Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, August 19, 1910, Zweiter Theil, Image 9

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    Nebraska
Staats« Anzeiger und If set-old.
Jahkgang 30. Grund Island Revr..19.August l .)I0. zweiter (Tl)cil.) Nummer 52.
Ver Sichel Sang . . .
Der Sickel Snn ist nun verklungen,
Die Schnitter rüsten sich zur Ruh
Und schreiten durch die Dämme-ringen
Dem abendstillen Dorfe zu.
Jndeß der Tag nus leisen Schwingen
Empor zu fernen Erden schwebt,
Jndesz die Vesperglocken klingen
Und stumm die Nachtbihr Traumnetz
we t.
Die letzten ismmermiiden Lieder
Der Waldesstiinmen schlnsen ein,
Und aus die Wiesen stutdet nieder
Des Mondes bleicher Silberichein . . ..
Ernil Schulde-Maltowstv.
—
Memoiren eian Sonnen
schrr1n5.
Nein, thörichter Mensch! Nicht will
ich unter dieser Aufschrift Dinge aus
dem Leben meiner Dame erzählen!
Eine solche Judiskretion würde mir
durchaus derwerfkich erscheinen, be
sonders darum, weil sie anstatt des
wirklich Jnteressanten ganz gleich
gültige L.ingiveiliqkeiten erqeben wür
den. Denn was kann Bedeutendes
sich ereigven in dem Leben eines We
seng, das nieman umgekehrt wird, wie
es doch einem Sonnenschirm täglich zu
unendlichen Malen geschlevrk Wai
tann ein Mensch Großes erleben, der
sich einbildet, immer den Boden unter
den Füßen zu behalten, und so immer
die Welt vom gleichen Standpunkt ans «
sieht! Was sind auch die gewaltigsten
menschlichsten Erlebnisse im Vergleich
mit der umiviilzenden Revolution, die
ein Sonnenschirm an sich erfährt,wenn
er, umgekehrt über dem Kopf gehalten, i
plötzlich sieht, daß alle Menschen den
Boden über den Füßen haben, daß die
Bäume über sich wurzeln. das die Ber
ge in den gähnenden Abgrund ihre
Gipfel hängen lassen. Nie, behaupte
ich, würde ein Mensch auch nur den er-—
sien Schwindel überstehen, der einen da
erfaßt; er wäre auf der Stelle todt —
netn, verrückt wäre er. Denn laufen
sie nicht herum, diese Schwächlinge, bei
ganz geringen, ja oft gänzlich nichtigen
nnd mit dem ausgebildetsten Gefühls
milrofkop laum zu erkennenden An- »
lässen, laufen sie nicht herum, halten .
sich die rauchenden Köpfe und schreien: »
»Ist die ganze Welt verriirlc geworden, E
oder bin ich eg?«
Lächerliche Zwerge! Nie würden sie
diese stete athemraubende Aufeinander:
folge der entgegengesetzteften Weltau- ’
sicht überdauern, nie, wären sieaufges
spannt, würden sie den einzig richtigen
Standpunkt finden, nie sich aufrassen -
zu der heroischen Einsicht, daß alle an
dern aus dem Kopfe stehen und allein
man selber das normale, ausrechte We
sen geblielen. Nein. diesen Glauben
an sich selbst, allem Augenschein zum s
Trotz, diese Fesiigkeit derWeltanschaui
ung, die nicht ivanlt, auch wenn alles
andere durcheinander fällt die tann
nur ein Sonnenschirm gewinnen.
Bedenken wir weiter unsere große
Spannungssähigkeill Bedenken wir
den beständigen Wechsel zwischen An- ;
und Abspannung — diesen Polen aller
Ereguna alles Erlebensl Wie wenige
unserer kostbaren Qualitäten genügen
doch, um unsere vollkommene Ueber-le
genheit iiber den Menschen zu erweisen.
