Nebraska Staats-Anzeiger. (Lincoln, Nebraska) 1880-1901, April 19, 1894, Image 9

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    Auf ungewöhnlichem lveze.
Bon Wo ritz Lilie.
Die fit Etage eine eleganten Hau.
sei tm Westen Berlin! bewohnt mit ih,
w Tochter und Dienerschaft Frau Ro
thenberg, die eiche Willwe eine der
kildkiijtudsten Großindustrie". der
Reichihauxtstadt. Bor Kurzem hatte sich
die Dame eine eigene Villa tn der Rest,
denz gekauft und Infolge dessen ihre vi
herige Wohnung gekündigt, letztere aar
aber sofort wieder vermuthet worden und
zwar an Herrn Silberstein, einen der be
kanntest en Berliner Bankier.
Wenige Wochen vor dem bevorstehen
den Umzüge saßen eines Vormittag Frau
Rolhenberg mit ihrer Tochter Ella beim
Frühstück, als draußen die elektrische
Vorsaalglocke ertönte. Leise trat der
Diener ein und meldete einen Herrn und
ine Dame, welche die Frau de Hause
zu sprechen wünschten.
.Führ si tn den Salon ntschied
die Wittwe, indem sie die Serviette au
der Hand legte und sich erhob. Dann
warf si rasch noch einen Blick in den
Spiegel, zupfte hier und da ein Band,
eine Spitze zurecht und verließ da Zim
mer, um die Fremden zu empfangen.
E war ein Mann von etwa sünfund
dreißig Jahren, einfach aber sauber ge
kleidet. Beim Eintritt der Dame machte
er eine Verbeugung wie ein zuklappende
Taschenmesser und der Hut in seinen Hirn
den drehte sich gleich einem in Gange be
findlichen Carrouffel; um die Lippen aber
spielte jene verlegene Lächeln, da sich
in Gegenwart von Frauen häufig bei de
nen einstellt, welche bisher wenig Umgang
mit Damen halten.
Desto unbefangener erschien feine Be
gleiterin. eine auffallend starke Person,
die den Wendepunkt de Schmabenalter
offenbar langst hinter sich hatte. Sie
trug sich riesig aufgedonnert, in den Oh
rea blitzten Simili-Brillanten und auf
der dicken Halskette mit Medaillon, dem
schweren UhrgehZnge und den breiten
Armbändern hätte ein geübte Auge den
Stempel: Schweich Gebrüder", den
bekannten Herstellern der Talmi'Schmuck
fachen, entdecken können. Beim Eintre
ten der Frau Rothenberg machte sie inen
Knix, so tief 3 ihr Corpulinz zuließ,
die freilich diese Art der Begrüßung für
tie dicke Dame zu einer sehr schmierigen
Procedur gestaltete.
Um Berjebung, jnSdige Frau be
gann die Dicke im unverfälschten Dialekte
Gpreeathen, ick und der Herr hier find
Besitzer einer Möbelhalle, wissen Sie,
von nur jut feine Sachen, denn mit so'n
Schundzeug jeden wir uns nicht ab.
Jestern nun, war der Herr Bankier Eil,
bn stein bei un in' Geschäft, um sich
Möbels vor seine Wohnung auszusuchen,
die er ja woll hier jemtethet hat. Aber
er konnte sich man nicht entschließen, weil
er die Breite und Höhe der Wände nicht
kannte, und det muß man doch wissen,
wenn an Möbel stellen will. Herr
Silberflein hat uS daher jebeten, un
die neue Wohnung mal anzusehen, und
ick wollte Ei. bitten, unS zu jestatten, det
wir die Zimmer man mal auömessen
dürfen
Warum sollte ich Ihnen das vermei
gern, versetzte Frau Rothenberg, Bitte,
messen Sie, so viel Sie wollen 1'
Dem jungen Manne schien die Sache
nicht mehr so ganz angenehm zu sein, mit
der fetten Dame hier zu erscheinen. Diese
aber war voller Seelenruhe.
Ick danke Ihnen, jnädlge Frau!"
fuhr die Möbelhändlerin fort, indem sie
- in langes Metermaß aus der Tasche zog
Kommen Sie, Herr Marlow, fassen Sie
man mit an
Die Beiden begannen nun die WZnde
abzumessen und die Zahlen auf ein Blatt
Papier zu notiren.
Hierher das Büffet, da hat der Ver
tiko Raum, dieser Platz ist für eine Ca
seuse erklärte mehr zu sich selbst als zu
ihrem Begleiter die Dicke. Ueberhaupt
schien der Mann durchaus nicht bei der
Sache zu sein ; er sah sich aufmerksam
im Zimmer um ; er betrachtete die Bilder
und Nippsachen und blickte auffallend oft
nach der Thür, als volle er sich den Au
gang sichern.
