Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, December 11, 1914, Image 11

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    IWMW
seit Itkadij Awertschenla
i«
Ver Zug seßte sich in Bewegung.
Wir saßen zu dreien nebeneinander
css der weich gepolsterten Bank des
: ich am Fenster, mein
Freund Nesapjattin in der Mitte und
« In seiner Rechten ein fremder Mann
seit lebhaften, schwarzen Augen, die
ties tn den bläulichen Höhlen lagen.
Oe trug einen schwarzen stock und
hatte um den Hals ein Tuch von so
unglaublicher Länge geschlungen, daß
lI, Kopf und Schultern an eine
iesenrolle mit Garn erinnerten.
Kaum hatte sich der Zug in Bewe
gung gesetzt, als ich eine Zeitung aus
der Tasche zog« an das Fenster nahe
heranrückte und mich ins Lesen ver
tieste.
qWie wenig wir aus unsere Ge
sundheit bedacht sind,« bemerkte plötz
lich der Fremde uno wandte sich mir
in steundlichster Weise zu.
«Wiesa denn?'«
«8um« Beispiel Sie, mein Herr,
Sie lesen . . . Wissen Sie mich,
daß das Lesen im Conch eines in
voller Fahrt begriffenen Zuges den
Rnin siir die Augen bedeutet?«
.Ach, gleich den Ruini«
«Ganz gewiß! Sie lönnen das
ganz wörtlich nehmen . . . Mir er
tliirte ein deutscher Prosessor, daß
Lesen im Coupcs Gist siir das
menschliche Auge sei. Es ist schon
besser, sagte er, die Augen gleich mit
Säme auszubrennem " als sie nach
und nach zu verlieren Entseylich!«
»Wenn besteht denn der Scha
den?«
»Das will ich Jhnen auseinander
eseni Wie Ihnen bekannt ist, be
steht die Augenlinse aus einer hellen,
saeblosen Flüssigkeit, die sich in einem
besonderen Behälter befindet. Stren
gen Sie die Linse an, so beginnt die
darin eingeschlossene Flüssigkeit in
solge der wiegenden Bewegung de
Waggpns allmählich auszutrocknem
Jm Zusammenhang mit dieser Er
scheinung findet eine Verengung und
Einschrurnpsung jenes Behälterö
statt; der Augupsel verliert seine
runde Form, seine Einstizität und
Festigteit und wird schlass und weich,
wie ein Weinschlauch aus dem man
den Wein entfernt hat. Schließlich
erwachen Sie eines Tages und —
verzeihen Sie den billigen Witz —
Sie sehen plötzlich, daß Sie nichts
sehen. Empsinden Sie beispielsweise
jeht nicht eine gewisse Trockenheit im
Auges« —- ,Jci . . . Jch glaube . . .
Ein wenig . . ." —- »9iun, sehen
Sie!«
Er verstummte. Jch durchblätterte
rasch die Leitung« überzeugte mich,
daß nichts Jnteressantes darinstano,
rollte sie zusammen und legte sie ins
Obernesi.
«Gestatten Sie mir, Jhre Zeitung
durchzusehen?« fragte der Fremde.
—- »Bitte sehr! Aber warum wollen
Sie sich denn die Augen verderben?«
»Ach, ich bin in dieser Hinsicht ein
vollständiger Tor. So wie ich wirt
schastet mit seiner Gesundheit nur ein
Selbstmiirder. Einmal verschrieb
mir der Arzt Kotainl Was tat ich
Teelösseltveise habe ich es verschluckt·
Jn Samata badete ich in einer Eis
wuhne, und in Peter-barg tauchte
ich Zigatetten, die ein an der Pest
Etttantter in der Tasche herumgetra
gen hatte.'
Resapiattin schlug die Hände zu
stimmen.
»Gott, wie entsetzlich! Das Blut
erstarrt einein!«
»Jet, ja. Es gibt sichtbare und
versteckte Gefahren. Sie sitzen zum
Beispiel am Fenster. Wissen Sie,
dasz durch winzige, siir das bloße
Auge unsichtbate Spalten ini Rah
men ein dünner Windhauch, so sein
wie ein Miickenstachel, webt und wie
eine Stahlnadel in Jhre Lunge ein
dringt? Die Lungenbläschen plntzen
insolge der Abtiiblung, es bilden sich
Gerinsel, dann tonnnt das Blutsputi
ten und . .
