Nebraska Staats-Anzeiger. (Lincoln, Nebraska) 1880-1901, October 18, 1900, Image 13

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    i
I
Die Zollmaschine.
Q.nt hilmlos kU'iniäi,!ch,' ch Jjtt VZI!
lmit Webki.
Ter friedlichste Bünet der Stadt
war der Tischlermeister Schmidt. Still
unk, zufrieden verbrachte er bei seiner
Arbeit einen Tag wie den andern. Da
er schüchterner, sehr schüchterner Natur
war, hielt er sich am liebsten in seinen
vier Wänden auf. Nun. wenn die
Liebe emeS holden Weibchens....
Bitte sehr: Meister Schmidt war unbe
weiht, obgleich er Meister war und be
reitS im Begriff stand, in diZ fünfte
Jahrzehnt seines löblichen vedenZ hin
einzuschreiten. Mit dreißig Jahren
hatte er den festen Entschluß gefaßt.
nicht zu heirathen. Von jeher hatte er
das andere Ge chlecht gemieden, seine
Schüchternheit machte eZ ihm in feiner
Gesellschaft höchst ungemüthlich, und
da er in jeder Hinsicht äußerst genügsam
war, so glaubte er, da? Weid auch ent.
Kehren zu können.
AlS die Mutter unseres braven Tisch.
lerS starb und dadurch fein HauS der
für Ordnung und Gemüthlichkeit for
genden weiblichen Hand beraubt wurde.
. ivnnie er naz niazi eniianiepen, eme
Haushälterin inS HauZ zu nehmen.
Dann könne er ja lieber gleich hei-
rathen!
In den zehn Jahren, in denen unser
Meister den Weg vom dreißigsten bis
zum vierzigsten Jahre zurücklegte, wuchs
in demselben Hause, wo er Wohnung
und Werkstatt hatte, ein kleine? Mäd.
chen heran. daS auf den schönen Namen
Lottchen hörte. AIS sie kaum 16 Jahre
alt war, starb ihre Mutter, und das
Mädchen mußte nun sein Brot als
Näherin verdienen. Da sie geschickt und
fleißig war, hatte sie bald Kundschaft
genug, so daß sie Tag für Tag sie
nähte im Hause der Herrschaften
MorgenS ging und Abends wiederkam.
So bekam Meister Schmidt sie, obgleich
sie in seinem Hause wohnte, nur selten
und dann nur flüchtig zu sehen. Den
noch war sie immerhin dasselbe weibliche
Wesen, dem er am häufigsten begegnete.
' abgesehen von der dicken Frau Wirthin,
bei der er zu Mittag speiste. Trafen
sie sich, so tauschten sie ein Guten,
Morgen". War das Wetter besonder
schön, so sagte sie vielleicht noch: Schö
neS Wetter, nicht wahr, Meister?" und
er brummte: Ja." War eS schlechte
Wetter, so sagte er vielleicht: Schlech
tes Wetter heute!" und sie sagte: Ja."
DaS war dann aber auch ihre längste
Unterhaltung. Daß sich Lottchen mit
ihren achtzehn Jahren im Uebrigen
ebenso wenig um den trockenen Jung'
gesellen kümmerte, wie er sich um sie,
ist leicht zu verstehen.
Meister Schmidt war daher auch sehr
erstaunt, als eines TageS. frisch und
schön wie der erwachende Frühling,
Fräulein Lottchen in seine staubige
Werkstatt trat.
Guten Tag, Meister," sagte sie.
Guten Tag," brummte er.
Meister," fuhr sie fort, könnten
Sie mir nicht auch so eine Zollmaschine
machen?"
Ja," sagte er, das kann ich. Das
heißt, eigentlich ist das ja nicht aller
Tischler Arbeit...."
Aber nicht wahr," siel ihm Lottchen
ins Wort, Sie thun's mir zu Liebe."
Ja," sagte er.
Da aber übersiel ihn plößlich wieder
seine alte Schüchternheit in ihrer ganzen
Gewalt. Er hatte nämlich bemerkt,
daß daS kleine Lottchen ja beinahe schon
ein ordentliches Weib" geworden war.
