbe Coquet.«
»Und was sind Sie?«
,,Psarrer an der Kirche St. Nizier
in Lyon!«
Darauf brach Sartines in ein un
auslöfchliches Gelächter aus, und als
er sich einigermaßen erholt hatte, konn
te er nur noch die Worte hervor stoßen:
,,B«eruhigen Sie sich nur, es soll Jhnen
volle Genugthuung werden!«"
Dann lichte er auch-: Neue, daß ihm
die Thränen über die Wangen liefen
und verließ den unglücklichen Gefan
genen.
Waren die bisherige-n Vorfälle räth
selhaft gewesen,.so war das Verhalten
des Chefs der Pariser Sicherheits
Polizei gegen über dem Gefangenen
ein solches-, daß es in der That keine
Erklärung dafür gab, und daß der
Abbe sowohl für seinen, als fürIHrm
Sartines’ Verstand ernstlich zu fürch
ten begann.
Wenige Minuten später brachte ein
Diener dem Abbe ein Waschbecken und
ebenso Handtuch Seife und Kamrn
und forderte ihn auf, sich so gut es
ginge von dem Staub und Schmutz
ier elle zu reinigen. Dann bürstete
ier ihm sorgfältig den langen, geistli
lchen Rock ab und bat endlich den er
staunten Abbe, ihm zu folgen. ,
Wenige Minuten daraus stand der
sverbliisfte alte Herr im Speisezimmer
der Sartines’schen Wohnung und fand
sich gegenüber dem noch immer lachen
den Chef der Polizei und dessen Gat
tin.
»Gestatte,« sagte Sartines feiner
JGattim »daß ich Dir hier den Herrn
Abbe Coquet aus Lyon vorstelle. Der
iselbe ist bisher unfreiwillig unser Gast
igewefen und wird jetzt hoffentlich frei
stvilligunser Gast sein, da wir ihm Ge
Hnugthuung schuldig sind. Da ich aber
»dermuthe, daß der geistliche Herr einen
Iaußerordentlichen Hunger haben wird,
so wollen wir alle Aufklärungen ver
schieben und sofort zu Tische gehen.«
Mechanisch setzte sich Abbe Coquet
am Frühstückstifche nieder, schlürfte
etwas Bouillon, die ihn wieder belebte,
trank ein Blas Wein und aß dann
auch einige Stückchen Fleisch; der na
gen-de Hunger verschwand, und die Lie
benswiirdigkeit der Wirthin und die
Aufmerksamkeit des Hausherrn, der
den Gast selbst bediente, ließen ihn wie
der Muth schöpfen und die erlittene
Aufregung baldigst vergessen.
Der gefürchtete Polizeichef fiillte
noch einmal dieGläser und sagte so
dann: »Mein hochwiirdiger Herr Ab
be, Sie haben das Recht, Aufklärung
zu fordern. Sie sollen Sie haben.
Sie sollen dar-aus ersehen, daß auch
die Pariser Polizei keineswegs vor ar
gen Mißgriffen gesichert ist. Es wur
de mir Vorgestetn in später Abend
stunde die Mittheilung gemacht, daß
in nächster Zeit ein Pamphlet voller
Beleidigungen, Bosheiten und Ver
dächtigungen gegen den Kaiser, seine
Familie und die ganze Hofgesellschaft
erscheinen würde. Dieses Pamphlet
sollte unter großen Vorsichtsmaßre
geln geheim oerbreitet werden, und es
mußte mir außerordentlich viel daran
liegen, in den Besitz eines Exemplars
desselben zu gelangen, um Mittel zur
Befolgung der Schuldigen zu erhal
ten. Man hatte mir mitgetheilt, dasz
das Paniphlet den TiteL«L’Abbe Co
quet« —- der gefallsiichtige Abbe —
führen werde. Jch berief einen inei
ner tüchtigsten Beamten, der sich in
diesem Falle allerdings leider nicht be
währt hat, und dessen Bericht wir jetzt
selbst hören werden«
Der Hausherr tlingelte und befahl
dem eintretenden Diener, den Agenten
eintreten zu lassen. Der Agnt, dr
der Abbe verhaftet hatte, erschien mit
verlegenem Gesicht und der Chef befahl
ihm: »Erzählen Sie, welch-en Auftrag