»Was hilst«s,« entgegeneie ich mit
einem matten, unabsichtliiben Lacheln.
«Jrgendeiner muss ja doch am Fen
ster sitzen.« — »L;issen Sie mich dort
scheust sagte der Fremde in jenem
schlichten Ton, in dem nian bewen
haste Dinge zu jagen pflegt. —
»Aber Jhre Lunge . .
»Ach! Die brauche ich nicht zu
schonen . . . Einmal ging ich in
Konstantinopel bei furchtbarem Frost
zwei Tage lang »nur in der Joppe
herum. Jn Astrachan habe ich einen
Schlangendeschwörer lennen gelernt.
Nun, was soll ich Ihnen noch lange
erzäblrni Gehen Sie aus meinen
Plag· — Wir lauschten die Plätze.
« issen Sie,« sagte Nesapjatlin zu
dem Fremden, indem er tm gleichen
satt mit den Bewegungen des Wag
pns den Kops bewegte, «er ist rnein
rennt-, ich kenne ihn von Kindheit
an, i habe ihn lieb, aber ich wiitde
mein ell so leicht nicht siir ein stern
des riskieren«
— .Uch, das isi doch nicht der Rede
wert,« erwiderte der Fremde mit ei
ner abwe enden handbelvesungk
Er rii ans Fett , ro te meine
Mag aus nnd ver anl in die Let
t .
llO
Eine c ba- i ttti
is eine ieiiemlsWM ils-As «
Der Fremde las während wirl
beide — Refapjattin nnd ich —- mit
langen Nasen dasahen und nur sel
ten adgerissene Siise nie-hielten
»Wenn find wir in Tiflisi«
»O, noch nicht so bald
»Die Zeit wird einem furchtbar
lang."
»Das stimmt.«
CzEs ist sehr schwül im Conpö.-«
JIUe esall ist Winter, hier ist schon
Ftith ng.'« . , « »
»Ja, das ist wahr-« Ä
»Sieh. diese Bäumei« H
»Ja. sie sind erst-X
Als der Fremde die Zeitung aug
Lgelesen hatte, hielt er sie mir hin,
gäbnte und reckte sich träge.
»Ach, wenn man jetzt ein Schläf
chen machen tönntet«
Er blickte Nesapjattin an und
sagte: »Das ist die schlimmste
Strecke in Rußland."
»Wieio denn?«
»Fast jeden Tag gibt es einen Zu
sammenftoß.«
»Was Sie sagen! Warum wird
denn in den Zeitungen nicht darüber
geschrieben?«
»Solche Dinge werden mit Absicht
verheimlicht . . . Sie verstehen . . .
hin· Die vielen—Opser.«
»Eine qualvolle Situation!« be
mertte Resapjatkin und fah mich
ängstlich an.
»Das würde noch fehlen!"
»Das schlimmste ists sagte der
Fremde, »daß die Waggons so eng
gebaut sind. Falls fest ein Zusam
menstoß erfolgen sollte, wären wir
alle, die wir hier sitzen, verioren.«
»Wieio?"
»Es ist nicht anders möglich! Se
hen Sie her: Unsere Knie stoßen fest
an die Wand des Coup65. Stellen’
Sie sich vor, daß ein Zug auf uns
aufgefaljten iftl Sofort schlägt diel
Wand des Nachbarcoupcss auf unsere
Wand, und unsere Wand wiederumj
aus unsere eigenen Knie
»Und was geschieht?« fragte Nes
saFiattin leise. indem er die Coupezs
wand mit weit ausgerissenen Augen
anstarrte.
»Was —- das fragen Sie? —s
Jhre Füße dringen momentan in
folge des Stoßeö in Jhren Leib ein,
pressen die Leber und die Därmei
heraus und Sie klappen zusammen!
wie ein Fernrohr. Ju, wissen Sie...?
Es ist. unangenehm, das eigene
Schienbein an ver Stelle zu fühlen,j
die von Natur für Lunge und herz
bestimmt ist.«
Wir schwiegen beklommen.