Im Wohnzimmer, welches sie nun be
traten, saß Ella, mit einer feinen Hand,
arbeit beschäftigt. Sie erwiderte den
' Gruß der Möbelhändlerin mit inem
freundlichen Kopfnicken, ließ sich aber
fönst nicht weiter stören. Desto aufmeik
samer war Herr Marlow geworden und
so oft e, ohne ausdringlich zu sein, ge
fchehen konnte, ruhten feine Augen auf
den hübschen, jugendlich frischen Zügen
de Mädchen. Auch die dicke Frau
schaute öfter verstohlen zu ihr hin und
dann begegneten sich verftändnißvolle
Blicke der beiden Möbelinhaber.
Endlich hatten sie ihren Zweck erreicht
und verabschiedeten sich von den beiden
Damen. Diesmal gab sich Marlow
Mühe, eine möglichst correcte Verbeugung
zu machen, wa ihm auch so ziemlich ge
lang.
Kaum eine halbe Stunde nach der Ent
fernung der Möbelhändler schlug die
Vorsaalglocke wiederum an und der Die
ner meldete den Herrn Bankier Silber
stein. Auch er erdal sich die Erlaubniß,
die Wohnung noch einmal besichtigen zu
dürfen, um für etwaige Reparaturen und
Veränderungen schon jetzt Anordnungen
zu treffen.
Sie scheinen Ihren Hausstand ver
größern zu wollen, Herr Silbersteln
sagte Frau Rothenberg, während sie den
Besucher durch die Wohnräume führte,
Wenigsten beabsichtigen Sie wohl be
deutende Neuanschaffungen an Mobiliar
zu machen?-
Der Bankier schaute die Dame erstaunt
und fragend an.
Woraus schließen Sie das, gnädige
Frau?" versetzte er.
Nun, die Leute, welche Sie beauftragt
haben, die Zimmer aukzumessen, haben
Der SmltWM
J J I
Jahrgang 14. Beilage zum Nebraska taats-Anzeiger. No. 48.
da Hau eben erst verlassen berichtete
Frau Rothenberg.
.Leute beaustragt? Zimmer auSge
messen? Sie sprechen in Räthseln,
Frau Rothenberg!"
Aber Herr Silberflein besinnen
Sie sich doch?' rief Letztere lachend.
Die furchtbar dicke Frau und der jün
gere Mann, die Inhaber des Magazin,
in welchem Sie die neuen Möbel zu kau
fen beabsichtigen, waren hier, um in
Ihrem Auftrage die Räume in Augen
schein zu nehmen."
Ich will nicht Silberflein heißen,
wenn ich irgend Jemandem einen der
artigen Autfrag gegeben habe!" betheuerte
der Bankier fast heftig, Möbel kau.
fen denk nicht daran, habe alle Zim
mer voll stehen!"
,Wa in aller Welt könnten aber die
Leute damit bezweckt haben?" warf Ella
ein.
Da will ich Ihnen sagen, meine
Damen: bemausen will man mich, wie ich
schon vor drei Monaten schändlich besteh
len worden bin," eiferte der Herr und
sein Gesicht ward purpurroth vor Er
regung. Hier liegt ein schwarze Com
plolt vor, das dicke Weib und ihr sauberer
Gefährt siud Spitzbubengesindel!"
Sie gehen wchl zu weit "
Sicher nicht, gnädige Frau unter
brach Jener rasch, die Menschen haben
sich bloS Kenntniß von den Räumlichkei
len verschaffen, sich bloS unterrichten
wollen, wo ich meinen Schreibsecrelär,
meinen Geldschrank hinstelle, damit sie
bei dem beabsichtigten Einbruch genau
Bescheid wissen. Aber ich will ihnen
einen Strich durch die Rechnung machen,
ich lege auf jeder Thürschwelle Fuchs
eisen, ich stopfe in jede Schlüsselloch eine
Dvnamiipalrone, jeder Schreibtischkasten
soll eine Pulvermine enthalten, die da
Spitzbubenvolk zerschmettern wird, ich
ich '.
Er schmieg erschöpft, sein Vorrath von
Mordwerkzeugen war zu Ende.
Die Dame würde wohl Mühe haben,
durch ein Fenster einzusteigen und der
Herr sah wirklich nicht aus wie ein Dieb,"
meinte das junge Mädchen.