Deshalb. nichts von ihm! ——- Erzählen
will ich, wie ich den Sitz meiner Seele.
mein wahres Selbst, mein Jcb entdeck
te:
Als ich even bei Herrneoundto zum :
Verkauf aufgestellt war von diesem -
thtaenblick datiert aus Gründen, die
mir verborgen geblieben,mein Bewußt- ;
sein —, kamen zwei junqe Damen, von
denen die eine lange und aufmerksam i
die roße Zchaar der Schirtne prüfteJ
bis te mit einem Blin, als ertenne sie J
einen alten Bekannten, nach mir griff
nnd sagte: »Der ist doch wenigstens
einfach nnd natiirlich.« Jch muß geste
hen, daß mir das nicht gefiel, ich fühl
te mich kunstvoll, kostbar und einzig,
meine Farbe war are-u, innen dunkler
ais aussen, eine volle, schöne, aezackte
Nüsche umschlon tokett meinen kräfti
gen Hals, mein sion rundete sich nnd
neiate sich mit vornehmer Grazir.
Das alles schien mir nicht »natiirlich«.
Obwohl ich vernommen hatte, daß ich
in die Kategorie »Naturstoit« aeltellt
worden« hielt ich das iiir ein Kunst
tvort, und es hatte mein Selbstgesiihl
nicht verletzt. Wie aber diese junge
Dame das Wort »natiirlich« aus-«
sprach, das konnte mir nicht gefallen,
und ich bemerkte mit schadensroher Ge
nugthuuna, wie das kleine Fräulein
ilber meinen Preis erschrak: ich selbst
fand ihn nur zu gering in Anbetracht
meiner großen Vollkommenheit und
meiner ferngewachsenen Geburt, über
die ich leider den schriftlichen Nachweis
nicht habe, den die Menschen iiber diese
sichtbare Thatsache verlanjxem Schon
wollte ich mich wieder aus hren hän
den zurückziehen, als sie mich noch ein
mal fester faßte, meine Stärke priiite
und sagte: »Aber er aesiillt mir nun
mal. nnd dann kann ich ilm mein Le
ben lana haben.«
Damit war mein Schicksal entschie
den. Dunkel nnd schwer war es zu
nächst. Zu Hause angekommen, trenn
te meine lleine Dame sofort die volle,
schöne Seidenriische von meinem Hal
se, unter dem Vorm-inde, daß die mei
ne Linie störe. Jch fühlte deutlich, dass
ein wichtiaer Bestandteil meines We
sens mir abhanden lornme. nur wußte
ich nicht welcher: es sollte sich zeigen.
»Wie kommen Sie nur zu diesem
männlichen Schirm ?« sraate irgend ein
Herr, dem einmal das Amt zusieL mich
zu tragen. lks gab mir einen Stich ins
Herz! Nun wußte ich es. mit absoluter
Klarheit stand es vor mirs mit der
Rüsche war mir die Weiblichleit ver-—
loren gegangen! Jch seufzte tief. Nur
ein kleiner Trost war es mir, daß mei
ne Herrin sich auch iiber diese Frage
ärgerte. Zu meinem Unalücl und ihrem
Aerger wurde sie ost genug wiederholt
Ein anderer Jammer meines Lebens-1
mar, das; sie jedesmal, wenn jemand,
wie natürlich, mich schön sand, sagte:
»Ja, er iit schön, aber er müßte ei
jaentlich aeiin sein, nnd das nächste
Mal lasse ich ihn ariin iibereiehen.«
Wie soll ich ietzt noch beschreiben. wer
ich damals fühlte, ietzt. tro ich den
Jrrthum ineineÆchreckens einsehe: da
mals aber enthielt dieser Ausspruch
mein TodesurtheiL Was grau an mir
war, das toar doch mein »Jch" nach
meiner mangelhaften Einsicht, und nie
ses barbarische Wesen, dem ich täglich
meine Dienfte lieh, fiir das ich gelernt
hatte, den ungeheuren Schwindel des
Ausgespanntwerdens zu überwinden,
dies undankbare Geschöpf sprach so
iiber meinen Tod hin. Tiefe Melan
cholie befiel mich, denn ich mußte mich
fragen, wozu der unendliche Aufwand
von Selbstbehauptung gegenüber der
»mit den Köpfen herabhängenden
: Menschheit, wenn ich ein anderes Jahr
nicht mehr erleben sollte?