»Ja. Und das schaurigste ist, daß
man mit solchen Verletzungen noch
drei, vier Tage leben tann.«
»Nun, und angenommen, daß der
Passagier im Augenblick des Zusam
menstoszes im Kortidor stand?« frag-;
te Nesapjattin. »Droht ihm daan
dieselbe Gefahr?« H
»Nein! Sie werden selbst be«
greifen, daß nicht die Längs-, son-l
dern die Querwände gefährlich sind.i
Jch kannte in Nonwsenst einen Men- s
schen, der als einziger unter Hun
derten am Leben blieb, nur weil er’
im Augenblick der Katastrophe auf
dem Korridor spazierte. Er heißts
Semenaw. Ein Llettrotechniler « i
Jch tauschte mit Nesapjattin Blit- !
te, und wir verstanden uns, ohne ein
Wort zu sagen.
Aus Anstand saßen wir noch etwa
»drei Minuten, dann sagte ich: »Mein
IFuß ist mir ein wenig eingeschlafen.
Jch möchte mir ein wenig Bewegung
s niachen.«
I »Ich auch,« rief Nesnpjatlin auf
!fpringend. »Lasz uns eine Zigakette
rauchen!'«
ill
Alg wir aus dem Korridor waren,
»blinzelte Nesapjnttin inir zu und sag
te: »Hei-e ich das mit dem Rauchen
nicht geschickt gedreh« Es- wäre
peinlich gewesen, eins-ach so fortzuge
hen. Er hätte uns siir Feiglinge hul
ten können, die vor Schreck ausrei
szen, nicht wahr?«
»Natürlich.«
»Er selbst muß aber höllische Ner
ven haben. Jeden Augenblick daraus
gefaßt sein, dasz man wie ein Konto
buch in eine Kopierpresse eingellemnit
und entstellt werden kann —- und so
inltbliitig darüber zu sprechen Un
glaublich!«
»Sieh mal nach, was er rnncht.«
Htesapiatlin ging, nach dein wahn
ivinigeixMann zu schauen und berich
tete:
»Er liegt aus dem Sitz ausgestreckt
und hat die Augen geschlossen-«
«Wir wollen hier stehen bleiben
Mehr zur Mitte.« —- ,,Er ist ein
shrnpathischer Mensch. nicht wahrt«
«Ja, liebenswürdig und so zuvor
lommend.«
Jni Coupö wurde es immer schwil
«ler. Man siihlte das Rohen des Sil
den-.
«Wie wäre es, wenn wir das Fen
ster össneten,« versehte ich. »Ja der
Ste pe ist so milde Lust.«
as Fenster kann nicht geössnet
werden. Der Was on ist noch site
den Winter herg getistetf
NEtlnnbe an die ein fenster geht
der Nie el Inn- lecft ort mittlern
Nin e ein chenen er sur
is. Wir-M auch niemand mer
Va- tut nichts Wir sagen, es
W MWM seicht-M
Der Rahmen glitt mit leichtem
Gepaiter hinunter, und eine kühle,
von Frühlingsdiisten gettiinite Sied
penlnft wehte uns entgegen.
»Wie herrliche Luft! Merist du
den Kauiausu5?« i
»Der keine Balsam!'« Mächtige(
Berge zeichneten sich in der Ferne in
Gestalt leichter, blauer Dunstgespens
ster. Man fühlte sich von der war-»
meu Luft und dem frischen Erdgeruch’
liebte-send umfangen. i
Etwa zwei Stunden verbrachtenl
wir stehend, fast ohne zu sprechenJ
vertraumt und in Gedanten person-s
ken. —- Hinter uns ertönte eine
Stimme: »Was machen Sie denn
hieri«
Unser Coupågenosse stand hinter
meinem Rücken.
.ch»Fiihlen Sie diese Lust?« fragte
i .
»Ja. Jch will auch versuchen, das
andere Fenster zu öffnen-«
»Nein,« entgegnete Nesapjaiiin.
»Alle Fenster sind noch für den Win
ter oersorgt, das hier ist das einzige
offene."
»Da hätten wir also den Kauka
sus!'· demettte der Fremde nachdenk
lich. »Ein schönes Land, exotisch wie
die Klapperschlange, aber auch giftig
wie diese. Es tann ebenso gefährlich
werden!«
»Wieso?«
»Der Kauiafugi Das ist doch das
Land der Raubmörder! Nehmen wir
Sie zum Beispiel, Sie stehen ah
nungslos am Fenster plandern still,
plötzlich sauft hinter jenem Stein eine
Kugel daher — bauzi —- in Jhre
Schläfe, und Sie sinken lautlos zu
sammen."