Eine Schönheit war sie wohl gerade
nicht, aber aber ja. da fiel ihm ein:
In den Jahren sind sie mit am ge
fährlichsten," hatte ihm einmal ein
guter Freund gesagt, und er hatte sich
daS wohl gemerkt.
Aber er sagte Ja" und Lottchen
ging grüßend, wie sie gekommen.
Mir zu Liebe!" hatte sie gesagt. Er
sollte eS ihr zu Liebe thun! Als wenn
er mit ihr eine Ausnahm: machen
sollte !
Aber gewiß, machen wollte er die
Zollmaschine. So weit ging sein Wei
berhaß nun denn doch nicht, daß er
keine Aufträge von Weibern an
nähme. Also ging er daran, die Zollmaschine
herzustellen. Er hatte schon eine ge
macht, für die Frau Lcutnant näm
lich.
ES war ein kleiner praktischer Ap-
parat zur Herstellung zierlicher gältchen
an Kleidern, Schürzen und dergleichen;
auf einen Zoll kam eine Falte, daher
Zollmaschine. -
Meister Schmidt war ein gewissen
hafter Ardeiter. WaS er ablieferte,
war immer gut. Bei der Zollmaschine
für Fräulein Lottchen aber gab er sich
er wußte selbst nicht warum ganz
besondere Mühe.
Er nahm dazu daS beste Material
und arbeitete Stück für Stück mit der
allergrößten Sorgfalt und Peinlichkeit.
Und während er daran arbeitete,
stand ihm immer das Lottchm vor
Augen. Und immer hörte er ihre
Worte in feinen Ohren klingen: Mn
zu Liebe!"
Ihm war dabei ganz merkwürdig zu
Muthe. Sein Weiberhaß. in den er
sich im Laufe der Zeit hineingeredet,
schmolz dahin. Es kamen ihm allerlei
Gedanken. . . .
Mit einem Male fand er es ,n seiner
Werkstatt furchtbar öde; auch das Essen
in der Speisewirthschaft kam ihm plötz
lich außerordentlich ungemüthlich vor.
AIS er an einem der nächsten Tage
Lottchen McrgenZ herunterkommen
Jahrgang 21.
hörte, schaute er ihr .ich. Zufällig
drehte sie sich herum und als sie ihn am
Fenster sah. rief sie:
Morgen Meister! Was macht die
Zollmaschine? Kann ich sie mir heute
Abend holen?"
Gewiß. Fräulein Lottchen." sagte
er merkwürdig freundlich, kommen
Sie nur!"
Aber duz. da lag ihm die Schüch
ternheit auch schon wieder in der Kehle.
Mehr hätte er auf keinen Fall heraus
bringen können.
Er ging an die Arbeit, nahm so
gleich die Zollmaschine vor. obgleich s
eigentlich schon fertig war.
Am Abend kam Lottchen in die Werk
statt. Ist die Zollmaschine fertig. Mei
ster?"
Der Meister reichte sie ihr. Lottchen
fand sie wunderschön, viel besser, als
die der Frau Leutnant. Meister
Schmidt fühlte sein Herz klopfen. Sa
gen konnte er nichts. ,
Endlich fragte Lottchen: Wie viel
machts denn. Meister?"
Ach. das. das macht gar nichts."
Wie?"
Na. das lassen Sie man erstmal.
Lottchen."
Aber. Meister. Sie denken doch
nicht, ich will sie umsonst haben?"
Nein ja ganz recht. Aber
lassen Sie man erftmal. Ich kann
Ihnen ja die Rechnung schicken."
Na. wie Sie wollen." lachte Lott
chen und schaute den ihr heute merkwür
big vorkommenden Meister verwundert
an. Dann wünschte sie Guten Abend"
und ging.
Der Meister athmete auf. Geld sollte
er von ihr dafür nehmen? Nein, das
konnte er nicht. Aber sagen hatte er's
auch nicht können! Und was sollte er
ihr denn sagen? Es war nur gut. daß
er ihr noch nichts gesagt hatte. Um
Gottes Willen, nichts übereilen.
Sorgfältig überlegte er sichs an dem
nächsten Tage noch einmal. Aber er
konnte nicht loskommen" von dem Ge
danken, daß es ganz angenehm sein
müsse, allen seinen Grundsätzen ent
gegen das kleine Lottchen zu seinem
kleinen Weibe zu machen.