Wahrscheinlich infolge dieser selbst
zerstiirenden Grübeleien fing ich vor
zeitig an, zu brechen, was meine Dame
mit der kühlen Bemerkung hinnahm,
es vorausgesehen zu haben. Noch fri
stete ich einen dunklen Winter lang
mein Dasein in der Ecke einer Garbe
robe, bis ich im Frühjahr hervorgezoi
gen wurde und an dem energischen
Ausspruch: »Jetzt wird er griln"
merkte, daß ich meinen Todeggang an
zutreten habe. Jch fiel in Ohnmacht
und erwachte daraus erst, als ich mich
in den Händen einer alten Mamsell
befand, die mich eben augeinanderzus
reißen begann, mit roher Gewalt —
und einer Schere. Jch glaubte zu ver
lutenl Jch erwartete, daß die
Schnitte ihrer tleinenScheere mich töd
ten wurden — statt dessen mußte ich
zu meinem Staunen bemerken, daß et
was Kälte und einige Scham iiber
meine Blöße die einzigen unangeneh
men Gefühle waren, die ich an mir
konstatieren konnte. Uebrigens war
das stolze Bewußtsein meines Selbst
ganz unangetastet auf der gleichen
Höhe überzeugter Vortrefflichkeit. Jch
schloß daraus-, daß der Sitz meines
wahren Selbst in dem sei, wag nun
noch von mir übrig, nachdem die Seide
«- also nur mein Kleid — mir abge
zogen sei.
Nun spürte ich auch, wie ich eigent
lich viel von meinem Bewußtsein ver
schwendet, indem ich mein Gewand sür
mich selbst gehalten, und beschloß, den
großen Nangunterschied zwischen mir
und dem neuen Kleide gleich von An
sang an zu betonen. Sowie es mir
übergezogen wurde, sagte ich denn auch
zu der grünen Seide: »Wenn Sie sich
nicht ein wenig strecken, reichen Sie
nicht über meine schlanten Glieder.«
Das erschreckte sie, mit leisem Krachen
dehnte sie sich, strengte sich an, ließ sich
ziehen und strecken, bis sie an allen
Stangen und Spitzen ordnungsmäßig
sestgeniiht war. Prall und glänzend,
suntelnd in ihrer Farbe umspannte sie
mich, aber ihren Hochmut zu dampfen,
sagte ich schnell: ,,3ieren Sie sich nicht«
wir wollen erst sehen, ob Sie mich
wirklich so gut tleiden, wie meine
Dame wünschte, sonst müssen Sie wie
der herunter.« An der Demuth, mit
der sie, als ich zugellappt worden, ihre
Falten weich um mich schmiegte, sich
ganz eng und schmal machte, so daß,
all- eine Kappe von gleichem Stoss
über sie gezogen, sie an Bolumen weni
ger hatte. als mein voller runder
Hals, an dieser Demuth sitt-Ue ich, daß
ich gesiegt, und mein Selbstgesühl
wuchs. Jch ließ mich nach hause tra
gen. Dort erregte ich wahres Entzüt
ten. »Seht-Ihr, seht Jhr, so erst ist
er hübsch! Dies ist seine Farbe! Nun
erst ist er richtig!« rief meine tletne
Dame ihren Schwestern zu. lStetz
hatte sie Schwestern, ich weiß nicht, wo
sie sie hernahm; ein Schirm hat nie
; male Schwestern, ist ein viel einzigeres
TWesen und steht auch deshalb höher-)
iAber sie hatte recht. Jch war schön.
i Jch trug nun ein kräftig grünes Kleid,
fo recht eine freudige, starte Farbe dort
iMetall und Glanz, ich erlannte, daß
Jmein früheres Grau nur unscheinbar
! gewesen, und fühlte mich gehoben. Da
imalg wußte ich noch nicht, daß auch
’jenes prächtige Kleid verblassen würde
»gegenüber der wahrhaft distinguierten
HSchönheit meines jetzigen, das von sel
; tenem Graugriin ist, dein niemand an
lsieht, trelche funkelnden Farbenblitze,
welch goldgriines Dämmer allein die
I Sonne darin erweckt.
« Jch wufite das damals nicht und er
lebte eine Zeit relativen Glückes —- bis
neues Unheil drohte: ich brach eine
sRippr. Zwar hatte ich dabei keinen
ISchmerz empfunden, doch hielt ich das
Efür ein Zeichen meiner heroifchen Nas
s tur und zweifelte nicht, daß mein Ende
snun doch geloinmen, als meine Herrin
sinit ärgerlichem Bedauern von einem
neuen Gestell sprach. Das war mein
Tod. Wieder hatte ich Zeit, mich dat
auf vorzubereiten, denn meine Rina
len, ein rotber und ein weißer Schirm,
wurden nun in Gebrauch genommen,
während ich —- wie lange, weiß ich
nicht — wieder in einer dunklen Ecke’
stand. Endlich hervorgeholt, nahm
ich diesmal in wachem Zustande an»
denVerhandlungen über mich theil. Der?