»Wie ist so etwas möglich?« ,
»Das ist so ilar wie der Tag: Es
sind die Sitten der Eingeborenen·
Jn der gestrigen Zeitung . . . haben
Sie teine Zeitung gelesen?«
»Nein.«
»Ach, was! Genau wie Sie stand
vor dem offenen Fenster ein Jude, von
Beruf Klavierstimmer, und »at ete
vie frische Luft ein . . .·« Baug!
er zuckte nicht einmal. Eisenstiick hieß
er.
»Wosür denn, mein Goti!«
»Die Abreten prüfen auf diese
Weise ihren Heldensinm Wer mehr
Passagiere niederschießt, genießt ein
höheres Ansehen iin Kosakendorf.
Wer noch keine zehn erschossen hat,
den heiratet tein Mädchen.«
»Weisz der Teufel! Wir wollen
doch lieber das Fenster schließen, Ne
sapjatlin.«
»Erlauben Sie, ich wills riskie
ren,« sagte der Fremde taltbliitig, in
dem er sich aus das schmale Fenster
brett stütztr. »Hören Sie, sollte mich
eine Kugel treffen, fo nehmen Sie
mein Gepäck unb schicken Sie es nach
Tiflis an Michajlento, Golowinstis
Prospekt Nr. 2.«
Noch nie hatte ich bisher gesehen,
dasz ein Testament mit solcher Selbst
beherrschung und Schnelligkeit abge
faßt wurde. Um ein reines Gewis
sen zu bewahren, versuchten wir un
seren Naren zu veranlassen, sich von
dem verhängnisvollen Fenster zu ent
fernen, aber er blieb unerbittlich und
beharrte eigensinnig aus feinem Wil
len. Wir ließen ihn denn auch stehen
und begaben uns so schnell wir konn
ten, ohne fiir Feiglinge gelten zu
dürfen, von dem gefährlichen Aus
sichtsvunit hinweg
lV
Als wir in Tislis aus dem Coupet
stiegen, begegneten wir einer hübschen,
stattlichen Dame, bie unseren wahn
toißigen Mitreisenden abholte.
»Nun, wie bist du gereist?« fragte
sie, ihn tiissend.
»Ausgezeichnet. So lange man auf
so erstaunliche Reisegenossen stößt,
wie jene zwei (er zeigte aus uns),
läßt es sich auf der russischen Eisen
bahn noch reisen.«'
Indem Nesapjattin in bie Droschie
stieg, sagte er zu mir: »Hast du ge
hört? Wir haben ihm wahrscheinlich
auch gefallen. Wie meinst bu?«
Jch zuckte die Achseln.
»Warum sollten wir ihm auch
nicht?«
W
kle out-erst ver Visite-stand
Als das Ursprungsland der Be
suchgkarte wird gewöhnlich Frank
reich angegeben, und zwar pflegt man
besonders Ludwig XV. mit ihrer Er
sindung in Zusammenhang zu setzen.
Neuere Forschungen aber haben den
Beweis erbracht, daß die Visitenkarte
in Jtalien entstanden ist. »llna Car
tolina con lfarme e il notne« (eine
Karte mit Wappen und Namen) sin
det sich in einem Briese erwähnt, den
Giacomo Contarini im Jahre 1572
an seinen Bruder in Padua schrieb.
Der Gebrauch der Besuchskarte wurde
in der Tat von Padua und andern
Dochschulen durch junge Franzosen,
die zum Studium nach Jtalien ka
men, nach Frankreich gebracht. Auch
an der Universität in Bologna pfleg
ten abwesende Prosessoren an der
Türe ein Pergamentblättchen, aus
dein der Namen geschrieben stand, zu
rückzulassew Diese .,Tochetti di per
garnena« (Pergamentstiickchen), wie
der Iachausdruek lautete, waren häu
M mit kleinen Miniaturen, farbigen
alerelen oder Zeichnungen versehen.
Bis in die Mitte des 18. Jahrhun
derts blieben sie ein Vorrecht der hö
heren Stände und bewahrten den
charaktee kleiner Kunstwerkes
Ilse selte.
Humoreste von E. Golotoin.
