Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, May 26, 1911, Zweiter Theil, Image 14

Below is the OCR text representation for this newspapers page. It is also available as plain text as well as XML.

    Der Kunstreiter
Erzählung
von Friedrich Gerstäccer
1.
Ins der hauptpromenade der Resi
adl M herrschte heute. bei dem
Mordeniliek srenndlichsen und war
Uen Wetter. reges Leben. Dieser
M lag am entsetntesten von dem
Weibe-In das gerade jest die übrige
Mr ersällte, und zahlreiche Equipai
" snhren aus und ab, während dassT
We Laub der Parlanlagen selbstj
eins Menge Fnßgiinger angeloat hatte. ;
VI kam plötzlich eine ganz ungewohnte ;
Bewegung in die vor wenigen Minuten !
noch so ruhig Promenirenden Eins
großer Bollshnuse wälste sich dont
oben die breite Hauptstrasze herab, nnd
die Equipagen drehten um und fuhren
aus dem Wege, während die meisten
der Fußgönger dem Schwarme eben:
falls auszuweichen suchten.
i junge Damen, von einein Kli
t er-Ossizier begleitet, blieben un
schiliissig sieben undfsaben den Weg
sinnt-s
«Wenn wir zurückgeben,« sagte die
ältere von ihnen, »so verfehlen wir je
denfalls Pape-. der gerade in dieser
Stunde aus dem Ministerium kommt,
und wir haben versprochen. ihm bis
Werber entgegen zu gehen. Was tann
das nur sein?«
«Jedensalls irgend ein Meßzng,« er
widerte der Offizien »wenn wir einen
Augenblick in der Veranda jenes Cafes
Schutz suchen, wird sich die Menge vor
überwälzen und verlaufen«
Unterder mit allen möglichen Blu
neen nnd Pflanzen der Tropenwelt ge
schmückten Veranda fand sich so nach
und nach in gleicher Absicht eine zahl
reiche Gesellschaft von Herren nnd Das
sen ein, nnd wie sich dort eine Menge
Bekannte lrasen, sammelten sich plan
detnd und lachend kleine Gruppen.
Unter einem in vollen Blüthen pran
senden Granatbaurne hatte sich die
fange, reizende Comtesse Melanie, die
Tochter des Kriegsministers v. Rol
sbem mit ihrer jüngeren Schwester aus
ein paar leichten Rahe-Fauteuils nie
dergelassen. Der Menschenschwarm
stockte oben in der Straße, und es
dauerte eine Zeit lang. bis er sich wie
der in Bewegung setzte. Die junge
Eamtesse hielt einen Becher mit Erd
beer-Gesrorenem in den zarten Fin
gern, nur langsam dann und wann
daran lastend, und neben ihr, beide
hände aus den zwischen seinen Knieen
stehenden Pallasch gesinnt saß Gras
Wolf v. Geyerstein, Rittmeister eines
Kiirassier - Regiments in III-schen
Diensten. Gras Generstein stammte
aus einer alten norddeutschen Fami
lie und war ein deutscher Edelmann
im schönsten Sinne des Wortes. Von
ernstem — siir seine Jahre vielleicht
zu ernstem — Wesen. mischte er sich
dabei selten oder nie in die leichtferti
kn Vergnügungen der Kameraden
nnd wenn ihn auch Manche für stolz
nnd kalt hielten, schlug doch ein für
sites Gute warmes Herz in seiner
Brust
Jn diesem Augenblicke hatte aber
die reizende Plauderin an feiner Seite
den Ernst aus den edlen Zügen ge
bannt. Das ossene dunkle Auge hing
lächelnd an den Lippen der schönen
Nachbarin nnd lauschte, weniger dem
Sinn, als dem Klange der Worte· die
wie das Rauschen eines murmelnden
Waldquells zu ihm drangen.
»Aber nun sagen Sie mir um Got
les willen, an was Sie jetzt gedacht
haben!« unterbrach sich da plötzlich
Melanie, indem sie ihren kleinen Teller
senkte und sich halb gegen ihren Nach
bar wandte.
