Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, December 22, 1911, Zweiter Theil, Image 9

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    Jahrgang 32.
Nebraska
Staats- Anzetger und J set-old
c·emv rum skwctei abi) «
Kummer 19
h , Neue Liebe
Ein unbelanntes Gedicht von He i n
- r i ch H e i n e.
Unterm weißen Baume sitzend
Hörst Du sern die Winde schrillen
Siehst wie oben stumme Walten
Sich in Nebeldecten hüllen.
Siehst wie unten nusgestorben
Wild und Flur, wie kahl geschoren,
Um Dir Winter, in Dir Winter
Und Dein Herz ist eingefroren.
Plötzlich sollen aus Dich nieder
Weiße Flocken, und verdrossen
Meinst Du schon mit Schneegestiiber
half der Baum Dich übergossen
Doch es ift tein Schneegestiiber.
Merlst Du bald mit sreud’gem
Schrecken;
Dustige Frühlingsblüthen find es,
Die Dich necken und bedecken.
Welch ein schauersiißer Zauber!
Winter wandelt sich in aien,
Schnee verwandelt sich in Blüthen
Und Dein herz es liebt auss Neue. l
Die Wappenborvle.
Eine Berliner Geschichte von Else
Krafft.
Fritfches feierten silberne Hochzeit.
Es war eine große Aufregung in der
Familie.
Der Tag hatte sehr feierlich begon
nen. Vorn Gesangverein »Lerchr", dem
Milli, der iilteste Sohn, angehörte.
hatten vier Mitglieder schon am frü
hen Morgen ein Quarteit vor der
Schlafzimtnerthiir des Silberbraut
paares gesungen.
Vater Fratsche wußte vor Rührung
nicht schnell genug in die Stiefel zu
kommen, und Mutter saß aus ihrem
Bett und weinte. als ob ihr das herz
brechen müßte.
»O Gott, sie singen. Vatert«
»Ja, Mutter. schluchze blosz nicht so
laut, die hören's sonst.'· . ..
hannchem die Jüngste, Zehniähs
rige, begann mit Ueberreichung des
silbernen Myrteniranzes. Leider kam
sie nur bis zum zweiten Vers, bis zu
ter Stelle: »Wenn sie dir, Mutter.
heute drücken, Ins weiße haar den
Silbertranz, Dann mußt du uns ins
Auge blicken. Da siehst du auch nur
lauter Glanz« Jn diesem Au
genblick betam Kurt, der hinter ihr
mit einer Torte stand, von Grethe ei
nen Schubs, dasz die süße Spende
beinahe aus dem Teppich der guten
Stube gelegen hätte.
Jn der allgemeinen Aufregung
ionnte Hannchen ihr Gedicht nicht zu
Ende sprechen. und Mutter mußte sich
den Silberlranz ohne Verse auf den
Scheitel drücken lassen. Sie that dar
denn auch mit groszer Rührung und
umständnchrkit und tieß des vierzehn
jährigen Grethe Zeit, sich für ihren
Vortrag zu sammeln, der zu einem
selbstgefiickten Sophatifsen gesprochen
wurde.
»Wollt ihr unter Silbertränzen,
Auf dein Sopha mal faulenzen,
Dann entseucht den Kümmernissen,
Und beant dies weiche Kissen,
Das ich heut als Liebesgabe
Für Euch zwei gefriert habe« . ..
,,.f)at Willi selber gedichtet!« schrie
Kurt dazwischen.
»Wundervoll!« lobte Mutter. »Ich
lab’s ja immer gewußt. daß in
Wuan was Großes steckt«, und sie
blickte mit Stolz auf ihren Aeltesten,
der wie ein Sieger dastand.
Da ertönte Onkel Otto-S tnarrende
Stimme: »hai denn Tante Selma
schon was geschickt? Nein? Na, da
bin ich aber neugierig drauf!«
,,Sikber is mir ebenso lieb«, mein
te die Hausfrau. »Ich dente. sie wird
’nem Silberlasten schenken. Zu Tante
Emma bat se neulich gesagt, das
wars reellsie Geschenk zu 'ner Silber
hochzeit.