Das Ehepaar Petrotv spazierte un
geduldig und ein wenig mißmutig auf
dem Pereon des Warfchauer Bahnho
fes auf und ab. Bis zum Abgang
des Schnellzuges blieben noch zehn
Minuten, und von den vielen Freun
den und Betannten, die ihre Beglei
tung versprochen hatten, zeigte sich
niemand
Anna Andrejeivna seufzte tief auf
und bemerlte:
»Zehn Jahre lang habe ich mich
auf diesen Augenblick gefreut und
jeht . ..."
Sie konnte ihren Satz nicht vollen
den, denn auf sie zu steuerte im
Sturmschirtt ein dicker, rotbackiger
Herr, der eine ebenfalls rundliche
Dame am Arm führte, und hinter
ihnen tauchten noch verschiedene be
kannte Gesichter auf.
Der rotbaclige Herr überreichte der
jungen Frau ein Bulett aug weißen
Rosen, es regnete Küsse nnd Umar
mungen, die ganze Gesellschaft schrie:
Auf Wiedersehenl Gliictliche Reife!
Und endlich setzte sich der Zug in Be
wegung, zur geheimen Erleichterung
aller Anwesenden, von denen jeder fiir
sich stillschweigendtvieder einmal ton
statiert hatte, daß die Zeiger der
Bahnhofsuhr verflucht langsam vor
rücken.
Drinnen im Abteil begannen die
Reisenden sich gemütlich einzurichten.
Frau Petrow holte den geräumigen
slsßtorb hervor, und ihr Mann wollte
grade feinen hut mit der bequemen
eifetnütze vertauschen, als sich etwas
Unerwartetes ereignete.
Arladij Semenotvitsch ließ plötzlich
den Hut fallen, sprang auf, rollte die
Augen und schlug sich an die Brust.
»Was ist mit Dir’t«' fragte die ent
letzte Gattin.
»Der Schreibtisch
»Nun?«
»Ich habe vergessen, dass rechte Fach
abzuschließen!«
Anna Andreiewna, die im ersten
Augenblick an einen plötzlichen Wahn
sinnsanfall geglaubt hatte, fing an,
sich zu beruhigen.
»Was ist denn dabeis« erwiderte
sie ziemlich taltbliitig »Deswegen
brauchst Du doch einen nicht zu Tode
zu erschrecken.«
Doch Artadij Seinenowitsch zit
terte noch immer an allen Gliedern.
»Entsetzlich! Unsaßbar!« flüsterte
er vor sich hin.
Jn Anna Andreiewnas Kon
tauchte ein schwarzer Verdacht auf.
Sie fing an zu schluchzem
»Ich verstehe alles, alles-. Du der
wahrst in diesem Fach Deine Liebes
briese!« s
»Unsinn,'« erwiderte ihr Mann, der
sich ein wenig gefaßt hatte, ärgerlich.3
Reine Liebesbriese, sondern meinen!
geladenen Revolver!« s
«Großes Gott! Die Kinderl«
stöhnte die unglückliche Mutter.
»Cousine Marie wird schon ans
passen,« erwiderte Ariadij Semeno
witsch mit einem schwachen Versuch,
sie zu trösten, selbst noch immer ganz
bleich im Gesicht.
Dann herrschte lange Zeit ein
düsteres Schweigen.
Aus der nächsten größeren Station
stieg Ariadij Semenowitsch aus und
gab ein Telegramni nach Petersburg
folgenden Inhalts auf:
»Borsicht! Rechte-o Fach geladener
Revolver. Vorsicht! Muß von Papa
und Mama«.
Yeacnceni das Eile-fromm ange
schickt war, beruhigten sich die Gemü
ter etwas, und bald umfing sie ein
erquickender Schlaf·
Gegen drei Uhr EUtisrgens erwachte
Frau Petrotv plötzliiiu
»Anjuta. Anjuta!« hörte sie ihren
Mann rufen.
»Was willst Tu?« sagte sie schlaf
trunken.
»Es tropft auf iiii«i.»!«
Sie schlug langsam die Augen aus.
,,Hiinmlischer Vater! Wie siehst
Du auss« rief sie erschreckt.
Artadij Seiiienoiuiisch stand vor
ihr. Seine Haare sikiiiidten sich wild,
die Augen ivaren fesi geschlossen, das
Gesicht niit blutroten Streifen über
zogen.