»Ich, Comtesse?« ries der Gras,
halb erschreckt wie aus einem Traume
aussahrend. und er fühlte dabei. daß
g« erröthete, «wahrhaftig nur an
Ie.s
»An mich?« sagte die Dame, uns
gläubig rnit dein Kopfe schüttelnd
»und zweimal habe ich Sie indeß ae
fragt, ob Sie den jungen Grafen Se
liioff schon gesprochen, ohne daß Sie
mir auch nur mit einer Silbe geant
wortet hätten«
»Und doch war ich bei Jhnen.« ent
gegnete mit herzliche-n Tone der junge
Mann. ,,3iirnen Sie mir nicht, daß
ich den Sinn der gleichgültigen Franc
dabei überhörte."
»Gleichgiiltige Fraae?« lachte die
Comtesse, »und woher wissen Sie.
here Riitmeifier« daß mir die Frage,
oder vielmehr deren Beantwortuna,
aleichaiiltig war? — Aber ich sehe,
Sie sind heute wieder in einer ver
zweifelten Stimmung-. Man muß er
staanliche Geduld mit Jhnen haben«
»Und nicht wahr, Comtesse, die fehlt
Ihm-W Schelle der Geni.
Messer können Sie sich wahrlich
nise beklagen, und ich weiß gar nicht
— site III ist posi« unterbrach sich
Ue ius- Dame tin nächsten Augen
ducke W als jene lärrnende, wo
pste Wenige die Straße her
W. Eins-ins Trompeten
Iise tout-den dazwischen laut, und der
Itsf W III-HO- Msut cui
m ist heeelichP tief die Com
M sk, Reis-ist jüngere
»das Ist-i die Kunst-reitet
na sen-sagst i
WM mit sei-m Ins-IT
der seine Tour durch die Residenz
macht, um sich dem Publikum darzu
ftellern Letzte Wache hat er auf dein
doWefpannten Seile getanit, und die
sen Abend wird die erste Vorstellung
in dem ers-l heute fertig gewordenen
Circus lein.«
»Du bist ja sehr genau unterrichtet,"
lächelte Melanir. »Den-en Sie diesen
Monsieur Vertrand schon gesehen. herr
Graf? Er soll in seiner Kunst ganz
Ausgezeichnetes leisten.«
»Noch nicht. Corntesse,« erwiderte
der junge Mann. »Ich liebe derar
tige Kunststücke nicht. und das Seil
tanzen vor Allein ifi mir das Vernah
teste, Entwürdigendsie für den Men
lchen.«
»Und weshalb?« Gehört nicht ein
außergewiihnlicher Muth dazu, um
sein Leben in schwindelnder Höhe auf
dem schwanken Seil zu wagen?«
»Es ift das lein Muth mehr, den ich.
in dern Manne gewiß ehren würde.«
erwiderte der Rittrneiiter. »londern
nur eine verzweifelte Tolltiihnheit,
welche Glieder und Leben urn wenige
Thaler alt um Groschen preisgibtx ja. s
nicht selten sogar lautn mehr als feige
Furcht durch Arbeit eine Existenz er
ringen zu iniissen. die jedenfalls ehren-«
voller wäre als solch ein Dasein.« J
»Sie urtheilen zu ftreng.« (
»Ich glaube kaum. Es isi wenig-;
stens meine Ueberzeugung.« -
»Und doch fühlen sich die Menschen
gliicklich in ihrem Berufe.« .
»Das kann ich mir taum denken-«
erwiderte kopfschüttelnd der Gras.
-Aeußetlich mag es allerdings so schei
nen; wer sie aber beobachten könnte,
wenn sie sich nnbeachtet wissen, möchte
doch wobl ein anderes Urtheil über frei
stillem Aber da kommen sie: ich tannj
wenigstens die wallenden Federn eines«
Baretts oder helmssettennen.« !
Hunderte von Menschen drängtenl
indessen lachend nnd erzählend vorbei
um mit dem Zuge zu gehen und den
Marsch mit anzuhören, den das ge
mietbete Musiteorps blies. während
Andere wieder stehen blieben, die wun
derlich getleideten Gestalten an sich
vorbeipasiiren zu lassen. So etwas sa
hen sie nicht alle Tage.