Man stand jetzt vor dem Tisch, aus
dem die Geschenke ausgebaut waren,
und kritisirte.
»Mindesiens fünf Mark«, taxirte
Vater Fritsche stolz.
»Na, na!«
Onkel Otto, der das Stück genau
untersucht hatte, schüttelte den Kopf.
»Kunstglas'«, sagte er verächtlich,
«kann aber trotzdem seine zwei Mark
sünsundneunzig gekostet haben. Ji
auch slir heinemannö Verhältnisse ge
nug. heute is man eben nich mehr so
großartig mits Schenken. Ein Cent
ner Kartoffeln is werthvoller wie sie
ben Oasen bei bie theuren Zeiten«
Mutter Fritsche nieste webmätsig
»Wenn ich da bedenke vor sliu te
zwanzig Jahren! Unsere prachtvollen
Hochzeitsgefchenlet Weißte noch« Va
ter?«
»Ueberhaupt die Bowle vom Krie
gerverein", feste der Vater hinzu.
Alle lachten.
Nur Mutter Fritfche regte sich.
»Es war inch ein feines Stück, ja
tvolll Blon furchtbar unt-taktisch
Man lonnte nie aus den zwölf zuckt
gen Gläsern trinken, ohne sich den
Mund aufzureißen an den Zinn
spitzen Bedenke doch, Emil, beinah
all die Wappen von die preußischen
Städte drauf, die Kirchen auch, blon
an die Ihürme da riß man sich eben
immer an das scharfe Zinn«..,
»Wir habt ihr denn das Ding ge
lassen?« forschte Tante Emilir. »So
rvas geht doch nicht laputt, wenns
aus Zinn war.«
Vater Fritfche lachte
»Wir haben die Bowle Karl zum
Jubliöum nach Königsberg geschickt,
da mußte man sich doch nobel machen.
in! Man wußte damals taum,
woher fo eine große Kiste nehmen, unt
sie wegzufchickrn« . . .
»Und Karl hat sie dann Lenchen
mitgegeben, als fie heirathete«, er
gänzte Mutter Fritfche.
»Lenchen?««
Tante Emilie hob den Kopf,
»Lenchen hat aber leine Bowlr.
Dann hätte ich sie schon mal bei ihr
aefehen.«
»Nein?«
Die Silberbraut regte sich schon
wieder auf.
»Da sieht man’s, wie solche Sachen
geachtet werden! Die hat Lenchens
Mann sicher verlaust oder versetzt,
dem is ja nichts heilig, dem Windi
lus. So’n tostbares Erbstück! Aber
Lenchen. die teine Kinder hat, die froh
sein sollte, wenn sie überhaupt was
Gutes in ihrer Wirthschast hat
ich verstehe das nicht«
Wege dich doch nicht darüber auf,
was vor zehn und fünsundzwanzig
Jahren war,« begütigte der Silber
briiutigarn« »Sein wir froh, daß
wir das Ungethiim aus so anständige
Weise damals losgeworden sind.
Heute schenkt man ja doch praktischer,
Gott sei Dant! Und nu kommt end
lich frühstiicken, Grethe hat schon alles
ausgedeckt. Herrje, laß doch endlich
mal den Cognac stehn, Vater. Otto,
Willi. ihr könnt doch nich schon am
frühen Morgen Schnaps trinken!
Nimm ihn doch mal die Flasche weg,
Emilie!«
»Tante Emilie flog mehr, als sie
ging.
»Du weißt doch, Otto, unter wel
cher Bedingung ich mit Dir die Reise
hierher zur Silberhochzeit gemacht
habe« . . .. mahnte sie vielsagend.
»Ja doch, ich weiß ganz genau«,
antwortete Ontel Otto, start, aber
liebevoll seiner Frau die Flasche ent
windend.
Man frühstiiclte in sehr gehobener
Stimmung.