Doch wie sollte er sie von seinen
reellen Absichten in Kenntniß setzen?
Sollte er sie eines Abends in ihrer
Wohnung aufsuchen? Nein, nein. Das
ging nicht!
Dazu hatte er nicht den Muth, sollte
er warten, bis er ihr zufällig begegnete?
Das war auch nichts. Denn er wußte,
welche Wirkung ein plötzliches Erschei
nen auf ihn ausübte. Ein Redner war
er nun einmal nicht.
Aber schreiben: ja, freilich, schrei-
ben konnte er es ihr. Schreiben ließ
sich alles viel besser! Also setzte er sich
nieder und schrieb ihr einen schönen,
ruhigen, bescheidenen Brief
Im Allgemeinen sehen iunge Mäd
chen einen Heirathsantrag ganz gern.
Aber so ein ganz klein wenig müssen
sie ihn doch wenigstens erwartet haben.
Sonst sind sie einfach baff".
So ging es Lottchen.
Sie wußte, wie man so sagt, gar
nicht, was sie sagen sollte. Das hatte
sie ihm nicht zugetraut! Daran hatte sie
auch nicht im Geringsten gedacht! Er
machte ihr einen Antrag! Die lumpige
Zollmaschine sollte sie mit ihrer Liebe
und Freiheit bezahlen!
O!! Nem. das hatte sie gottlob noch
nicht nöthig, solch einen Alten. Lang
weiligen. Vertrockneten sie fand
dieser Ausdrücke ein Dutzend zu
nehmen!
Der Fall, daß von gern gesehener
Seite ganz unerwartet, unverhofft ein
Antrag kommt, ist vollkommen ausge
schlössen. Dennoch wird der unerwar
tet hervortretende Freier durchaus nicht
in allen Fällen abgewiesen: Einer ist
immer noch besser als Keiner.
Ader dies einzusehen, dazu gehört
schon ein wenig Verstand, und der ist
bekanntlich bei jungem Blute nicht zu
finden.
Hatte Lottchens Mutter noch gelebt,
so wäre sie höchst wahrscheinlich dal
digst Frau Tischlermeister Schmidt ge
Wesen. Nun aber bekam der brave
Tischlermeister einen regelrechten Korb.
Lottchen ging zu ihm hinunter und
erklirrte ihm sehr energisch, mit solchen
Sachen möge er sie in Ruhe lassen.
Außerdem erwarte sie die Rechnung.
Der brave Meister glich einer gcknick
ten Lilie, soweit der Vergleich einer
Lilie überhaupt angängig ist.
Nach einer Stunde dumpfen Vorsich
brüten? erhob er plötzlich energisch sein
Haupt und seinem Munde entquoll das
Wort:
Esel!"
Hatte sein Verstand denn geschlafen?
Seinen alten Grundsätzen hatte er
untreu werden wollen? In feinen al
ten Tagen hatte er sich unglücklich ma
chen wollen.
j g -
niimsTiKiisrli
sdS V VjyWHl'
Beilage zum Nebraska Ztaats-An;eiger.
Noch einmal schüttelte er fein würdi
aes Haupt und sagte:
Esel!"
Am anderen Tage erhielt Lottchen die
Rechnung:
Eine Zollmaschine .... Mark G. "
Kaum hatte sie sie gelesen, da stürzte
sie hinunter: Ob er sich verschrieben hatte
oder ob er verrückt geworden wäre?
Meister Schmidt wurde dunkelroth.
Einige Male bewegten sich seine Lippen,
ohne einen Laut hervorzubringen.
Dann erklärte er ihr: Sie möge
bedenken, in wessen Wohnung ne wäre.
Mit der Rechnung aber hätte es seine,
Richtigkeit.
So." schrie Lottchen, das werden
wir feher.! Frau Leutnant hat nur 3
Mark bezahlt und ich soll das Dop
pelte geben i Die 6 Mark bezahle ich
Ihnen nicht, und wenn Sie n?ich ver
klagen !"