Und macht es nicht einen gar ei
gentbiimlichen Eindruck aus den Zu
schauer, plötzlich, in dem wirtlichen,
bestimmt ausgesprochenen Alltagsle
ben, das ihn nach allen Seiten um
giebt, und in dem ihn das geringste
Außergewöbnlichse schon störte ja selbst
im hellen lichten Sonnenschein Man
tastisch ausgepuhten nnd aeschmintten
Menschen zu begegnen? Die unteren
Schichten der Bevölkerung. mit den
Kindern, freuen sich allerdings dar
über. Sie seben nur die äußere Hülle
das Flittergold und die wallenden
Federn die gestickten Wämmser und
bunten Farben. Den Gebildeten über
tommt bei solchem Anblick aber sast
immer ein eigenes unbebagliches Ge
siibl —- nicht der Bewunderung etwa,
sondern eher des Mitleids mit den
Unglüalichen die solcher Att, in ib
rem glanzenden Elend äußerlich
stolz und guter Dinge doch nur —
..an der menschlichen Gesellschaft vor
über — den Pranger reiten«.
Weit anders ist es mit der Buhnr.
Hier toird uns ein abgerundete- nnd
in sich sest stehende-S Kunstxoerl von
Künstlern oorgesiihrt, und die vbantas
stischen Trachten, die durch die csous
lissen ihren wahren Hinterarund,
durch die Lichter ihre richtige Beleuch
tung erhalten, stören uns nicht, ja,
sind sogar nöthig, die Täuschung zu
vollenden. die uns in andere Zeiten.
andere Sitten versetzen soll. — Hier
dagegen, wo die Häuser, in denen wirl
selber wohnen, den Hintergrund sor
men und wir in eigener Person, so
bald solche abenteuerliche Gestalten
zwischen uns und aus ihrem Rahmen
heraustreten, Mitsvieler in dem Dra
ma werden, schaut uns der Ernst des
Lebens nur so viel greller aus solchem
Spottgebild entgegen.
Aber ähnliche Gedanlen ersiillten
schwerlich die Herzen der lörrnenden
Schnar, Idie gerade jetzt die Straße
herausgezogen lam, bis dicht am Case
stancais vorüber, von tvo aus«- man den
bunten Trupp vollkommen gut über
sehen konnte. Wenn auch das Volk —
Arheiter, Kinderntiidchen und Müßig- «
gänger —- einen sesten Wall an dert
Seite bildete, so ragten die berittenen
und phantastisch geschmückten Gestal
ten doch über die Mit-se dieser hochl
hinaus· Voran ritten detn Zuge zwslss
Trompeter in rothen. abgetragenent
und oeeschossenen, mit unächten Vor
den liebsten Unisoernen, ungeschickte«
hohe Czaios mit rothen nnd meistens
Federbüsche-i aus dem Konse, unt-I
bliesen einen schmetternden Marsch.
Der Zug wollte gesehen werden« und
se mehr Lärm sie dechalbmaetkeru
desto besser. Unmittelbar hinter die
sen folgte der herr der Schaut, der
oeriihmte Monsieur Vertraun-, in ei
nein reicbeststem schwarzsamtnen-n
»sama«-, ein schwarzes Bat-erkenn
dein We mit Date-den schneeweißen
Strauß-niedern die m einer mit ie
denssss Wien Steinen besehten
Ist-Ue »Ah-tie- roueden.- G tue
eine hohe, männliche Gestalt. mit edlen
Zügen, so weit sich diese nämlich unter
dem nach osorn gerückten Bautt unt
dem vollen dunteln Bart ertenkten
ließen. Ernst nnd schweigend dliette
der Reiter aber aus den Raps seines
sRappen nieder, der unter ihm sprang
kund tanzte; weder nach rechts noch
links schaute er hinüber, und schien die
Iidn umtobende, jauchzende Menge so
wenig zu hören, als ob er allein durch
eine Wiiste ritte.
! Den Gegensatz zu ihm bildete eine
wanderschdne Frau an seiner Seite
Eine wahrhaft junonische Gestalt. mit
Augen voll Gluth und Leben und in
seuetsardene goldgesticlte Seide ge
lleidet, diindigte sie den wilden Fuchs.
den sie ritt, doch mit der tleinen Hand
so kräftig und hielt ihn so sesi irn Ziis
gel, daß er seinen Plah innehalten
mußte, er mochte wallen oder nicht«
Dabei neigte sie sich mit holdem
Lächeln bald hier, bald da hinüber,
einem oder dein andern der Gräben
den zu danlen, und nichts entging
dem scharfen Blick der liihnen Reite
rin.