Alle Augenblicke llingelte es tm
Korridor. Blumen und andere Gaben
wurden abgegeben, und jeder über
stürzte sich, diese Sachen auszupacken
»Tante Selma hat’s am Ende ver
gessen auf ihre alten Tage«, flüsterte
Grethe ahnungsvoll der Mutter zu.
Die lächelte nur. Tante Seltna ver
gaß nichts. sie war die Gewissenhaf
tiateit in Person.
Die Gratulanten kamen und gin
gen.
Fünf Myrtentöpse mit ausgesteckten
Silberbliithen waren schon beisam
men. Man würde die Brautlriinze
sür Grethschen und hannchen später
mal nicht zu lausen brauchen.
Gegen Mittag stürzte Kurt vom
Fenster, an dem er fortwährend her
umlungerte, ins Zimmer hinein.
»Ein Nollwagen, Mutter, eine
Kiste, Vater, eine Riesenliste kommt!«
Mutter Fritsche legte unwillkürlich
die band aufs Herz.
»Der Silberlasten«, durchsuhr es
sie schmerzhaft süß.
j Vater Fritsche stürzte seinen sechsten
Cognac herunter und suchte nach dem
Poetemannaie, um dem Rolltutscher
auch ein anständiges Trinkgeld zu ge
ben·
Onkel Otto und Tante Emilie wa
ren still. Jhnen schenkte Tante Sel
ina nichts mehr, seitdem sie in siins
zehn Jahren einmal ihren Geburts
tag vergessen hatten.
Die Kiste tam wirklich. Der Fuhr
mann wollte sie in den Korridor hin
einbringen und trocknete sich die
Schweißtropfen von der Stirn.
hannchen hatte ihm den Frachtbries
bereits aus der Vand gerissen.
»Von Tante Selrna, wahrhastig!"
srohlockte sie.
Mit vereinten Krästen wurde die
Kiste in den Solon getragen, als der
Mann sort war. Das war seierlicher,
wenn man dort auspaatr.
»Eine Zange«, befahl der Silber
bräutigarn.
»Ein Stemmeisen«, tommandirte
Onkel Otto.
,,Finaer weg!« schalt die Silber
braut. »O Gott, is das nett von dem
alten Tantchen!«
Langsam, aber sicher hob sich der
Kistendeckel, unter dem man zuerst
nur sehr viel Holzwolle fah.
»Vorsicht!« mahnte Vater Fritsche,
aufgeregt in die Wolle hineingkeifend.
»Autsch!« s rie er gleich darauf.
»Amt« as war Kurt, der mit-.
gegriffen hatte und dessen Finger
blutete.
Eine große Stille folgte diesen bei-.
den Rufen. Denn der Silberbriiuti
gam hatte aus der Holz-wolle ein
Stück herausgeholt, eine Art antiken
Trintbecher, aus dem ein Wappen und
eine Kirche in Zinn geprägt waren,
Grethe auch einen, Willi auch einen,
bis das Duyend voll war. Unter die
sen Trintbechern kam dann etwas
Großes, Mundes, sehr blank Geputztes
zum Vorschein » . .
»O das das is ja«
»Die W« ..... Wappenbowle«,
vollendete Vater Fritsche muthig.
»Ein wundervolles Stück«, sagte
Tante Emilie, wie befreit ausath
mend.
Die Kinder ticherten, schwiegen
aber sofort, als sie das Gesicht der
Silberbraut sahen.
Und Willi las den Begleitbrief der
lieben Tante.
»Gottes Segen über dich, du ge
liebtes Silberpaari Es ist etwas
sehr Kostbares, was ich Euch heute
schicke, und ich danle dem Zufall, der
mir eine so wundervolle Sache in die
Hände spielte. Jch habe weder Kosten
noch Mühe gescheut, um« . ..
»Hör auf«, bat Vater sFritsche
matt.
Und Onkel Otto versuchte zu
trösten:
»Sie wird es von einem Trödlet
getauft haben, das Geschenk, unsd ge
wiß viel Geld siir so ein antites Stüc;
bezahlt haben, bedenkt doch, siinsu·nd
zwanzig Jahre ist es von Hand zu
Hand oeaangen« .. .