Gewaltig schlug sie die Thür hinter
sich zu. Die hatte er zu seiner Frau
machen wollen! heiliger Himmel! Sie
dünkte ihn jetzt das hassenswürdigfte
Geschöpf auf der Erde. v
Unser Meister war nicht der Mann,
andern Leuten etwas zu schenken. So
kam's, daß er eines Tages mit Jräu
lein Lottchen zusammen vor Gericht
stand.
Beide hatten einen Sachverstansigen
mitgebracht.
Der Sachverständige des Meisters
legte überzeugend dar. daß die in Frage
stehende Zollmaschine mir besonderer
Sorgfalt und aus ganz besonders gu
tem Material gearbeitet und daher ivohl
ihre 6 Mark werth märe.
Sagen Sie uns nur. Fräulein."
wandte sich der Vorsigende an Lottchen.
was veranlaßte Sie denn eigentlich,
nicht bezahlen zu wollen?"
Da legte Lottchen los. Nichts wollte
sie jetzt verschweigen, und zum großen
Ergötzen des hohen Gerichtshofes er
zählte sie nun die Geschichte, wie sie war.
iia- dort nicdt dlerüer!" riet
Meister Schmidt mit einer Stimme,
in der sich deutlich Empörung und
Schüchternheit miteinander stritten.
..Das aebört nickt bierber "
Aber der Vorsitzende erklärte, auch
das müßte man wissen.
Wüthend ging Meister Schmidt nach
Haus. Das sollte ihm wieder einfallen,
sick mit dem weiblicken Geickleckt eimu
lassen! Die Blamage! Aber in dem ihm
entgegenweüenden kalten Winde schwand
sein Zorn allmählich, und er fand Trost
in der einen Tbatsacke: Sie mußte be-
zahlen! Denn er hatte natürlich Recht
bekommen.
In den nächsten Tagen war Lotschen
i'e&r aeickästia.
Der Meister bemerkte, daß sie nicht
zum Nähen ausgegangen war. Denn
sie lief aus und ein. Das machte
ihn unruhig. Hatte sie etwas gegen
ihn vor?
Gern hätte er es ausgekundschaftet;
denn er war ebenso neugierig, wie miß
trauisch. Aber er wagte sich gar nicht
binaus. Das Essen ließ er sieb soaar
ins Haus bringen. Denn daß die Leute
die Gkichiqte riesig amusirte, konnte er
aus den Gesichtern lesen.
Lottchen lief indeß von Haus zu
Haus.
Sie hatte einen Weg gefunden, auf
dem sie erstens der Aufforderung des
Gerichts zu baldiger Zahlung nachkam,
zweitens sich keinen Pfennig Kosten be
reitete. und drittens dem Meister doch
noch den letzten Stich versetzte. Lottchen
war gar nicht so dumm!
Am dritten Tage trat ein Bote in
Meister Schmidts Werkstatt und über
reichte ihm mit unverschämt vergnügtem
Gesichte ein pralles Beutelchen nicht ge
ringen Gewichts. ,
Was ist daS?" schrie Meister Schmidt
auf. denn eine Ahnung zog ihm durchs
Gehirn.
Die Ihnen vom Gericht zuerkannte
Summe für "
Weiter kam er nicht. Meister
Schmidt hatte den Beutel zur Erde
fallen lassen. An allen Gliedern nt
terte er.
Der Bote bat um seine den Empfang
bestätigende Unterschrift und überreichte
ihm den ihm zukommenden Abicknitt
mit der Adresse deS Absenders.
Mit Müde entzifferte er auf der Rück
seite desselben:
Da ich nicht so viel Geld besitze, um
t v : . im a .f. . r.'. t
.iunen Die ineuere .sonrna CDine 1U De
zahlen, so habe ich es mir in der Stadt
Mammengevettelt. ..."
Der Bote wünschte Guten Abend"
und war schon bei der Tbüre anae-
langt, als Meister Schmidt plötzlich
wie aus einem Traum erwachend mit
heiserer Stimme schrie:
Bleiben Sie hier, ich will nackliäb
len!"
Er öffnete mit zitternden bänden den
Beutel und zählte lange Reihen her
stellend, nach: 000 einzelne Kupfer
pfennige gleich C Mark. Es stimmte
auffallend.
Schmidt soll niemals wieder einen
Heirathsantrag gemacht haben und
seinen Grundsätzen getreu! al? alter
Zunggeselle gestorben sein.