Die Gesellschaft die bis dahin in
der Veranda des Cases gesessen, war
sämmtlich ausgestanden, um den Zug
besser übersehen zu tönnen und Corn-«
tesse Melanie sagte fest:
»Das ist die sogenannte schone
Georgine, die Frau des Seiltänzers.
Sehen Sie nur, Herr Gras, wie sie so
teet nach uns herüberscbaut." Jhr
Nachbar erwiderte lein Wort, und als
sie sich erstaunt nach ihm umwandte,
hielt e den Blick fest und starr aus die
Gruppe gehastet —- ia« es schien ihr
fast, als ob alles « lut seine Wangen
verlassen hätte. .
»Ei. ei, herr Rittrneister!« flüsterte
die schöne Comtesse, während ihr ein
Gefühl durch das Herz guckte, von dem
sie sieh selber teine Rechenschaft geben
lonnte oder wollte, «wie mir scheintJ
haben Sie dort driiben eine alte Des-I
tmmtschast entdeckt.« «
»Ich glaubte es im Anfange. Corn
tesse, aber ich habe mich geirrt. Es;
war nur eine Aehnlichkeit- wie man sie i
ja so oft im Leben sindet.«
Wildes Jauchzen und Geschrei. so
wie Lachen und Jubeln der Masse
til-ertönte in diesem Augenblick seine
Worte. denn hinter dem Zuge, der ge
rade jetzt vorüber war, lam der Hans
wurft der Trupde in buntscheckigem
Anzuge, die weiße spitze Filznriise aus
dem Kopf. das Gesicht aus die arellsie
ise bemalt, aus einem kleinen Pont
na geritten. Aus diesem aber fiihrte
er die grotestejten Künste aus: bald
stand er auf dem Kopf, bald über
schlug er sich, bald war er unten und
suhr mit seiner Peitsche unter die
treischend zurückdrängende Straßen
jugend, während er im’ nächsten Au
genblick wieder rittlings aus seinem
Thiere sasz und den Nachfvringenden
Gesichter schnitt. Das Voll schrie
und jauchzte dabei vor Vergnügen,
und selbst die in dem Gedränge mit
gebenden Polizeidiener oergaszen siir
kurze Zeit ihren sonstigen Ernst und
lächelten.
Mit dem Hanswurst wogte aber
auch der Menschenschwarm vorüber,
und wie die Trompeten in weiter
Ferne vertlanaen nahrn die Straße
wieder ihren früheren ruhigen Cha
ratter an. Ein paar Freundinnen der
Eotntesse Melanie, die sich ebenfalls
vor dein Gedränge hierher qesliichiet
hatten, beschäftigten die junae Dante
jetzt vollkommen da es galt, den Be
such der heutigen Vorstellung Mon
sieur Bertrand’s zu bereden Außer:
dem ging das sehr interessante Ge
rücht, das die beiden Damen mit-(
brachten, der tolltiihne Mensch habe
sich erboten. zwischen den Thürmen der
Katharinentirche ein Seil zu spannen
und dort oben seine Künste zu zeigen.
Der Magristrat hätte es aber bis fett
noch nicht gestattet, und man erlaubte,
er wolle sich deshalb an den Fürsteni
selber wenden
Der Kriegsminister v. Ratt-dem der
versprochen hatte, seinen Töchtern hier
zu begegnen, kam jetzt ebenfalls die
Straße herunter und ging, als er den»
Rittrneister v. Geuerstein erkannte, ausj
ihn zu, unt ihn zu begrüßen.
»Ach, Papa-« bat die Comtesse Ro
salie, die sich schmeichelnd an seinen
Arm hing, «beut Abend ist die ersie«
Vorstellung Monsieur Bertrand’s im;
Eichs, und es soll so hübsch werden«
Dürsen wir hin?«
Recht gern« mein liebes Kind "
sagte der alte here freundlich, indem»
er ihre Stirn steeicheite, .und Deine
Mutter wird Euch gewiß begleiten
Jch selber bitt leider durch eine Sihung
verhindert, die Weine Zeit wenigstens
bis neun Uhr Anspruch aiment,
und doch möchte ich Euch nicht seen
ohne männlichen Schuh an soscheni
iPlane wissenk
»Oh, dann begleitet uns Gras
Mini« rief-Te lebhaste Nosalie
halb bittend, fragend zu dein
Itittmeisier aufschauend »Ich habe
überdies ein Meiste-scheu von this pe
toonnah das er noch einlIsen sus,
und sehe es fett surn Mand. «
- Et- NI zu MUS- Gänse-« .»