»Fünsundzwanzig Jahre«, wieder
bolte die Silberbraut. Sie sah Va
ter an, und plöklich lagen sich Silber
braut und Silberbräutigam weinend
am Herzen.
Sie mußten diese große Wieder
sehengsreude gemeinsam tragen.
Der Patient im Blumenreiche.
Von Tr. H. Vottisch von Blatt-n Miss.,
Arzt in Hunnen
Es riittelt jemand an derTbiire mei
nes Sprechzimmerg in der Polillinik
nnd ich deute zunächst, es sei das Büb
lein der Spitalwäkterin, das mich hie
und do mit seinem Besuche beehrt.
Aber plötzlich gellt eine laute Stimme
durch den langen hausgang: yi san-.
tcimi imi li: heilendes Leben wo? d.
b. Arzt, wo bist du? und dabei wird
ärger gerüttelt. Jch rufe: tmc
hereiin aber der Patient hat scheints
wie schon viele die Thürangel statt der
Thiiksalle in die Hand genommen, um
dieThiir zu össnenl Unsre europäischen
Thüren sind auch gar so umständlich
den chinesischen gegenüber, die teine
Falle, sondern nur ein Kettchen oder
Oesen haben, um mit einem Malschlosz
beiNacht geschlossen werden zu können.
sJch komme dem Suchenden und
Schreienden zu hilsr. Mit Bückling
und zusnmntengeleqten Händen, dann
sogar mit einem Kotau begrüßt mich
der Mann, tust hieraus seinen- Sohn
und befiehlt ihm, sich ebenfalls vor mir
nus den Boden zu werfen. Meine
Abwehr hilft nichts.
Endlich sitzt der Herr, ein zur Aus
nahme mal sauber gelleideter Chinese.
in schönem. langem, blauem Rod, gei
ben Hosen, violetten Ueberhosen ——- wir
sind im Winter —, weißen Strümpfen
nnd schwarzen Samtschuhen. Er
fragt mich nach meinem »hohen Ge
schlecht", und ich nenne ihm meinen
,.nnwiirdigen« Namens so, den ich mir
in China wohl oder übel zulegen muß
te: sonst gälte ich als Barbar und als
heimathlos! Er fragt mich nach der
Zahl meiner Söhne und nach den ,,tau
send Goldstiiclen«, das sind die Töchter,
derenVerheirathnng oderVertaus einem
ein nettes Stimmchen eintragen können.
Er fragt, wie viel Geld mein Rock to
stete und wie lange ich im «Blumen
reiche« weile, wie alt ich sei und ob es
solche Spitäler wie hier auch in meinem
»aeehrten Reich« gebe kdabei wußten die
Ghinesen vor uns kaum etwas von eis
nem richtigen Spital!)? Endlich rückt
er heraus, dasz sein »Hanöfloh« da —
er meint seinen Knaben, dem er, um
die Mi, gnnst der Geister nicht zu er
regen, d esen schönen Namen betlegt —
einen bösen Zahn habe. . . ·Dem Uebel
stand war gleich abgeholsen, und da
der Zahn bereits wackelte, war’s ohne
Schmerz gegangen. Glücklich und
verwundert fiel-PS der Vater des
«Hausflohs« und läuft plötzlich zur
Thür hinaus. Und dann lracht’s
draußen: ein-, zwei- bis hundertmall
Es war ein Paket Fenerfriische, die der
dankbare Vater mir zu Ehren anziin
bete — das Geld wäre mir, d. h. mei
nem Spital lieber gewesen!