Das letzte Glück.
Etienne Rsussel lief feit vier Mona
ten stellungslos in Paris umher. Sein
letzter Patron, ein Rechtsanwalt, flott
lebend, unverheirathet und in steter
Sorge um ein Tausendfrancsbillet,
war in der Wahl seiner Mittel nie sehr
skrupulös gewesen. AlZ eines Morgens
Etienm in die Kanzlei kam, die neben
der Garonnire des Advokaten lag.
fand die er Esncierfrau in aufgeregter
Unterhaltung mit einigen Polizeibeam
ten. Man hatte vor einer Stunde den
Rechtsanwalt erschossen in seinemSchlaf
Zimmer gefunden. Seit jenem Tage
war Etienne stellungslos. Anfangs
ging er regelmäßig auS feinem kleinen
Hotel in der Rue Montorgueil fort,
um sich in den Kanzleien vorzustellen,
aber regelmüßig wurde er abgewiesen.
Dann stumpfte ihn der stete Mißerfolg
ab. Er verließ nur noch manchmal
Nachmittags fein Zimmer, um in die
Museen zu gehen, oder er hielt sich in
den großen Modemaaren Magazinen,
im Louvre oder im Bon MarchS auf,
wo er in den Lesesälen stundenlang die
Zeitungen studirte.
Heute halte er für einen Franken in
einem Restaurant ..Prix fixe" dejeunirt.
Jedoch ein langer Spaziergang im Bois
hatte ihn wieder hungrig und müde ge
macht, und als er heimkehrte, kaufte er
sich für seine letzten fünf Sous ein
Brot. Sorgfältig knöpfte er es unter
lein Jaquet und stieg die fünf treppen
zu feinem Zimmer empor. Nachdem er
die Hälfte des langen, schmalen Weig
brotes verzehrt hatte, legte er sich zu
Bett und schlief ein. Als er am
anderen Morgen erwachte, verzehrte er
den Brotrest und blieb im Bett liegen.
Er fühlte keinen Hunger mehr und er
(reute sich darüber so, daß er vergnügt
einige Melodien vor sich hinsummte.
Dann überkam ihn eine vollkommene
Apathie. Mit auseinandergespreizten
Armen und Beinen lag er im Bett da,
vollkommen horizontal, das Auge in
gedankenloser Starre zur Decke gerich
tet. Um 11 Uhr erhob er sich. Ohne
sich zu waschen, kleidete er sich an. Um
den unsauberen Kragen zu verdecken,
schlang er ein altes seidenes Tuch um
den Hals. Er verließ das Zimmer und
schlenderte an den Hallen vorbei die
Rue Montmartre hinab. An der Rue
Röaumur gewahrte er die Baracke der
Soupe populaire. Hunderte von Elen
den, jedes Alter, jedes Geschlecht war
vertreten, warteten auf die Vertheilung
der Mahlzeit. Einen Augenblick hielt
Etienne an. -ollte er sich auch anfiel
len? Unschlüssig sab er sich um. aus
Furcht, von einem Bekannten bemerkt
zu werden, dann schritt er über den
Fahrdamm, um sich hinter der warten
den Menge zu verbergen. Aber drüben
angekommen, bog er ab. es konnte doch
zufällig Jemand, der ihn kennt, vor
vergehen.
Er stieg weiter die Rue Montmartre
hinauf; 'auf den großen Boulevards
angekommen, blieb er stehen.
Die Strahlen der Märzsonne ver-
wandelten die Fenfterreihen der gegen
überliegenden Häuserfront in unzählige
goldblinkende, glitzernde Platten, deren
lebhafte Reflexe dem Auge weh thaten.
Es war kurz nach der Faschingswoche
und von den Bäumen herab, aus denen
schüchtern die ersten grünen Sprossen
hervorsahen, hinge in bunter Mär
chenpracht die langen farbigen Bänder
der hinaufgeschleuderten Serpentinen.