Da ist eben das Gefährliche bei
dieser Sorte, daß sie meist ein vertrauen,
erweckende Aeußere haben eiferte der
Bankier. Wenn so ein Kerl mit einen,
Knüttel in der Hand zu Ihnen gekommen
wäre, hätten Sie ihn 'gewiß nicht die
Zimmer auSmessen lassen."
Gegen diese Logik war freilich nichts
einzuwenden, daS war unfehlbar richtig.
Frau Rothenberg nickte zustimmend mit
dem Kopfe.
Vor Kurzem haben die Gauner erst
das Hau verlassen, sagten Sie?' forschte
der Mann weiter, als komme ihm plötz
lich eine gute Idee. Dann fort, ihnen
nach, eine dicke Frau mit einem jün
geren Herrn, die sind leicht zu erkennen.
Geben Sie mir Ihren Diener mit, gnä
dige Frau, damit ich nicht allein bin; er
hat auch die Spitzbuben gesehen und wird
sie gewiß wieder herausfinden."
Friedrich, der Lakai, wurde gerufen ;
er erklärte, daß er die beiden Verdächti
gen in ein Restaurant nur einige Häuser
entfernt h,ibe eintreten sehen.
.Da Gesinde! sitzt in der Falle, hal
ten wir eS darin fest !' ries der Bankier.
Rufen Sie einen Schutzmann, Fried
rich, er mag uns begleiten!"
Würde da nicht zu großes Aufsehen
erregen, Herr Silberflein?" warf Frau
Rothenberg ein, man könnte leicht auf
die Vermuthung kommen, Sie selbst seien
ein Angeschuldigter, den man nach der
Etattoogtei transportirt."
Sie haben recht, nein, das geht nicht, '
stimmte Jener bei, mich, den Bankier
Silberflein, den di ganze Stadt kennt,
in Begleitung eine Schutzmanns aus der
Straße zu sehen Gott der Gerechte,
was würde die Welt dazu sagen! Kernt
men Sie, Friedrich, aber ohue polizeiliche
Bedeckung l"
Er verabschiedete sich und bald darauf
traten sie in die bezeichnete Wirthschaft
in.
Richtig, da saßen die Beiden in aller
GemJlhSiuhe und ließen sich eS wohl
sein. Der Herr kämpfte tapfer mit ei
nem furchtbar zähen Beefsteak und eS
war höchst fraglich, wer in diesem schwe
ren Ringen den Sieg davon tragen werde ;
die dicke Frau dagegen halte ein riesiges
Omelett vor sich liegen, das sie unbarm
herzig zerfleischte und in gewaltigen Bis
sen verschlang. Am liebsten wäre Herr
Silbeistein auf das Paar losgestürzt und
hätte es abgeschütlelt; eine grimme Wuth
erfaßte ihn, als er fal), mit welcher schein
baren Harmlosigkeit die beiden sich der
anmuthigen Beschäftigung widmeten.
Aber eS waren noch andere Gäste da, und
er wollt eine öffentliche Scene vermei
den. Ohn weiteres nahm er an demsel
den Tisch Platz, während Friedrich sich
als Reservetruxpe in einiger Entfernung
niederließ.
Sie haben sich heute In das HauS
stniß Nr. 18, erste Etage einge
schlichen, waS bezweckten Sie damit?'
begann Silbergcin das Verhör. ,
Nanu, Männeken, von tirjeschlichen
iS nra keene Rede, mir sind stolz wie
Oöksr durch die Thüren spaziert und von
Madrme im Salon bejrüßt worden, wie
e sich für honett Leut jebührt ver
setzte dre Dicke.
Wer find Sie denn?" forschte der
Bankier weiter.
Wer ick bin, kann Ihnen jleichjiltig
sind und dieser Herr da ist mein Mann,"
war die Antwort.
Na ich danke, die ist mir zu fett,"
flüsterte Marlow.
Sie haben sich unter Vorspiegelung
falscher Thatsachen in die Wohnung ein,
geführt, welche vom nächsten Quartale
ab ich beziehen werde," erklärte Silber
stein; da ist im höchsten Grade ver
dächtig, und ich werd Si verhaften
lassen, wenn Sie nicht die Wahrheit de
kennen."
Man immer jemüthlich, Männeken,
soweit sind wir noch nicht," sagte mit
feistem Lächeln die Frau, indem sie ver
traulich die Hand auf die Schulter de
Kaufmannes legte.
Wie kamen Sie dazu, sich als meine
Beauftragten auszugeben?"
Ja nun es war man bloß ein
Scherz, wissen Sie, so'n fauler Witz!"