lächelte tnit einer leichten Verbeugung
der junge Mann, »wir eine solche
Ehre als Buße aufzuerlegen Ich
stehe natürlich den Damen mit Ver
gnügen zu Diensten — wenn Excellenz
ei gestatten.«
-Jch bin anen dantbar dafür, lie
ber Genersiein,« nictte ihm der alte
Herr zu. »und da es gerade mit der
Zeit zusammentrifft so speisen Sie
heute Mittag bei uns, und sabren
dann mit den Damen nach dem Diner
biniiber in den Eichs. Das wäre
also abgemacht. Kinder. und da sich
die Menge jetzt verlaufen bat, denl’
ich. wir geben nach Hause. Es ist
spät geworden, nnd Eure Mutter
wird Euch erwarten.«
0
Mitten auf dem breiten Landgra
seniPlay stand eine mächtige runde
bretterne Bude, von deren spiher
Zinne die sranziisiscbe Tricolore weine.
Das Jnnere derselben war übrigens
l geschmackvoll detorirt und mit Gas er
; leuchtet, nnd an der Kasse siir den er
Fsten und zweiten Platz sasz ein bild
Pbiibsckzes junges Mädchen, die Billets
;auszugeben. — Nur etwas zu hell
:fiel das Gaslicht aus die leicht ge
Iscbmintten Wangen und die nachge
»tnachten, an einigen Stellen schon et
was zertnietten Blumen. die ihren
Kopfschrnnet bildeten.
Das Publilurn betheiligte sich t-n
dessen sehr bedeutend an diesem ersten
Abend, für den aus riesengroßen, sat
bigen Anschlagzetteln Außerordent
liebes versprochen worden. Die dritte
Gallerie war schon eine halbe Stunde
vor Beginn der Vorstellung bis in
ihre legten Raume gefüllt, während
noch umsonst nach Billetts rnsende
Schaaren vor dem Schiebsenster un
ter der schmalen, dort hinanssiihren
den Holztreppe standen.
Auch die erste und lzweite Gallerie
füllte sich rasch, und manche Eguipage
fuhr sogar vor, der Damen in glän
zender Toilette entstiegen. Monsieur
Bertrand iiber den man sich in der
Residenz die abenteuerlichsten Dinge
erzählte war eben Mode geworden,
und da es gerade in dieser Zeit, be
sonders in den höheren Klassen. an
Stoss zur Unterhaltung sehlte, so
wollte Niemand versäumen ihn zu se
hen.
Oben aus der iiber dem Eingange
für die Pferde angebrachten Tribiine
hatte sich das Musilroros gesammelt,
das heute Morgen auch den Umzug
durch die Stadt anführen mußte, und
die Leute stimmten ihre Instrumente
und tranken Wein dazu. Jn der Reit
bahn selber, die durch einen improoi
sirten Kronleuehter und zahlreiche
Flammen an den Seitensiiulen reich
lich erhellt wurde, lehrten eben ein
paar Stallknechte den Kreis, und ein
Mann in hohen Kanonenitieseln und
einem Reitsrarl. eine lange Peitsche in
der hand, lam herein, um zu sehen,
ob alles in Ordnung ware.
»Ist er das?« tliisterte es hier und
da aber die Antwort siel oerneinend
aus. Es war nur einer der Leute,
ein Bereiter — so sah er wenigstens
aus — irgend Jemand aus dem un
tergeordneten Personal der Gesell
-·, k,- fl-: ...... «-2 J
IOCVL Pl( pfui-tunc urs- Uurgsuusu -
stets v. Raiphen erschien gerade und
nahm eben ihre Plätze auf der zweiten
Bank ein« als die dritte Gallerie in
ein schallendee Gelächter und lauten
Jubel ausbrach. Der Hanswurst
sprang nämlich, sich fünf- oder sechs-—
rnal dabei überschiaaend, eben in den
Circus und warf sich dem dort sehr
ernftbaft befeblenden Stallkneiiter oder
Bereiter so geschickt zwischen die Füße,
daß dieser auf ihn zu sinen kam und
durch den Wurf die Balance verlor.