»Was ist passiert?« rief die geäng
stigte Frau.
«Mas passiert ist!-’" entgegnete er
mit Donnerstininie. »Du bist schuld
an allem. Du hast daran bestanden,
den verfluchten Kirschsast mitzuneh
men ...«
»Um Gottes ivillen!« jammerte
Anna Andrejeivna. »Oefsne doch
wenigstens die Augen, Artascha.«
»Ich kann ja nicht. Das ver
dammte Zeug hat niir die Augen ver
tleisteet und die haaie zusammenge
MEPka
Anna Andrefeivna blickte ihren
Mann an, und plötzlich ergriff sie ein
unwiderstehlicher Lachreiz.
«Berzeihe mir, Artascha,« sagte sie
endlich. »Ich kann nicht anders. Du
siehs;i aus haha —- mie ein« wie ein...«
» uni« fragte Artadij Seinen-)
ivits streng.
» te ein Jndianer auf dein
Kriegsnfadf
Damt so sie ihren grolleiiden
Gatten mit ich fort in das Wasch
tabinett iind unterwarf ihn da einer
gründlichen Minderung
Alt Irtadif Semenowitsch, dann
nach Beetan einer halben Stunde
wieder ein menschliches Aussehen ge
wonnen hatte, stürzte er wie ein Pan
ther auf das unglückliche Einmachei
glas, von dem es noch immer melan
cholisch auf den Sitz niederträufelte,
riß es aus dem Reh und warf es in
Einem weiten Schwung aus dem Fen
er.
Anna Andrejeiona fah ihm mit
stiller Sehensucht nach. -
Der nächste Tag verging ohne
Abenteuer, und gegen Abend rollte
der Zug in Berlin ein. Hier wollte
das Ehepaar einige Tage verbringen
und dann auf einen Monat in die
Schweiz gehen. Nachdem sich die
Reisenden im Hotel etwas ausgeruht
hatten, machten sie einen« tleinen
Bummel durch die Stadt und tehrten
sehr angeregt heim.
Der Portier überreichte ihnen ein
Tetegramm. Artadij Seinenowitsch
riß es aus, überflog es und wurde
treidebleich.
Das Telegramm hatte folgenden
Wortlaut: ,,Kinder gesund Wegen
unbefugtek Anfchaffung eines Revol
vetg zu 200 Nubel Strafe verurteilt.
Morie.«
»Auch das noch,« inurmeltc Ariadij
Semenowitfch düster. ,,Wetcher
Schatte hat mich wohl der Polizei
angezeigt t«
»Die Post wimmelt von Spitzeln,«·
bemerkte feine Frau. »Du hättest
Dich vorsichtiger ausdrücken müssen.
Verschleierter.«
,,Verfchleierter,« wiederholte Arka
dij Semenowitfch höhnisch. »Wie
hätte ich das wohl anfangen folleni«
»Ganz einfach. Anstatt ,,geladener
Revolver« hättest Du telegraphieren
müssen: »Vorficht! Rechtes Fach ge
fährliche-J Spielzeug.«
»Ist ja Blödsinn!« tnurrte der
Mann.
Aber er fah sehr fchuldbewufzt
aus.
Am nächsten Morgen weckte Anna
Andrejewna ihren Mann schon sehr
friih und legte ihm ihren Plan vor:
ani Vormittag einige Mufeen und
Bildergalerien zu besuchen, dann in
einem guten Gattenrestuurant zu
hinteren und später einen Ausflug
nach Potsdam zu unternehmen. Ar
taoij Semenotvitsch, der vom vergan
genen Tage her noch etwas lleinlaut
gestimmt war, fügte sich ohne Wider
stand, und der Morgen verging pro
grammäßig, wenn auch unter ver
schiedentlichem heiinlicheni Fluchen
und Zähnelnirschen von Seiten des
durchaus tunstseindlich gsinnten Gat
ten.
Endlich schlug die Mittagsstunde,
und das gute Diner frischte die er
matteten Lebensgeister wieder auf.
Als sie den Garten verlassen hatten
und auf der heißen Strane dahin
schritten, blieb Frau Petrow plötzlich
stehen und durchwühlte ängstlich ihr
Täschchen.