In diesem Augenblicke trat ein Herr
an den Tisch heran, welcher bisher in der
Nachbarschaft geschen und das Gespräch
mit angehört halte.
Man spricht hier von Einschleichen.
Vorspiegelung falscher Thatsachen, von
verdächtigen Menschen und verhaften
lassen," sagte er. Ich bin Criminal
Polizist und muß Sie um Aufklärung er
suchen."
Dabei legte er eine Legitimationsmarke
vor.
Der Binkier erzählte ihm das Vor
kommniß mit allen Einzelheiten, und als
er geendet, kündigte der Beamte dem
Paare die Arretur an.
Aber wir sind ja die unschuldigsten
Menschen unter der Sonne." versuchte
Marlow zu proteftiren.
Desto besser für Sie," erwiderte
Jener, vorläufig aber kommen Sie mit."
Der Zug fetzte sich in Bewegung, denn
der Gendarm, welcher Cioilkleider trug,
ließ sich auf weitere Auseinandersetzungen
nicht ein.
Auf dem Polizeibureau begann ein
scharseS Verhör.
Sie sind Eheleute?" fragte der Asses
so:.
Eijentlich nur theilweise und zwar
jejenwärtig nicht mehr," antwortete die
Dicke.
WaS soll da heißen?" herrschte sie
der Beamte an, erklären Sie sich deut
licherl'
Na, det ist doch janz klar zu verstehen:
ick bin nämlich Wittwe, also jejenwärtig
nicht mehr verheirathet, der Herr hier
aber will durch meine jütige Vermittelung
in den heiligen Ehestand springen."
Was hatten Sie in der künstigen
Wohnung deS Herrn Silberstein zu
suchen?" Forschte der Polizeimann weiter.
Aber ick begreise Ihnen nicht, Herr
Assessor," versetzte die Frau. AlS In
haberin eine Heirathsbureau muß ick
doch meine Kunden mit die weiblichen
Wesen bekannt machen, um sie unter die
Haube zubringen, der Herr hier ist JutS
besitz auS der Jegei,d von Teltom und
hat sich auf diesem nicht mehr unjemöhn
lichen Wege an mir jewandt. Da dachte
ick mir denn: Der Frau Rothenberger
ihre Tochter, det wär so rast für ihm; sie
i!t hübsch, jebildet und hat die nöthigen
JroschenS. Nun hatte mir meine Wasch
srau, was auch der Frau Silberstein ihre
ist, erzählt, det SilbersteinS in Rothen.
berg'S Wohnung gehen, und dadruff
baute ick meinen Plan, um Herrn Mario
seine Zukünftige von Anjestcht zu zeigen.
Wir jingen also hin, det Zimmerausmes
fen war nur Nebensache, nur Vorwand,
aber det Kind mußt doch'n Namen haben
Aber Dieb sind wir man ich, Herr As
scssor, det können Sie ruhig jlooben,
sehen Sie so kam die Jeschichte
Haben Sie hierzu etwas zu bemerken,
Herr Silberftein?" fragte der Beamte.
Jener zuckte die Achseln.
Die Darstellung erscheint nicht un
glaubhaft," versetzte er, wenn eS sich so
verhält, so bin ich beruhigt."
Ein herbeigerufener Schutzmann, auf
welchen sich dre HeirathSoermittlerin zur
Feststellung ihrer Persönlichkeit bezog,
bestätigte die Identität derselben, und
eine telegraphische Anfrage in dem Hei
mathsorte MarlowS ließ über dessen
Ehrenhaftigkeit keinen Zweifel. Beide
wurden natürlich entlassen.
Wegen Fräulein Rothenberg brauchen
Sie sich nicht weiter zu bemühen, die ist
bereits verlobt," sagte Silberstein zu der
Dicken.
Det schadet nich, Ick habe noch mehr
uff Lager," versetzte diese, kommen Sie
man, Herr Marlow, wir werden schon
noch anS Ziel gelangen."
Mit oder ohne Polizei?"
Allemal ohne!"
Sturmfahrt.
Von Moritz Franke.
Dämmerung! Schneesturm! Wie
Millionen Kobolde tanzen die Schnee
flocken durch den Raum; hinab, wieder
hinauf, uach rechts, nach links, jetzt im
Kreise herum jagt der Sturm die zarten
Gebilde, ehe sie zur Erde falle, um auch
dort noch keine Ruhe zu finden. Heulend
kommt ein neuer heftiger Windstoß daher
gebi auit, wühlt in der dichten Schneedecke
und treibt ganze Wehe der feinen Krystalle
gleich Dampfwolken über das weite Feld.