Mann hinter einem Ladentisch öffnetei
mich prüfend. erklärte das Gestell für-I
tlapprig, Reparatur unnütz, rieth zu!
einem neuen, leichteren, eleganterenxi
lauch der Stock schien ihm verdächtig,f
Iauch der sollte erneuert werden: »Es;
lehnt sich um den schönen Griff,"s
sagte er anerlennend, nachdem er alles s
an mir herabgesetzt. Der Griff! E
Schon dämmerte mir etwas; er reichte
freilich, fürstlich genug, bei mir bis zu.
den Stäben hinab! Der Griffh
Sollte er?! J
Und wirklich, ich erlebte das Wun-?
der: Nachdem alles an mir erneuert
war, fühlte ich, wie all’ mein Selbst
bewußtsein nicht nur ungeschwiicht
dasselbe geblieben« nein, nun erst war
es wirklich erstarlt, ganz konzentriert,
Vollkommen mächtig, wahrhaft fode-»
räu! Es lag in meinem Griff — ich
war mein Griff, —- dieser mein losts
bares Selbst, mein wahres Jch.
Einmy v. Egid-tm
Weimar und Jena.
» Wanderer, kommst Du nach Jena.
so hiitle Dich in einen Looenmmitel
Und Weltanschauung. Wenn Du aber
nach Weimar tomnist, so laß Deinen
Ciilinderhut aiifbiigeln und geivöhne
Dir Stil an.
Jiinast erzählte niir ein Franzose,
daß ihn in Deutschland nichts so ieiir
berirundert hätte. als die Ermahnunq
uber Den Briestästen: Llufictirift iind
Vriesiiicirle nicht vergessen! Wenn aber
die preußische Postbehörde sich in oii
tcrlicher Weise der Zerstreuten an
nimmt, der Maniitrat der Universi
tätestadt Jena aeht noch weiter, indem
er, ioo immer nur möglich, Bilduiii
tind Wissen auch in den xoeniaer er
leuchteten stopfen seiner Mitbiiraer ;ii
verbreiten trachtet, und mein sraniosi
scher Freund hätte sich aeivisi noch nietir
verwundert, wenn er bei einer Wande
rung durch die alte Saalestadt etwa
aus folqeiide Straßeninschrift aesto
fien iriiret Veethobenstrasie. lLiidioizi
voii Beethoven, bedeutender Tondich
ter. Geboten 16. Dezember l77« iii
Bonn, aestorben 26· März 1827 in
Wien.) Und daß man an solcher Be
reicherunq seines Wissen-z nicht leicht
sinnig vorübergeht, dazu verhilft Ei
nem das nachdenklich stimmcnde Stra:
ßenpflaster.
Jn Jena herrscht der Professor, und
jeder, der nicht gerade Student ist, iit
dort ein wenig Professor. Jch wohnte
vor Jahren bei einem Schneider, »der
bei jeder Gelegenheit von seinem Tisch
herunter-hüpfte und mir gelehrte Vor
träge hielt, am liebsten über die Min
derioerthigleit der kFrauen, sur die er
die schnurriqsten Beispiele anzusuhren
wußte, bis-z das Erscheinen seiner eige
nen ihn vertrieb, die ihn mit dem ech!
sihiikingischen Schimptwsttt Alte
s Brunimochset in seineWertstatt zuructi
s jagte. .
! Diese Schneideråsrau stand eigent
llich ziemlich einzig da mit ihrer Ber
;achtuna der Gelehrsamkeit Denn sonst
lhabe ich gesunden, dasz die Jenenser
fDamen es in Bezug daraus mit ihren
Männern wohl ausnehmen können.
Mehr als eine habe ich kennen gelernt,
die ihres Gatten treue Mitarbeiterin
und ihm kongenial war wie Madame
Curie dem ihrigen. Andererseits ist
dort freilich auch die Gattung der
Blaustriimpse häufig vertreten. Diese
Frauen erkennt man an ihren Loben
capes, für die sie eine Vorliebe haben,
und die ihnen Aehnlichkeit mit wan
delnden Schulbüchern geben. Solch ein
Zivitterwesen war es, das sich mir ge
genüber einst für eine große Goethe
rerehrerin erklärte. ,,Nur schade,«
fügte es hinzu, »daß Goethes Werte
deutsch geschrieben sind. Denken Sie
an, welch ein Genuß es wäre, ihn zu
lesen, tvenn er in der Sprache Homers
gedichtet hätte.