Nachdem die beiden mit vielen Bäck
lingen ihrer- und natürlich auch mei
nerseitsS verabschiedet sind, lommt eine
Frau, die mir vieles erzählt, aber von
mir nicht verstanden wird, da sie eine
besondre Mundart spricht. Selbst
mein Sprachlehrer, den ich stets zur
Seite habe. ,um die Bücher zu führen
oder meine oft noch etwas gehackt und
in falscher Melodie gesungenen chinesi
schen Worte, die bekanntlich in sechs
bis acht Tonarten gesprochen werden
müssen, zu übersetzen, selbst er wird
nicht klug. Jch rufe deshalb den Spi
taltateehiften zu Hilfe und den Apothe
ter und den Assistenten, alles Leute mit
hellen Köpfen und langen Zöpfen und
bekomme mit ihrer Hilfe schließlich her
aus, dasz ein Nachbar der Frau den
Geist ihres Kindes »vertviinfcht« habe
nnd das Kind nun schwer ertrantt sei;
sie habe lange auf Kreuzwegen gestan
den. um die Seele zurückzurufcm aber
es sei noch Arznei nöthig die sie nun
von mir wünsche. —- Jch sagte ihr, daß
ich ihr .,verwiinschtes« Kind erst sehen
und untersuchen miisse, um zu wissen,
was ihm fehle und zu geben sei! —- Die
Frau ging und kam nicht mehr-; einer
meiner «.siollegen«, jener alleswissendeu
Quacksalber, die ihren Fingernäaeln
oft mehr Sorgfalt zuwenden als ihren
Patienten, hat wohl das richtigeTränl
lein verordnet und sichs gut bezahlen
Jlassen!
Die schlimmsten und ärmsten meiner
Patienten sind die Aussiitzigem deren
es in China sehr viele gibt. Oft dür
sen sie ja mit ihren-Familien zusammen
wohnen, wobei sie aber ihre schreckliche
Krankheit gar leicht auf andre übertra
gen; oft aber werden sie auch aus-gesto
ßen u. müssen heimathlos bettelnd ihr
Leben fristen So wurde hier in ei
nem dem Spital nahen Tempel eine
Frau ausgesetzt, die sbäter an meine
Thiir klopfte. Sie erzählte mir, daf;
ihr eigener Sohn sie bei Nacht habe
forttragen lassen mit den liiaenhasten
Zusicherungem sie in einem Spital hei
len lassen zu wollen; aber man habe
sie ausgesetzt und mittellos ihrem
Schicksal überlassen. Auch icb mußte
sie abweisen, da mir sonst mein ganzes
Person-il und alle Patienten weggelau
fen wären. Das Herz that mir weh,
das-, ich sie nur mit Geld, etwas Arznei
und guten Worten abspeisen mußte,
statt ihr bei mir Zuflucht zu gewähren.
Sie ging von mir weg nach dem nahen
Fluß und niemand hat sie mehr ge
sehen! — Ein andres Mal brachte mir
ein aus der Gemeinde ausgeschlossener
Mann seine Frau und erzwaug sich ge
raderu e·in Zimmereben im Spitalge
höfte; aber es gab Unruhe unter mei
nen Leuten, und fast mit Gewalt muß
te ich die Armen forttreiben, denn ich
hätte es doch nie verantworten lönnen,
wenn jemand angesteckt worden wäre.
Jch gab der Aus-sättigen etwa fiinf
Mart, damit sie nach dem nächsten
Aussiitzigewttlsyl — etwa acht Tage
reisen weit weg — fahren könne. Wie
ich nachher hörte, war sie die Schwie
gertochter eines untreueu Katechisten.
der ein schweres Vergehen begangen
hatte, aber sich verschwor, unschuldig zu
fein. »Meine Nachkommen mögen den
Aussatz kriegen, wenn ich lüge,« rief er,
nnd —- sie sind aussätzig geworden·
Einst bat mich der Offizier der auf
dem Flusse als Wache stationierten
Soldaten — es gibt noch viele Fluß
räuber hier, wie ich und meine Familie
selber erfahren mußten —, ich möge
doch kommen und ein Schiff voll Leute
untersuchen, die angaben, sie seien aus
sähig Ich untersuchte ein bis zwei
Dutzend und konnte kein Anzeichen der
Levra finden. Darauf drängten die
Soldaten diese Leute in ihr Boot zu
rüet und zwangen sie zur sofortigen
Abfahrtt es waren Mädchen- und
Frauen-Ränken die unter dem Deck
mantel des Aussatzes ihr schändliches
Gewerbe zu betreiben suchten. Denn
in Wirklichkeit aibt es ganze Banden
thatsiichlichAussiitziger, die mit obri-g
keitlichemErlaubnißschein versehen das
Land durchziehen und auf Bettel ange
Jwies-In sind
Es war nicht das einziqe Mal, day
ich, nie oben etwcihnt, von Soldaten in
Anspruch genommen wurde. Ich könn
te nnch ohne Uebertteibung Genetalatzt
der chinesischen Osifluß Armee nennen!