Jenseit desselben an der breiten Fahr
flraße, die allein durch die an beiden Sei
ten gespenstisch ausragende Bäume als
solche kenntlich ist, lagert er sie ad.
Schon hat sich ein kleiner Hügel gebildet
dort wieder einer noch einer noch
viele, viele? Wa mag in ihrem Grunde
verborgen liegen? Ist' ein Meilenstein?
Ein Gmsterbusch? Oder sank ein Mensch
von Kälte und Müdigkeit übermannt zur
Erde, dem so der Winterflurm ein Grab
häuste?
Klingling! Klingling! Schellengeläute
wird hörbar in den kurzen Pausen, die
sich de Sturmes Heulen gönnt; eS kommt
näher, dunkle Umrisse erscheinen auf der
Landstraße und verschwinden wieder im
Wirbelian, der Flocken: ein Schlitten
ist', der mühsam gegen das Unwetter an
kämpft. Tief schneiden die Kufen in den
lockeren Schnee, keuchend, pustend streben
die Thiere vorwärts, von Zeit zu Zeit un
willig die Köpfe schüttelnd, wenn eine
Schneewche ihnen Augen und Ohren ver
letzt. Der Kutscher hat seinen Mantel
kragen hoch hinaufgeschlazen und den
Kopf tief hinein versenkt, um den Sturm
besser Widerstand leisten zu können; die
Hände sind ihm trotz der dicken Hand,
schuhe halb erstarrt und halten nur müh
sam die Zügel. Und doch ist größte Auf
merksamkeit nöthig. Die Pferde sind
jung und feurig, er kennt sie noch wenig,
denn erst seit Kurzem hat er die neue
Stelle angetreten. Nun hören auch noch
die keilenden Bäume auf, nur die Schnee,
Hügel, vom Sturm an die Böschung der
Straße gehäuft, begrenzen sie schwach
gegen das unendliche weiße Feld. Ein
kurze Scheuen, ein plötzlicher Seiten
sprung der Pferde kann das leichte Ge
fährt von der Svur ab, und dem Gra
benrand zu nahe bringen wenn nur
das verwünschte Schneien nachlassen
wollte man sieht ja kaum die Hand
vor den Augen I
Im Schlitten sitzt, in warme Decken
und Felle gehüllt, die Pelzmütze weit ins
Gesicht gerückt, ein einzelner Mann, in
Sinnen verloren. Ihm sind solche Fahr
ten nichts Neues, nichts ungewohntes;
seit Jahreu solgt er bei Wind und Wetter,
bei glühender Hitze und starrendem Frost,
jedem Ruf, der an ihn, den Arzt ergeht.
Auch heute hat er keinen Augenblick gc,
zögert, die unerfreuliche Fahrt anzutreten,
wenn auch das Dorf, wo man seiner be
gehrte, kaum mehr zu seinem Bezirk ge
hört. Er kennt e nur dem Namen nach,
und muh sich bezüglich deS Weges ganz
seinem Kutscher anvertrauen, der behaup
tet, ihn genau zu kennen. Freilich ist
der Mann erst einige Tage in seinem
Dienst, auch die Pferde sind neu. und
Mann wie Roß machen auf ihn keines
wegS den Eindruck absoluter ZuoerlSssig
keit aber hatte er jemals im Leben der
möglichen Zufälle gedacht, wenn eS galt,
ein vorgestrecktes Ziel zu erreichen? War
er selbst stets darauf bedacht gewesen, tm
rechten Geleise zu bleiben? Ein AuS
spruch deS lachenden Philosophen fallt
ihm ein: Leidenschasten sind die Pferde
am Wagen des LebenS, aber wir fahren
nur gut, wenn der Fuhrmann Vernunft
die Zügel lenkt." Wie oft hatte er sich
jenen wilden Rossen ohne den hemmen
den Zügel überlassen, nur darauf be
dacht, feine große starke Individualität
auszuleben. Hoho, wie ging das über
Steck und Stein. Schon im Eltern
hause galt er für unlenksam; auf der
Unioerstlät war er der Wildesten und doch
der Eifrigsten Einer. O ja, gelernt
halte er mit unersättlichem Wissensdrang,
aber auch genossen, genossen, ebenso un
ersätllich.