Die Boulevards wimmelten von Fuß
gängern und Fuhrwerken. Etienne
wollte die Straße überschreiten, als er
in der Ferne einen eleganten Dog-cart,
von einer Dame gelenkt, herannahen
sah. Blitzschnell durchfuhr ihn eine
Idee. Er wollte wie unabsichtlich kurz
vor dem leichten Wagen hinfallen. Das
Geführt würde ihm über die Beine
gehen, sehr schmerzhaft oder gar geführ
lich konnte das bei dem leichten Ding
nicht fein. Man würde ihn aufheben
und in ein Krankenhaus bringen. Dort
wäre er der ersten Sorge überhoben.
Der Dog-cart nahte heran. Etienne
schickte sich an, den Fahrdamm zu Über
schreiten. Plötzlich sah er dicht neben
sich einen Fiaker auftauchen, dessen
Kutscher ihn anschrie. Erschreckt sprang
er auf das Trottoir zurück, und als er
wieder aufblickte, war der Dog-cart
schon weit weg. Gleichgiltig schlenderte
er weiter, als sich plötzlich der Hunger
wieder einstellte, fürchterlicher als "je
vorher. lir malte ihm m den Einqe
weiden, er schnürte ihm den Magen zu-
lammen, umsonst zog er die Holen
schnalle fester zusammen, umsonst drückte
er die Hände in die Hosentaschen, um
sie unbemerkt gegen den Leib drücken zu
S!o. 22.
können. Er wurde diese? zerrende,
reißende Gefühl nicht los. Einen Au
gendlick blieb er sieben, dann drehte er
sich um und stürmte zurück, der Volts
küche zu. Und wenn alle B.'kaninen
der Welt ihm zusehen würden, er mußte
enen. Ermattet kam er bei der Küche
an. Sie war geschlossen, die Verthei
lung war schon vorüber. Verzweifelt
lehnte er sich an die Mauer. Ein
Strom von Thränen floß ihm über das
ungewaschene Gesicht. Um nicht de
merkt zu werden, wandle er sich der
Mauer zu. und scheinbar die Affichen
lesend, wischte er sich die Thränen ad.
Tann begann er zu laufen. Ziellos,
zwecklos, seiner Sinne nicht mächtig,
rannte er ohne bestimmte Richtung wei
ter. Als er auf die Rue Rivoli hin
austrar. erblickte er gegenüber das
große Schild einer Filiale d?s Credit
Lvonnais.
Ein wahnsinniger Gedanke durchzuckte
ihn.
Wenn er dort hineinging, dem ersten
Boten, der an der Kasse Geld in Em
pfang nahm oder ablieferte, ein paar
Scheine entriß und davonlief?
Ter Gedanke gefiel ihm. Aber, halt!
Das mußte überlegt sein. Er kon
struirte sich einen regelrechten Flucht
plan; denn man würde ihn sofort ver
folgen, das war sicher. Er könnte durch
die Anlagen um den St. Jaaues
Thurm herum nach der Rue St. War
tin hinüderfliehen. Dann das Seine
ufer entlang in die Notre Tame hinein.
Die Kirche würde er in aller Ruhe
durchschreiten, durch ein Nebenportal
verladen, einen geschlosienen Fiaker de
steigen und nach der Porte Maillot
fahren. Entschlossen. Alles zu wagen,
schritt er dem Bankgeschäft zu. denen
Thüren weit offen standen. Er wollte
gerade hineingehen, als ein Herr, der
die Bank verließ, ihn anstieß. Aerger
lich drehte sich Etienne um und be
merkte, wie unter dem Rock des An
deren ein Cigarrenetui auf das Pflaster
hinabglitt, während dessen Besitzer sich
ohne Entschuldigung entfern:. Etienne
hob vas Etui auf und trat in einen
Hausflur hinein, wo er es öffnete. Die
eine Seite war vollgestopft mit Cigaret
ten. Gedankenlos steckte er sich eine in
den Mund und trat hinaus, um einen
der Vorübergehenden um Feuer zu bit
ten. Plötzlich fiel ihm ein, daß ihn die
Cigarette bei der Ausführung seines
Planes hindern könnte, und schnell trat
er in das Haus zurück, um die Cigarette
in das Etui zu stecken. Es gelang ihm
nicht sofort, sie hineinzuschieben, und
ungeduldig fuhr er mit der Hand in
das Etui, um es zu blähen, als er mit
der Spitze mnes Fingers Papier fühlte.