Wie oft geht den manchmal recht lum
pia aussehenden, noch wenig ausgebil
det-in Soldaten das Gewehr am fal
schen Loche los! Wie oft lassen sie sich
von Raubern eines ausbrennenl sie
Fund da machen sie soaar mit den Räu
bern gemeinsame Sache und werden
von ihren reichstreuen Kollegen ver-·
mundetl Da gibt es gar oft Verletzun
gen, Schußwunden und dergleichen.
Der Herr Osfizier gibt dem Patienten
seine rotheBisitentthe mit und schickt
ibn — zu mir! Schon mancher lag
Wochen und Monate lang bei mic. Ei
nen brachten sie einmal zu viert auf ei
ner Tischplatte in das Spital, dem das
Bein zertrümmert worden war. Und
meistens-, so wenig die Soldaten selbst
ihrenSold ausbezahlt bekommen, eben
so wenig erhalte icb den meinen als Ge
neralarztt Da habe ich daheim beim
deutschen Heer als Unterarzt in sechs
Wochen mehr verdient, als hier in vier
Jahren als Generalarzi. Aber diese
S-oldaten Patienten freuen mich doch!
Sie sind zum gutenTheil deriAbschaum
des Volkes und kommen mit frechen,
unfreundlichen Mienen zu mir; aber
hie gute Behandlung die ihnen im
Missionsspital zutheil wird, thut ost
Wunder-: von Tag zu Tag hellen sich
die miirrischen Gesichter auf, und hatte
man anfangs sasi Angst vor ihnen, so
ist oft am Schluß ein zutrauliches
Verhältniss zwischen Patient und Arzt
zustande aelommen.
Viele Patienten kommen mit Ge
iebwiirem die deshalb entstanden seien,
treil die Leiche des Vaters verkehrt im
Grabe liege! Oder mit einer rheuma
tischen Vertältung, dadurch gekommen,
daß das neue Hofthvr nicht mit den
Regeln der Wind- und Wasserlehre
übereinstimme!
Die meisten sind sehr erstaunt, wenn
ich nur einen Puls greife — denn bei
den Chinesen erkennt man am rechten
Puls ganz andre Dinge als am linken.
Sie frirchten sich. wenn ich mit dem
Hörrvhr komme und nehmen es hernach
vorwitzig in die Hand und gucken durch.
Geradezu ungläubig und erschreckt sind
sie, wenn ich behaupte, in dem geschwol
lenen Leibe sei Wasser! Jhr Arzt habe
doch deutlich gesagt, es sei Luft, und
selbst derGötze, den sie unt-Rath gefragt
hätten, habe nichts von Wasser verlau
ten lassen. Wenn ich aber mit dein
Troitar den Beweis meiner Weish
gisng erbrinae, werden dieLeute schließ
lich doch bekehrt und rühmen meine
Weisheit in chinesischer Ueberschweng
lichteit.
Einer, der im Tragftuhl hergebracht
wurde Und etliche Zeit im Missionsspi
ta! wohnte, wurde siebzehnmal von
mir wegen Bauchwassersucht punltiert
und durch Gottes Gnade wirklich ge
heilt. Als er wieder seinem Geschäft
uachgehen konnte, kam er einmal in
tangem Zuge mit Pfeifern und
Tronsinlern »in mir her, nachdem er erst
durch die ganze Stadt gezogen war
u. dort für den MissionSsPitalarzt Re
tlanie gemacht hatte. Jn der Verklei
isung eine-J hohen Gelehrten, um mich
,,u ehren, neigte er sich vor mir und ließ
mir nebst einer Ehrentafel mit golde
nen Zeichen noch etwa zehn Geschenke
iiberreicliem worunter ein geickmortea
Spanierkei. Reiswein, Kuchen nnd
Eier waren. Tag war sein Dank.