Wie die Flocken wirbeln, tanzen! Ein
wahrer Hexensabbath! Kommt nur heran,
ihr Erinnerungen längst vergangener
Tage, tanzt euren tollen Neigen um den
gereiften Mann, er fürchtet euch nicht,
Wein, Weib und Gesang, sie waren ihm
frühzeitig vertraute Genossen. Mancher
Wein war trübe, manche Weib war
schlecht; aber der Gesang, die Musik,
die Freundin seiner Seele von Kindheit
an, sie war ihm treugcblieben, im Tau
mel der Sinne ein heiliges Feuer, in
dem er sich immer und immer wieder ge
läutert. Neuer Kraft voll rast der Sturm da
her, dann folgt kurze Stille. Eine große
Schneeflocke gaukelt vor des Träumers
Augen hin und her, sie senkt sich nieder,
fällt leise und kühl, wie ein Kuß der
EiSkönigin gerade auf seine Lippen und
vergeht vor dem warmen Hauch seines
MundeS.
Der stark Mann schauert. Wie
SturmeSwehen auch war st damals über
ihn gekommen, die Leidenschaft für jenes
entzückende, elfenhafte Wesen, dessen
Reinheit sein Herz, dieS wilde Herz, ge
fangen genommen. Ach, daß er die Bitte
um Schonung in den braunen Kinder
äugen besser verstanden hätte. Seine
Liebe ward zu heiß für ihre Zartheit;
unter feinen sengenden Küssen war ste
dahingeschwunden, wie die weiße Flocke
vor seinem Hauch vorüber, vorüber!
Vorüber auch die wechseloollc Bilder
der folgenden Jahre, einer tollen, schö,
nen Zeit, verklärt durch Freundschaft,
Frauenhuld und hochfliegende Ideale,
sorglos sitzend an der reichen Tasel de
Leben, den überschäumenden Becher der
Freude leerend, Zug um Zug. Da bricht
vernichtend wie ein Wetterstrahl au
heiterem Himmel ein schwere Geschick
über ihn herein. Mühsam nur erhält er
da Räderwerk seiner Tage im Rollen
genau so mühsam wohl, wie eben seine
keuchenden Rosse den Schlitten durch ei
neu waldigen Hohlweg schleifen, dessen
Wände bedräuend und beängstigend nahe
zusammentreten.
Endlich läßt da Schneegestöber nach,
aber e ist dunkle Nacht geworden, kein
Stern ist sichtbar, kein lichter Punkt läßt
daS Ende der Schlucht errathen, kein
Laut, als das Schnauben der Pferde,
mildert das lastende Gefühl tätlicher
Einsamkeit. Der Mann auf dem Bock
ist nicht zuerkennen, kein Geräusch, keine
Bewegung verrathen seine Gegenwart.
O diese Dunkel, diese Einsamkeit!
Alle Ziele verdüstert sehen, die eigene
Kraft erlahmen fühlen, vor Sorge und
Zweifeln zerfleischt werden, und keine
Menschenseele sein Eigen nennen, die
Schulter an Schulter mit ihm Theil
nähme an dem Kampf mit dem Geschick.
Nacht innen Nacht außen.
Was ist da? Der Schlitten steht
plötzlich still, ein heller Schein fällt über
den Weg, Hunde schlagen an. Der
Hohlweg hat ein Ende, das Gefährt hält
vor einem einzelnen Haus, inem Forst,
haus, auS dessen Fenstern der Lichtschein
bricht. Zwei Krausköpfchen tauchen
hinler den Scheiben auf und werfen in
Kinderübermuth dem Fremden Kuß
Händchen zu, bis eine schlanke Frauen
gestalt sie liebkosend nach der Tiefe des
ZimmerS zieht.
Ein Mann tritt jetzt unter die Haus
thür und fragt nach dem Begehr. Wie
weit eS noch nach H. fei? Bei dem Wer
ter noch ine halbe Stunde. Der kür
zeste Weg. Nicht fahrbar. Man muß
die breite Straße mne halten, die am
nächsten Kreuzweg, gleich am AuSgang
des Walde, nach rechts fährt.
Die Peitsche knallt, die Rosse ziehen
an, das trauliche Bild des FocsthaufeS
entschwindet wie ein schöner Traum.
Auf härter werdender Bahn gleitet der
Schlitten rascher dahin durch den schwei
genden Wald; ab und zu krächzt ein
Rabe, knackt ein Ast unter der Last de
Schnees. Bald ist der Kreuzweg er
reicht. Einen Augenblick scheint es, als
wollten die Pferde nach links einbiegen,
doch ein kräftiger Ruck am Zügel lenkt
ste nach recht, auf die breite Straße.
Der Himmel klärt sich, istern um Stern
tritt hervor, und bald wirft die Mond
sichel ihr blasses Licht über die verschneite
Welt.
Die Kälte nimmt merklich zu. nrö
stelnd hüllt der Arzt sich fester in seine
Decke.