Neugierig zog er es hervor es waren
zwei zusammengefaltete Hundertfrancs
noten.
Starr vor freudiger Ueberraschung
stand er da. dann die linke Faust, die
die Scheine krampfhaft umschloß, in die
Hosentasche versenkend, stürmte er hin-
aus. seiner Wohnung zu.
In wahnsinniger Eile rannte er die
Straßen entlang, wand er sich durch
oas Gewimmel der Wagen hindurch.
Da, plötzlich ein furchtbarer Schrei,
Die Deichsel eines herannahenden Om
nibus hatte ihn erfaßt, zu Boden ae-
schleudert und im nächsten Moment
gingen die Rader. gedrückt von der
schwere des bis aus den letzten Platz
gefüllten Wagens. Über den Leib des
Unglücklichen hinweg. Ein Polizei
beamter stürzte herbei, das Publikum
staute sich und umgab einen engen
Kreis bildend, wie eine lebende Mauer
das Opfer, das eine unkenntliche Masse,
besinnungslos dalag. Nur einige
Zuckungen der blutigen, zerquetschten
Brust verriethen, daß noch Leben in dem
zertrümmerten Körper wohnte.
Man nahm ihn auf, legte ihn in
einen Wagen und brachte ihn in ein
Krankenhaus. Als man ihn aus dem
Wagen heraushob, war er todt.
Die Hand des linken Armes war noch
in der Hosentasche vergraben. Nach
dem man sie hervorgezogen hatte, fand
man eingeschlossen zwischen den kalten,
starren Fingern zwei Hundert
francsscheine. De ni Gemtendevörstther.
De Gemeendevörsteber Klebn hnr
twee Amtstieden achter sick. He wull
nich mehr, besonrers wiel Dirk Peters
em ummer Steen twitcken dp SW
smeet. Dirk Meer so dumm as Grütt.
kunn awer so klok snaken as dar K,
Weisheit mit Lopeln eten. Un merk
würdi genog. de Dörvslüd wußten, dat
he en Schapskovv weer. un dock aem,
fe wat op sien Gekwassel. Manche ae-
meennützlge Sak. de allerdings eenige
Opfer kosten de. keem nicht to Stande,
wiel Dörk de Lüd op sien Sied to krie
gen wußt.
Dat keem also in uns Dort) to Nie-
Wahl. Dirk war wablt aeaen rn
Stimm, sien natürlich. Dat keem so:
Dnk bar nen foünd'n ebr Stimm
sicher, un sien fytzr.tt traisn ent ut
Siaberr.es; d?in Dir? kunn so tbtn
für. Saren schrieben un fireben Scfcnft
nich gud lesen. Na. ss Ut Wuh im
bekannt makt war. So oeriebr Dirk sick
nich wenig.
.Na, kZinners. dat zeiht nich. mien
armen -tewel. dat kann nich anzahn;
ick kann de Geschäfte nich hewen. 20a
kann ick Gcmeendevorfteher sien. ick ick
ick hem wirklich keen Zid."
Ja. dat seggt garnicks. Dirk PeterZ.
wie annern möt of annehmen, wenn mi
wäült ward'n.
Na, kort unn gus to vertelln. Dirk
war graiulirt. mußt düchtig wat utge
wen un ver'prok schließlich, dat he düt
Wohl von de Gemeen nah alle Kanten
tru wahren wull.
Wa:! Dirk. Du kommst nur erst?
Wo kommst Tu ko spat her? Un an'cha
ten bist Tu ok. schient mi."
..Ja. Moder, sühn Tu mi nick?
an V'
JU, Du heft noch d.:t fülwize
dumme Gesichr as sonst, blois en beten
rother."
Denk Ti. Moder, wie sind hüt fte
gen. Ick bin wählt as Gemeendevör
stand, eenstimmig wablt. Wat segzft
Tu darto?"
Du bist noch besappner as ick dacht.
Gab hin un slav."
Dirk wull en wiedere Unnerhollung
vermeöen. denn sien Fru weer schänd
lich anzüglich un em wiet öwerlegen.
He slep ut un weer am annern Mor
gen gar nich so fröhlich to sien Arf
schöpf ,
Moder, matt fchall ick anfanz'n?