Er fiel wenigstens hinterrücks in den
Sand. und während er unter dem Ge
sauchze der Menge wieder aussprang
und den flüchtenden hanöwutft mit
der Peitsche zu treffen suchte. benutzte
dieser die anscheinend darüber sehe
entrüsteten Stallknechtr. sich hinter
ihnen zu verbergen und sie die nach
ihm gezielten Hiebe auffangen zu lass
sen
Der Baiazzo batte jedenfalls die
Sympathien der dritten Gallerie und
der Kinder für sich: aber auch selbst
den Crnsteften entlaste er mit seiner
grotesken Malerei und Glied-erge
wandtbeit ein Lächeln. Sein Alter
ließ sich allerdings in den dick mit
weißer und rather Farbe bestrichenen
Zügen nicht erkennen, aber seine Fi
Jgur war schlank und fchmächiig, und
Edie kleinen biiienden Augen behielten
selbst unter den bis zur Berzerrung
gemalten Brauen ihre scharfe Leben
digkeit. Die ganze Seene hatte übri
gens nur dazu dienen sollen, die Auf
merksamkeit des Publikums kurze Zeit
zu beschäftigen und noch während des
Umbersdringens und Ausweichens des
safazzoi flog plöslich ein kleines
weißes Bonn in gestreckte-n Galopp
iiber die niedere Einganglbarrieee und
mitten in den Eireuö hinein. Aus sei
nem Micken aber saß ein kleines, viel
siebensäbrian. als Elfe gar
phaaiasiifch gekleidetei Mädchen.
Stammes-te sajazza und Stall-nei
ster stoben blideöschnell auseinander,
und während das Pany den Eircus
umflog, toar die jugendliche Rettekin
in die höhe gesprungend und grüßte,
aus dein breiten Sattel stehend,
freundlich lächelnd nach allen Seiten
hinüber. Sie trug fleischsarbene Tri
cots, ein lurzes, leichtes rosa Röckchen
von durchsichtigetn Stoff. das Kleid-—
eben dabei tief ausgeschnitten, und an
den halt-nackten Schultern ein Paar
buntfarbige Flügel, bandbabte auch
ihr zierliches Roß vortrefflich und
zeigte eine für ihre Jahre außeror
dentliche Uebung.
Die Frauen waren ganz entzückt
von dem tleinen Wesen, das in jeder
seiner Bewegungen —- nur seicht im
Körper selber —- vollkommen-erwach
sen schien. Zum Aeußersten tote-it
und überdacht, grüßte und winkte sie
bald da, bald dorthin. trieb ihr Pferd
mit der lleinen Peitsche an, und hielt
plötzlich, um sich von dem rasch her
beispringenden Stallmeister noch ein
mal die Sohlen mitKreide streichen zu
lassen. Dabei lächelte sie auch dem
Vajazzo zu, der um sie her die tollsten
Capriolen machte. sprang dann durch
Reisen und iiber Guirlanden, und
trieb alle die übrigen Kunststück die
Kinder in dein Alter gewöhnlich bei
solchen Gesellschaften treiben. Das
Nublitutn avvlaudirte zwar let-hast«
aber es bleibt doch immer ein eigenes,
eben nicht angenehmes, oft sogar un
bebagliches GesiibL ein Kind zu sol
chen Künsten abgerichtet zu sehen. —
Was siir Erfahrungen bat das Kin
derberz nicht schon gesammelt, das
dort mit der asiectirten Handbetoegung
und balben Kußhiinden den Applaus
des Publikums erwidert! Wie lange
schon mußte es seinen schönsten
Schmuck, die Kindlichkeit, abgeschiittelt
baden. jede Bewegung einer erwachse
nen Kokette so täuschend nachzuahmen!
Jbr avvlaudirt und iubelt der Kleinen
ru. Fragt Euch einmal,·wie Euch zu
Mutbe sein würde, wenn das Euer
Kind wäre, und dann bedauert das
unglückliche Wesen, dad sein böses Ge
schick in solche Bahn, in solch ein glän
zendes Elend geworfen. llnd siiblt es
sich selber aliirilich in solchem Leben?
— Es nickt und lächelt da oben mit
ireudestrablendem Gesicht und sprengt
lustig —- binter die Coulissen. — Was
es dort treibt, kümmert das Publikum
nicht.
lFortsedung solgt.)