Uebrigens nimmt dieser gelehrte
Grundton der Stadt nichts von ihrem
fröhlichen Aspekt. Und es gibt kaum
ein vergnügteres und hübscheres Bild
Jst-«- an einem schönen Sommermorgen
der Anblick des Marktplatzes. Ring-«
nm das Denkmal des gemiithlichen al
ten Fürsten Johann Friedrich, den die
Studenten Hanfried getauft haben,
hocken unter bunten Schirmen die
Landweiber, verschwinpr feist, sonn
dnrchglüht und ftrotzend, den Knollen
nnd Früchten der Erde ähnlich, die sie
feilbieten. Weit hinaus stehen vor den
tueipen lange Tische, an denen bunt
bemützte Studenten ihre Seidei
schwingen und Konnnerglieder singen.
Andere wieder schlendern in dichten
Truva am Platz entlang und werfen
nntthige Blicke nach rechts und links-.
Auf der einen Straßenseite sieht man
mehr niedliche Damen schüchternitect
fianieren, aus der anderen leuchten
rotherrschend die weißen Schürzen der
drallen Dienstmädchen Und wie nun
mir erzählte, ist das kein Zufall, son
fern ein Brauch, der die Straße ein
tlxeilt in die Seite der höheren und die
der niederen Minne. Aug den Dach
l1:ten des alten Rathauses aber stecken
Musikanten ihre hellglänzenden Trom
peten, und während man unten feilscht
und flirtet, singt und trinkt, blasen die
olen Choröle oder lustige Weisen. Ein
hübscher Brauch, der seinen Grund in
der Stiftung eines vor vielen Jahren
reistorbenen Bürgers hat.
Aber der Markt mit seinen duangen
Häuserm die wie vergnügte alte
Männlein aus das Treiben herunter
blicken, mit seinem Hansried seinen
Studenten und niedlichen Mädchen
«:,eigte vor hundert Jahren kaum ern
anderes Gesicht als heute. Das alles
ist Alt-Jena· Das moderne Jena ist
«hauptsächlich durch zwei Professoren-·
namen charakterisiert, durch Abbe und
Haeckei. Ernst Abbe, der große Weise,
der seinen Kindern gerade so viel hin
terließ, um sie vor des Lebens Not zu
schützen, die Millionen aber, die sein
Erfindergeist hervorbrachte, der Allge
meinheit zugute kommen ließ, ist ein
Typus, wie ihn kein anderes Land in
solcher Reinheit hervorgebracht har.
Es ist charakteristisch und erfreulich,
daß sich gerade in diesen Tagen aus
seinen Namen eine Kulturgesellschaft
in Berlin gegründet hat, die seine Be
strebungen weitertragen will.
Was den anderen grossen Jenenser
betrifft, so gab es eine Zeit, wo er
iiberall anderswo mehr Anhänger be
sas-, als gerade an dem Ort seines
Wirkens Das hat sich freilich längst
geändert. Aber noch heute halten
seine Anhänger und Gegner sich in
Jena die Wage. Und als dort vor el
nigen Jahren der Monistenbund ge
gründet wurde, entbrannte ein Welt
anschauungsstreit, an dem die ganze
Stadt sich erhitzte Durch die öffent
lichen Bersannnlunaen, durch die Zei
tungen hallte das Für und Wider in
gewaltigen Tönen. Und es waren nicht
nur die Gebildeten, es war das Volk
selbst, das in diesem Streit initfocht.