Doch wie selten sind solctke dankbaren
Leute in Chiusi! Meinen die Ehinesen »
doch immer, wir Missionare und Mis
tionsärzte seien entweder gekommen, s
um uns zu bereichern, oder gelomment
im Auftrag und Sold unsers Kaisers-. i
»Wieviel zahlt dir der deutsche Kai
ser?« ist eine geläufige Frage an »
uns. Und wenn wir deutschen Mis-l
sionsärzte im Innern des Landes auch
Pioniere sein dürfen deutscher Kultur
und Wissenschan so liegt uns doch die
Uebung barmherziger Liebe vor allem
am Herzen und der Wunsch, den Leu- !
ten das Christenthum mit derTshat zu ?
zeigen, während wir die Worte mehr ;
den Missionaren überlassen. Hie und I
da wird dieses unser Bestreben auch
anertannt; fo, als ich einst einer
Frau, die vom Schiff in den Flan ge
fallen war und um die sich kein Mensch
sonst liimnierte, vom Ufer aus nach
kprang und sie ans Land zog, um Wie
derbelebungsversuche zu machen, s
damals hörte ich von manchen sagen :
gi siehip tun Fu ein :: er zehn Teile
haben Herz, d. h. er hat ein sehr gutes-,
freundliches Herz.
Aber die große Mehrzahl der Umne
fen wünscht uns «fremde Teufel« zum
Land hinaus und sucht aus etwaigem
Unglück, das uns trifft,Vortheil zu zie
ben. So erlebte ich es, daß, als eine
Frau an Starrlrampf im Spital
starb, lhr Mann, ein blinder Wahrsa
qer, achtzig Mart von mir erpressen
wollte, und als ich sie ihm abschlug,
einfach die ganze Beerdigungsange
lenknheit mir überließ und nachher in
Leitunan die Kunde ausstreute, ich
hätte seineFtau getödtet und ihre Ein
qeweide zur Medizinbereitung heraus
aefchnitten. Glücklicherweise hatte der
Mann aber doch etn schlechtes Gewissen
dabei und befragte etnen Geist, wie er
steh gegen mich verhalten sollte. Und
der Geist war scheint’8 modern ange
daucht und nicht so rückständig wie der
Wahrsager selbst, denn er soll den Aus
spruch gethan haben: »Laß den »freisi
den Teufel« in Ruhe; denn er meinte
es gut mit deiner Fr u!'
Die Wahrsagerei spielt überhaupt
seine aroße Rolle bei Gesunden und
; Kranken. So berichtete mir eine
Frau, der ich mit Erfolg den grauen
Star gestochen hatte, ganz sreimiithig.
daß sie erst einen berühmten Götzen be
fragt habe, ob ich sie heilen werde; seine
Antwort sei allerdings Nein gewesen,
aber sie habe es doch probieren wollen
und glaube jetzt, daß wir mächtiger
seien als der Götze. Sie hat mir auch
gerne das verlangte Honor-an etwa vier
Mart alles in allem, bezahlt.
Gar ost werde ich nicht in baarem
Gelde, sondern mit Naturalien bezahlt
und sehr ost überhaupt nicht, sodaß
wir siir unsre Arbeit noch reichen Zu
schuß von den Freunden daheim brau
chen. Mit Wehmuih denke ich dabei oft
an Attila zurück, wo ich, aus der Gold
liiste und in Kamerun, nicht nur kei
nen Zuschuß von Europa brauchte, son
dern noch übrig hatte! Die Neger wa
ren durch ihren Kalaobau im Besitz
von Geld, und ich erhielt durchschnitt
lich von jedem Patienten drei Mark.
Und hier in China? Kaum zwansii
Pfennig! Und das macht bei 4——60t)0
Patienten im Jahr einen großen Un
terschied aus!