Wien-er Prater-leben
Jede Großstadi aus der Welt bat
eigentlich i en Prater. Jn Ber
lin ist die hasenhaide, ’ in
Dresden die Vogelwiese, in Hamburg
der Dom und in Ner York Coned Js»
land. Nur, daß der Prater eine ganz
spezielle Note bat. etwas ganz Apartes
darstellt und in seinem Gepräge typisch
wienerisch ist. —
Vor allem bat der Prater etwas,toas
leine ähnliche Anlage aus der Welt be
sitzt: Ungeheure Mannigsaltigkeit in
sich selbst. Hier ist er dornebm und
ertlusw und tn der Urienu ist der
Nrndezvouoplatz unserer Akistokratem
geradeaus durch vie Hauptallee in er
oornehm bürgerlich, lints und rechts
von der Hauptallee ist et einsamer,
friedlich schöner Wald, zum Schluß
verwandelt er sich in die Orient-, wo
man aus die Pserdchen sein Geld veri
lieren kann, und zu Beginn ist er der
Wurstelprater, von dem die Rede sein
soll. Eimer ist schon sehr viel über die
sen Wurstelprater geschrieben worden.
Sowie alter der Frühling ins Land
zieht, muß man sich mit ihm doch wie-—
der beschiistiaen. Er ist dann der Ma
tadok de- Wiener Leben-. Und dieser
Wuritelprater ist iin Gegensah zu
Coney Island, zur Hasenhaide nnd
zur Vogelwiese behaglich. Jm Prater
ist der Lärm auch nicht gerin , die
hindert Musittapellen und Eberlel
können einem das Trommelsell schon
arg mitnehmen; Licht gibt es auch ge
nug und tro dem ist das ganze eine
Jaylle des oltsvergniigens und der
Lustigteit.
Schon die Wiener Kinder zeigen im
Prater, daß sie ganz anders sind als
die Jugend New Yorts oder Berlins.
Sie sind irgendwie naiver, glücklicher
und kindlichen Man braucht nur zu
einem Wurstel zu gehen und mitanzu
sehen, wie diese Range-i mit den Wie
ner Stupönnsen sinen und den Dar
bietungen der Wurstelschauspieler ge
spannt salzen. Fiir sie ist das einsach
eine große Kunstleistung, etne Bornh
nung des tiinstiaen Leben-. Sie-neh
men alles siir baare Münze, weinen
Tränen enit der Wurstelprinzesstm die
eine böse Stiefmutter hat. und jauch
zen voll innerer Freude, wenn die Tu
gend siegt und der Wurstelinteigant
von «nern Wurstelhelden einen Schlag
aus n Not-s bekommt. Oder sie ste
hen gmppennnise var einer der Hut-en
und hören den Unsre-sey der ntit het
serer Stimme brüllt: »Nun eintreten,
nreine hereschasten!« rnit Scheu und
Erwartung zu. Mit weit ausgerisse
nen-—-Olu en stehen sie da, und der
Traum WILL-end wäre el, wenn
sich stößt ie Pforten össnen witt
den und sie auch ohne zehn oder zwan
zig Heller Entree in die geheimnisvolle
Wunder-coeli eintreten durften. Mit
unter mache ich mir den billigen
Scherz, zehn oder zwanzig solcher Ein
trittstarten fiir Kinder zu taufen und
sie den Jungens und Mädels zu schen
len. Sicher hat Carnegie mit seinen
Friedensdreifen noch niemals so viel
Freude und Jubel erzeugt. wie ich in
solchen Fällen mit dem Aufwand einer
Krone. -
Eine wichtige Rolle im Praterleben
spielt der Zuckerlmann mit feizter
Trage. Schon fiir einen ganzen Kreu
zer lann man etwas Wonne bei ihm
genießen, fiir zwei Kreuzer gibt es
schon wahre Delitatessen. Wenn aber
gar der here Papa mit der Virginier
im Munde seine Sprößlinge gut ge
launt zum Zuckerlmann hinführt und
sagt: »Kinder, sucht euch ’tvas aus«,
dann ist das Glück groß. Aber auch
die Verlegenheit. Ich habe Kinder be
obachtet, die in solchen Momenten zit
tean dastanden und es nicht wagtem
mit ihren Fingern die herrllchteiten
aus der Troge anzuriihren Kann man
sich das etwa bei ameritanifchen Kin
dern auch so vorstellen?