»Mein Gott, das Poeteinonnnie
mit den 200 Mart ist fort,« jasinnerte
sie fassungglog. »Ich habe ec- doch
noch soeben im Garten gehavtl«
»Wir miissen sofort dahin zurück
kehren und Nachforschungen anstel
len,« rief Arkadij Semenowitsch
Jcn Garten empfing sie der Kell
ner, der sie bedient hatte, führte sie
auf ihren Wunsch zu dem Tisch, wo
sie gesessen, und hnlf sehr eifrig lskiin
,Suchen. Umsonst! Das Portcinon
naie war nirgends zu finden. Der
Wirt trat hinzu und riet, den Fall
der Polizei zu melden.
Aus dem Polizeiaml wurden Herr
und Frau Petroto einein Verhdr
unterworfen; der Beamte notierte sich
Namen und Adresse und fraate end
lich, ob sie einen bestimmten Verdacht
hätten.
Darauf bemerkte Frau Pelrolo
zum geheimen Erstaunen ihres Man
neg, das; ihr das Betragen des stell
ners verdächtig vorgekommen wäre. ..
»Glilct muß der Mensch l)aben,«
bemerkte Arladij Seinenonitsch iro
nisch, als sie endliai entlassen wurden
»und das ungenliilliche Lokal berlie
szen.
; Der Ausfan nach Potgdam
wurde stillschweigend ausaegel«en, und
den Nachmittag Derbraehten die Ehe
galten im Hotelzinimer, langweilten
sich sterblich und machten sitt) gegensei
tig Vorwürfe.
,,Ztoeihuudert Mark ist viel Geld,«
sagte Arladij Seineuowitsch
,,Ztveihunderl Rubcl noch mehr.«
parierte Anna Andrejetona.
Doch auch der längste Tag hat ein
Ende· Als die Uhr zehn schlug,
gähnte Anna Andrelvna tief und
herzhafl, streifte die hübschen Stiefel
von den kleinen Füßen und wollte
sie vor die Tür stellen. Kaum hatte
sie jedoch dieselbe geöffnet, als sie ent
setzt zurüclprallte und einen lauten
Schrei ausstieß
»Was hast Du?« fragte ihr Mann«
indem er auf sie zueille.
»Vo: der Tür ...«
»Nun, wer fleht vor der Tür? Ein
Löwe etwas scherzte Arladij Seme
notvitsch. »Wie sind doch nicht in
Leipig.«
»Viel schlimmer," schluchzte feine
Frau, während draußen ein energi
sches Pochen ertönte.
»heteinl« rief Attadij Semeno·
mitsch, aufs äußerfle gespannt, mäh
rend Anna Andrejewna die Augen
mit der band bedeckte.
Die Tür öffnete sich und ein
Schutzmann erschien auf der Schwelle.
Er legte grüßend die Hand an die
Mil :
»Ich bringe das Porlemonnaie, das
dieb Herrschaften im Garten verloren
en
? Er wollte weitersprechen, aber ein«
Freudenausruf unterbrach ihn
j »Hurrah! HörstDu, Anjuiaf«
Die junge Frau erwiedrrte nichts»
sie blickte mit großen Augen den ist-.
amten an. War es denn möglich, daß
ein Polizist etwas Gutes brachte? .
s Auf ni: here-» Befragen erzählte der
biedere Hijter der- Gesetzee, daß auf
den geöaszerten Verdacht hin der Kell
;ner einer Leibesvisitation unterwor
sen und das gesuchte Portemonnaie
Jrichtig bei ihm gefunden wurde. Die
szweihundert Mart waren noch voll-c
izählig vorhanden.
) Der Schutzmann entfernte sich,
während Frau Petrom sich die letzte
Träne aus dem Auge wischte und ver-·
gniigt ausrief:
»Halte ich nicht recht gehabt?« .
Fünf Minuten später ging das,
Ehepaar treuzfidel die Treppe her-,
unter· Ein solches Ereignis mußte
gefeiert werden, und überhaupt war-v
es ja nur ein Alt der Berzroeislungi
gewesen, um halb elf schlafen zu
gehen, wie sie lachend lonstatierten,
als sie bald darauf in einem guten4
Restaurant saßen und eine Flasche
Rheinwein auf das Wohl der Berti-·
ner Polizei tranken. —- »
! »Wie schön muß es jetzt bei uns
auf dem Lande sein« sagte ein paar
Tage später Arladij Semendwitsch zu
seiner Frau, als sie ein wenig theaterss
und lonzerttniide im Tiergarten da-«
hinschlenderten.