Viele Chinesen wollen auch nichts
zahlen u. schützen ihre Armuth »vor, die
ich natürlich nicht jedesmal erst durch
Zeugen mir bestätigen lassen kann. Es
gibt wohl keine habgierigeren Menschen
als Chinesen, und der gilt für den
Klügsten, der, auf welche Weise auch
immer, viel Geld an sich bringt oder es
sich erspart — aus Kosten anderer!
Da thut es einem besonders wohl,
wenn Ausnahmen kommen.
Jsch hatte einen Mann, der eines
Beingeschwürs wegen täglich in die
Poliklinik kam, und täglich brachte er
mir mangels andrer Zahlungsmittel
eine Stange Zuckerrohr mit. Andre
schenken mir-Hühner, Eier, Theeblättet,
Gemüse, Kuchen, Zuckerwerk oder la
den mich zu einem Festmahl ein. Es
kommt sogar vor, daß man mir das
eigene Kind anträgtl Das will aller
dings nicht immer viel heißen, denn es
hat sich thatsiichlich ereignet, daß eine
Chinesm eine Missionarssrau um ihr
Töchterlein bat, als Schwiegertöchter
chen für ihren sechsjährigen Sohn.
Und was wollte die Chinesin dafür ge
ben? Ein junges Schwein!
Das Lustigste. was mir passierte
mit der Bezahlung, war folgendes:
Eines Tages erscheint ein Mann und
läßt sich auf sein siin gun untersuchen.
Hins um« heißt Herz und Leber und be
deutet alles am, um und im Magen;
Leber wie Lunge. Herz wie Magen, Ge
» därme wie J)tilz. Jch hieß ihn sich
lausziehen und mir die Stelle zeigen.
Das war aber schneller gesagt als ges
than: denn der Mensch hatte zwölf
Röcke übereinander an. Die Leute
tragen ja zumeisi nur baumwollene
Kleider, und wenn’s kalt wird, nehmen
sie schließlich ihre ganze Garderobe zu
Hilfe! Nachdem das Dutzend Röcke
endlich ausgeknöpft war, die Untersu
chuna fertig gestellt und alles wieder
fein säuberlich zugedeckt war — die in
nersten Jucken sahen sehr unappetitlich,
um nicht zu sagen schmutzig, aus, —
gab ich meine Alrznei und meine Rech
nung. Letztere lautete auf dreißig
Pfennig!
»Ich habe kein Geld bei mir,« klagte
der Rockreiche.
»Ich muß,« erwiderte ich, »meine
Arznei doch auch kaufen und kann sie
nicht verschenken. Wer zwölf Röcke
hat, hat doch gewiß auch Geld drin.«
Er beteuerte nochmals, keines zu ha
ben. Dann leuchtete plötzlich sein
gelbes Angesicht auf, und vor meinen
Blicken zog er sich ein paar Hosen aus
--— legte sie auf den Tisch und sagte
freudig: »Nimm diese als Bezahlung,
großer Mann!« (Letzteres ist eine Eh
ren-Anrede in China.) Aber ich bat
ihn, sich seiner warmaneinhüllen nicht
zu begeben und sagte ihm: der gute
.Wille genüge. Da zog er froh sein
Höslein wieder an und dann -- seine
s Straße weiter.
—- -——-----s. Op- — —
f Nach der Ansicht des Nichtekg Lal
shaiv in Kansas City besteht die Ver
brecherwelt meistens ans kleinen, kör
perlich schwachen Leuten. Er wird
vielleicht eines anderen belehrt werden,
wenn einmal am Eingang einer Sei
tennasse ein breitschultriaek Wegelage
ret seine nähere Belanntsrltnst zu nan
chen sucht.
Il· II Ist
Die beste Retlame fiir eine Stadt
sind gute, angesehene Zeitun en, denn
deren Bestehen läßt eine in elliqente,
sortschrittliche Bürgerschaft voraus
setzen, die solideGrnndlage aller wirt
schaftlichen Entwicklung.