Eine beliebte Spezialität des Wur
fielpraters ist nach wie vor der Wat
fchenmunm eine Puppe mit einem pro
votanten Ohrfeigengeficht, der man
auch thatsiichlich fiir sechs Heller eine
fürchterliche Flaschen, wie der Wiener
faat, herunterhauen darf. Eine Uhr
hinter dem Wirtschenmann zeigt genau
an, wie diel Pfund die Ohrseige gewo
gen hat. Ich gestehe ossen, daß ich
mich an diesen Patentwatschen schon
iister betheiligt habe. Nehmen wir zum
Beispiel an, man hat am Samstag mit
jemand einen großen Krach gehabt.
Arn Sonntag zahlt man dann sechs
heller, schließt die Augen, baut dem
Watschenmann eine fürchterliche Ohr
seige herunter und tann sich mit eini
ger Phantasie einbilden. dasz man dem
Gegner eins in die Visage geschlagen
hat. Das thut wohl und erleichtert
Eine Attrattion bilden nach wie vor
im Prater die Damentapellen. Beim
Eigvogel ist die berühmteste, beim
Prochazla ist eine, und noch ein paar
tleinere gibt es. hübsche, nette Mäd
chen sihen da aus dem Podium, die
wirklich etwas lönnen mit ihren weis
ßen Kleiderln sehr lieb aussehen und
dem dicken, behiibigen Philister, der
unten im Garten neben seiner 400
Pfund schweren Gemahlin list. eine
Augenweide sondergleichen sind. Je
desmah wenn die Frau tvegschaut,hebt
er das Glas und trinst den Mädeln
oben zu, wobei er verrätherischerioeise
denlt, daß es gar nicht so iibel sein
würde, wenn er ledig geblieben wäre.
Eine der bübschesten, praltischslen
und typischsten Erscheinungen desiltnp
terI bilden die Salamulschizniinnen
Sie sind die Lösung des Problems, sich
gut zu unterhalten und dabei billig zu
verlöstigen. Mit Kind und Kegel geht
mag in eines der grossen Vraterrestaus
eanto. in dem eine prachtvolle Militiirs
tapelle in wirllich künstlerischer Weise
listige und traurige Weisen spielt. be-·
stellt sür sich und die Frau se ein Arti
gel Lagerbier, siir die tleinen Buben je
ein Seidel und sür das Mäderl ein
Soda mit Himbeer. und dann wartet
man, bis der Jtaliener in die Nähe
kommt und sein »Salamuisch duri
duri« ausrust. Man taust dann siir
6l)« siir 80 Heller oder gar siir eine
Krone die schöne, dünn geschnittene
ungarische Salami. siir Zli Heller ein
hekzhastes Stück Emmenthaler Käse,
briillt so lange nach dem Brodschani,
bis auch der tommt und leine Sein
metn und Brotstiiete abliidt, und nun
sitzt man vier Stunden do und sreut
sich aus die billigste Art der Will des
Lebens.
Dirett das- Dorado ist der Wertstei
prnter für Soldaten. Dienstmädchen
und Ammen. Ein Soldat, der nicht
am Sonntag mit feinem Miit-et durch
den Prater zieht und sicb dabei soo
rnisglicb die Zeche und die Verwüstun
gen von ibr zahlen läßt« das ist tein
echter Krieger. Die Aminen nber, die
stellen sich vor den großen 10 heller
Tanzlotnlen auf und warten auf Mu
sterung. Wie bei einer Assentierung
gebt es da zu. Die Burschen kom
men, holten Muttekung. die teichen
Mädeln werden engagiert unb bie an
deren bleiben Mauerbliimchen.
hugo Bettnuer.
—
Die Koblenzer Zeitung teilte in
No. 88 mit: »Der Sotthalter von El
faßsLothringen hatte Eintabungen zu
einem Mahl itn Stottbalterpalnis ers
geben lassen-« Die EltaßEotbtinger
merten also nichts von der Fleischnot.
I I .
Der Bundesicha iftee MeVeagb
bat oerfiigt, das vte ollbearnten etne
vollesngesarbeit liefern müssen, wenn
sie vollen Tagelobn erwarten. Illo
der Potriotismus allein ist nicht
niebr genligenb.
I I .
Also Deutschland nnd England
wollen dem gegenseitigen Wettriiften
ein Ende machen. Gebt es nicht mehr
weitert