Anna Andrejewna fuhr zusammen
und bliclte ihren Mann erstaunt an.
Auch sie hatte eben voll Sehnsucht an
ihre Kinder und ihr hübsches kleine-it
Landhäugchen gedacht. »
»Ja, wunderschön, Artadij. Die
Syringen blühen und alle Sträucher
dusten
»Und wir fahren heute abend in
die Schweiz«, schloß er und seufzte
ein wenig.
Anna Andrejewna schwieg, und sie
gingen langsam weiter. Plötzlich hob
die junge Frau den Kopf und sah
einer Dame nach, die am Arm eines
Herrn mit raschen Schritten an ihnen
vorbeiging.
»Träunie ich oder das ist«
doch Marie!« «
Jhr Mann lachte.
Du leideft an Halluzinationern
Marie sitzt wohlbehalten in Peters
burg und hütet unsere Kinder.«
Aber seine Frau ließ sich nicht irre
machen.
»Um Gottes Willen, Arkadij, ich
flehe Dich an Ivir müssen sie ein
holen«
Artadij Semenotvitsch zuckte die
Schultern
»Wieiiietwegen.'«
Gleich daraus standen sie vor dem
überraschten Paar.
»Marie!« ries Anna Andrejewua
erschüttert. »Bist Du es wirklich?
Wie kommst Du her?«
Arkadij Semenowitsch hatte die
Sprache verloren. Die junge, elegante
Frau lächelte:
»Vor allem erlaubt mir, Euch Inei-«
nen Mann vorzustellen!«
»Deinen Mann?« riesen jetzt beide
wie aus einem Munde.
»Ja Jhr kennt ihn doch. Er
hat ja viel bei Euch verkehrt. Vorge
stern haben wir uns trauen lassen...«
Der reiche Grosztausniaun Sokolow
verbeugte sich lächelnd. .
»Es ging ja auerrungO etwas
schnell. Jch mußte aus ein halbes
Jahr in Geschäften nach England und
wollte nicht allein reisen.«
»Und die Kinder?« fragte
Anna Andrejewna stotternd.
»Die haben wir natürlich mitge
bracht. lind die Bonne auch. Wir«
konnten sie doch nicht im Stich lassen.
Sie erwarten Euch im Hotei. «
»Ich danie Dir sehr siir die lieber
raschuug, liebe Consine,« sagte jetzt
Ariadij Senreirvroitsch, der sich inzwi
schen gesain hatte, giftig .,Du scheinst
Initiergesseih das; wir unsere ver
siiitmte Hochzeitsreise nachholen wol
lcn Fiir gewöhnlich pflegt man
ja allerdings nicht Stint-er aus solche
Reisen mitzunehmen«
,.Weshalb nicht«-: Wir haben die
Zitnder auch aus die unsrige mitge
nornmen, entgegnete die junge Frau
schlagfertig.
Anna Andrejeiona lachte laut und
herzlich und umarmte die Cousine
stiirmisch. »Ich ioiinsche Dir viel
Glücl«, sliisterte sie ihr dabei ins Ohr.
Dann zog sie eilig ihren Mann
fort
»Komm, komm, six doch, hier steht
ein Auto.«
Sie stieg ein und winkte noch ein
mal freundlich dem jungen Paar.
Ariadii Semenowitsch rief dem
Chausseur die Adresse deg Hotels zu
und sprang ihr nach.
,,l.)lriadij, sei doch nicht böse, ich
freue mich ja so rasend!« sagte seine
Frau nach einer Weile, ihn von der
Seite anbiickend.
»Ich ja auch«, erwiderte er lachend.
,,Diesen Streich werde ich aber Marie
nicht so bald oergessen.«
Er schwieg einen Augenblick und
suhr dann ernster fort:
»Was wird aber aus unserer Reise,
Anjutai Sollen wir wirklich die
Kinder in die Schweiz schleppenti'
»Gott bewahre,« entgegnete seine
Frau rasch. »Morgen reisen wir nach
Petersburg zurück
Und in bester Eintracht rollten
beide dem hoiel zu, wo die Kinder
sie eschon sehnsüchtig erwarteten. (