Segg mi doch, wat schall ich arm Mensch
maken?"
Tat weet ick nich. Lat Heine vor
Di de Schriewerien maken. He iS nu
all twölf Jahr, geit jeden Tag to School
un möt dat doch könn'n. wovör gewt wi
sonst dat vele Schoolgeld ut."
Ja. so möt wi dat all maken, sonst
weet ick nich wat ward'n schall."
Heine war herin ropen, kreeg Feder,
Tinte un Papier un mußt hinschrie
wen, wat sien Vader em vörsad. He
schrew:
Lider Landrad!
Ich thu ihnen hiermit freundliche?
ivißen, daß ich Gestern zum Gemeinde
verstand gewühlt wurden bin. Da ich
mit das Schreiben nicht gut bemannert
bin, weil ich in meinen Jungensjahren
das Vieh hüten gemußt habe, so mach:
sie sreundlichs den Vorschlag, ob mein
Sohn das Schreiben besorgen kann,
wenn ich es ihm dicketire. Mein Sohn
hat diesen Brief nach vorsagen hinge
fchriewen.
Grüßend bitt um Antwort
Dirk Peters.
De Antwurd keem bald, awer nich an
Dirk, ne. an de ole Gemeendevörfteher
mit de Befched, he schul von nien de
Wahl vörnehmen. wenn sick dat so ver
holen de, dat de Hufner Dirk Peters
nich fchriewen kunn.
Fürst Btsmarck über Beredtsamkeit.
Wir lesen in den Hamb. Nachr.":
Uns gegenüber hat sich Fürst Bismarck
über den Werth 'der Beredtsamkeit fol
gendermaßen ausgesprochen:
Große Redner, die dazu befähigt
sind, Eindruck zu machen, brauchen so
wenig wie große Dichter politische Be
gabung zu besitzen. Der Redner be
darf vor allen Dingen de Schwunges.
Er darf nicht von Aengstlichkeit oder
Scheu betreffs dessen, was er sagt, und
der Richtigkeit seiner Darstellung er
füllt sein, er muß die Sprache in allen
ihren Ausdrucksmitteln beherrschen.
Eine solche wirksame Beredtsamkeit ist
zwar bei einem Staatsmanne eine er
wünschte Zugabe und namentlich im
Parlamente unentbehrlich, aber für die
Angehörigen eines Staates ist es nütz
licher. wenn sie von Schweigern wie
Moltke. als von Rednern" regiert
werden. Die Beredtsamkeit ist nicht das
Maßgebende bei der Sache und es
kommt bei dem Regieren nicht darauf
an. ob der Kutscher des Staatswagens
elegant fährt, sondern vor allen Dingen
darauf, daß er genau die Wege kennt,
die dem Ziele zuführen, das erreicht
werden soll."
Napoleon auf Kreta.
Man schreibt aus Athen: Die auf
der befreiten Insel des Minos jetzt eifrig
sich regende Geschichtsforschung hat fest
gestellt, daß Kreta Anfang Juni 1793.
den Besuch Napoleons auf dessen Fahrt
nach Egypten erhalten hat. Der fran
zösische Feldherr wurde damals von der
Menge, die in ihm den Messias der
Freiheit erblickte, mit Begeisterung be
grüßt. Die ihrer Schießkunst wegen
stets berühmt gewesenen Sphakier leg-
ten auch vor ihm Proben ihrer Fertig
keit nach einem von Napoleon selbst
aufgestellten Ziele ab. Er war von
ihren Leistungen so entzückt, daß er die
Tüchtigsten unter ihnen aufforderte, mit
ihm nach Egypten zu gehen. Ein Korps
von 30 Mann schloß sich ihm an und
begleitete ihn nach Egypten. Von den
Schicksalen dieser schießkundiaen Schaar
hat man nichts vernommen. In Mar
feille ist 1839 ein Sphakier als Fechtleh
rer gestorben.
Derplppert.
Richter: Angeklagter, der sicherste
Beweis für den DieSstahl ist der. daß
man den Schlüsse! zum Kellerschloß bei
Ihnen fand."
Angeklagter: Reiner Zufall das.
Herr Richter. Ich öffne jedes Keller
schloß mit einem einfachen Nagel."