Alles scheint ihm heute ein Spiegel
bild seines LebenS. Die erleuchteten
Fenster der kleinen Häusergruppe, die der
Schlitten eben durcheilt, sie gemahnen
ihn an freundliche Augen, deren warmer
Blick nicht ihm gilt, sie reden von stillem
Glück, daS feine Schwelle meidet. Fern
am Horizont loht ein rother Schein; ein
Hochofen ist'S, dessen Feuer einen weiten
Umkreis erleuchten. So weit seine Flam
men entfernt sind von der herzerwörmen
den Gluth des häuslichen Herdes, so
weit ist auch sein Leben voll Unrast, voll
Hingabe an seinen Beruf, an die Kunst,
un die Allgemeinheit, davon entfernt ihm
daS Herz zu erwärmen. Was ist ihm
Anerkennung, Ruhm, wenn die Seele so
kalt, so leer bleibt, wenn allein die
Pflicht, die eherne Pflicht den Leitstern
deS Leben bildet? Gewaltsam sucht
sich der Träumer seinen Gedanken zuent
reißen und mustert die Gegend. Eine
Erinnerung erwacht in ihm, 'daß erste
doch schon gesehen. Richtig! Vor Mo
naten war's, im Spätsommer, da kam er
auf dem Ritt zu einem Kollegen durch die
Ortschaft.
Selbst erschöpft von der drückend 5
Hitze, hat er sein Pferd zum Dorfbach
gelenkt und schaut sehnsüchiig nach einem
Brunnen auS, denn zur Einkehr sehlt die
Zeit. AuS einem der nächsten Häuser
tritt ein junges Mädchen, dem spricht er
sein Verlangen nach einem Trunk Wasser
auS. Mit welch' freundlicher Bereit
Willigkeit sie dem Wunsch entsprochen
hatte! Dem Arzt ist, als sähe er die
klaren Augen, die goldig schimmerden
Flechten, die schlanke Gestalt, die so gar
nicht einem Kinde deS Dorfes zu gehören
schien, leibhaftig vor sich. Lächelnd legte
ste die kleine warme Hand in seine
große, froflerstarrte, ein heißer Strom
fluthel durch feine Adern und macht das
Blut schneller kreisen, das Herz höher
schlagen.
Da ein Ruck, der Schlitten hält!
Unvermerkt ist er am Ziel angelangt und
schaut nun gespannt um sich, während er
seine steif gewordenen Glieder aus den
Hüllen wickelt. Wahrhaftig, eS ist das
selbe HauS, er erkennt eS im blassen
FZondlichi wieder. Wird das liebliche
Kind ihm auch entgegentreten, oder ?
Nein, ein bejahrt Frau mit verweinten
Augen kommt au ter Thüre, ei,
Licht mit der Hand schützend.
Gott sei Dank, daß Sie kommen,
Doktor, ich hatt' schon Angst, da Wetter
wär Ihnen zu schlecht!
Wa ist I, fragte r hastig, er ist
krank, Eur Tochter?
Die Frau blickt ihn verwundert .
Mein Tocht? Ich hd' g keine
Tochter. Aber wenn Sie vielleicht mei
Bruderlkind meine, die sonst bei un
war, di hat den Lehrer im nächste Dorf
ehetralhet. Mein Man wollt sie heut
besuchen, aber bei dem Schnee ist er om
Weg abgekomme und hat sich erftürzt.
Der Bader meint. sieht bi au mit
ihm.
Mechanisch tastet der Arzt nach seinen
Instrumenten und folgte wortlo der
voranleuchtenden Frau in' Hau. Zer
rönnen, verflogen ist sein Lustgebilde,
wieder erwartet ihn nur die Pflicht, die
eherne Pflicht.
tu, cdstspxach".
l e im Jahre 1724 zwischen Oeflrr
reich und Frankreich wegen der polnische
Erbfolge zum Kriege kam, bewarb sich
der französische Minister Fleury um die
Gunst de König Friedrich Wilhelm de
Ersten von Preußen, um ihn zur Unter
ftützung Frankreich zu bewegen. Mar,
qui de la Chelardie wurde von Pari
nach Berlin gesandt. Derselbe über
reichte bei der ersten Audienz Friedrich
Wilhelm im Namen de König von
Frankreich ine kunstvoll gearbeitete gol
dene Birne zum Geschenk. Friedrich
Wilhelm fand diese Geschenk zunächst
recht sonderbar, bi er bei näherer Besieh
tigung de? Kleinod bemerkte, daß die
Birne infolge de Drucke auf den Stil
sich in zwei Theile und zusammengefalte
teS Papier in der inneren Höhlung barg.
Der König staunte nicht wenig, al sich
beim Auseinanderfalten das Schriftstück
als ein vom König von Frankreich ausge
stellter Wechsel aus fünf Millionen
Thaler erwies, zahlbar an dem Tage, w
sich Friedrich für Frankreich erklären
werde.
Obwohl Friedrich Wilhelm der Elfte
in dieser Zeit mit dem Wiener Hofe auf
ziemlich gespanntem Fuße lebte, blieb er
seinen früheren Grundsätzen, Frankreich
nicht zu unterstützen, doch gelreu und ließ
dem französischen Gesandten als Gegen
gefchenk für seinen Herrn einen goldenen
Äpfel überreichen, der in seinem Inner
den angebotenen Wechsel wieder barg.
AlS Marquis de la Chelardie den Apfel
entgegennahm, bemerkte der König den
fragenden Blick deS Gesandten und sagte:
Der Kern deS Apfels ist derselbe, wie
der der Birne."
Mißmuthig verliech de la Chetaidie
sogleich Berlin.
Wieder ein so kostspielige Pariser
Mode," ließ sich Friedrich Wilhelm
später zu General Grumbkom, seinem
Günstling, auS, früher redeten die
Diplomaten durch die Blume, jetzt
fangen sie sogar an, sich durch Obst zu
explizirenl"
Der Torsc v Belvedere.
Jener gewaltige Rumpf eine sitzende
Riefen, der seit der Wiederbelebung der
Alterthumswissenschast durch Winckel
mann, Lesstng und die Gleichstrebende
immer al das Bruchstück eines von fei
nen Heldenthaten ausruhenden Herakle
gegolten hat, gehört noch heute zu den
populärsten, am meisten bewunderten
Ueberreften der antiken Plastik. Es hat
freilich nicht an kritischen Stimmen ge
fehlt, die einer Ueberschätzung diese
Prachtstücke das schon Michelangelo ent
zückt hat, entgegengetreten sind; aber an
der Deutung auf Herakles hat doch nie,
mand ernstlich gerüttelt. Auch neben den
Skulpturen von Pergamon behauptet der
Torso von Belvedere noch eine Ausnah
mestellung, besser als die Laokoongruppe,
die an ihrem rein künstlerischen Werth
etwas verloren hat. Jetzt hat ei jün
gerer Vertreter der archäologischen Wis
senfchast, ein Schüler von Overbeck und
Brunn, Herr Bruno Sauer in Gießen
den Versuch gemacht, die Persönlichkeit
des köpf-, arm und beinlosen Gigante
festzustellen, und durch ein großes Auf
gebot von literarischen und künstlerische
Denkmälern hat er es wahrscheinlich ge
macht, daß der Torso des Belvedere den
aus der Odyssee und aus zahlreichen spS
teren Dichtungen bekannten einäugigen
Riesen Polvphem darstelle, und zwar auf
einem Felsen fitzend, wie r, von Sehn
sucht erfüllt, nach der geliebten Nymphe
Galathea ausspäht. Gegen die von
Sauer versuchte Restauration der Gruppe
läßt sich mancherlei einwenden. Aber
daS ist ati Ende nebensächlich neben dem.
Hauptergebniß seiner Forschungen, die zu
einer völlig erschöpfenden Monographie
über den Mythos des Polyphem und di
dazu gehörigen Kunstdenkmäler geworden
sind.
2utz der inoer gegen grausam
Behandlung.
Die Londoner nationale Gesellschaft
For the prevention. of Cruelty to
Children" Hat in ihren, jetzigen Jahres
bericht einen glänzenden Beweis für ihre
Nützlichkeit und Nothwendigkeit erbracht.
Die Thätigkeit der Gesellschaft während
der letzten vier Jahre war, wie der Duke
of Five auf ihre Jahresversammlung
auösührte, von geradezu unglaubliche
Dimensionen: Nicht weniger als 34,
00 Uebelthäter sind entlarvt, gestraft
oder verwornt worden, während über
90,000 Kinder beschützt wurden. Eine
überraschende Rechtfertigung für die
Thätigkeit der Gesellschaft liegt in der
Thatsache, daß die Gerichtshöfe auf ihre
Anträge hin nicht weniger als 94? Jahr
Gefängniß und Gelrstrafen im Ge.
sammtbetrag von 35,120 Mark ve, hängt
haben. 95 Prozent ihrer Klagen endig,
ten mit Verurtheilung der Verklagten.
Wenige Schutzgesellschaften können wohl
auf ein besseres Resultat hinweisen l
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