Jch sah in einer Versammlung einen
mit einem Tablett voller Biergläser
schwer beladenen stellner dieses Plötz
lich bei Seite stellen, um dem Redner
oben Beifall klatschen zu können. Als
er dann meinem Nachbarn, der oben
noch nach ihm gewinkt hatte. ein ge
fülltes Seidel anbot, erklärte dieser
miirisch: »Na, ich danke!« und zu mir
sich wendend, fügte er hinzu: »Von
so’e elenden Dualisten wär’ch doch
nischt nähmen!«
Solch ein Weitanichauunggnren
träte in Weimar unmöglich« Eher
noch als wegen der Einrichtung des
Weltgebäudes würde man sich hier
wegen einer Ziinniereinrichtung erhit
zen. wegen der Erhaltung oder Zersto
rung einer historischen Mauer, viel
leicht auch nur wegen irgendeineg
Bucheinbcinde5. Aber leicht wird man
sich überhaupt nicht erhitzen. Die
Lust in Weimar ist um einige Grade
tühler als in Jena. Die Straßen sind
breiter, das Pflaster ist erheblich bes
ser. Und dennoch herrscht lein ge
schästiges Eilen. Sondern dem auf
merksamen Blick wird eine gewisse ge
haltene Gemessenheit in den Geberden
nicht entgehn, und iin Gedränge der
hübschen Pensionsmädchen, der Kunst
schiiler und Kleinbiirger fällt hier
und dort eine Erscheinung von wirt
licher Eleaanz ins Auge. Denn man
ist in einer Hosstadt. Der Hof gibt
dem Leben hier seinen Rhythmus-.
Daß die Phantasie der Eingesessencu
von allem, was Großherzogs angeht,
erfüllt wird, ist nicht zu verwundern.
Aber in alle Poren dringt dieser Ein
fluß und ist im gesellschaftlichen so
wohl wie im Geschäftsleben zu spü
ren. Freilich dem oberflächlichen Blick
des Fremden wird nur eine gewisse
ruhige Würde der öffentlichen Gebäude
nnd die Häufigkeit der Hoflieferanten
schilder ausfallen. Was sind dem Be
sucher von auswärtg die heutigen
Weimaraueri Seine Zeitgenossen
nicht allzuhoch einzuschätzem ist für
viele ja ein Gebot der Selbstachtung.
Nun gar, wenn man herkommt, um
mit Goethe und Schiller Verkehr zu
Pslegen Was gehen einen da die
Nachgeborenen an! Aber diese haben
den einen Vorzug, noch am Leben zu
sein, und sie machen hier wie anderswo
den intensivsten Gebrauch davon. Jch
möchte zu gunsten des lebenden Wei
marg nur eine Tatsache anführen, daß
es hier nicht weniger als 193 Schrift
teller gibt. Lebende Schriftsteller:
Und von diesen 1 3 weiß ich nur von
einem einzigen gewiß, daß er sich nicht
ssiir ekenso bedeutend wie Schiller und
Goethe hält.
i Nein, Weimar, die Stadt der gro
sßen Toten, ist in Wahrheit eine höchst
ilebendige Stadt. Diese kleine Residenz
Ton nur zweiunddreißigtausend Ein
wohnern besitzt ein schönes großes
Theater, eine Kunstschule, die jetzt
Professor Madensen leitet als Nach
scilger Ade-, an der Ludwig v. Hoff
Imanm Hagen, Melchers, Thedh wirren
oder bis vor kurzem tätig waren, es
besitzt ein Kunstgewerbeinstitut, an
dessen Spitze van de Beide steht, und
eine Musitschule, deren Direktor Wil
helm v. Baußnern ist. Es hat außer
dem Goethe-Schiller- auch das Nietz
sche -Archiv. Alle diese Namen be
deuten ein Programm, drücken ver
schiedene und oft sich heiß vefehdende
Richtungen aus, stehen aber alle in
mehr oder weniger engem Zusammen
hang zu dein ältesten und modernsten
Begriff: Kultur.
Was ihr fehlt, ist freilich der fort
reißender Strom eines großen Ge
schäftslebens, der tosende Hammer
schlag industrieller Betriebsamteit.
Und ich glaube, von den vielen, die sich
hier eine neue Heimat geschaffen haben,
möchte nicht einer aus die Dauer jenes
fröhliche Meerbransen entbehren, das
die Stimme Berlins ist. Darin liegt
vielleicht der Grund, warum die Wei
maraner so oft verreisen. Mir ist
diese Reiselust wenigstens in keiner
Stadt so ausgesallen. Aber schließlich
Iehren sie stets wieder hierher zurllct
nnd lieben die baumbeschattete Parl
stadt gerade um ihrer Ruhe willen, die
doch nicht die faule Rentnerruhe be
deutet, sondern die Stille, die notwen
dig ist in jeder Werkstatt, in der künst
lerische oder geistige Arbeiter tätig
sind.
Uebrigens wenn ich von dem stillen
iWeimar spreche, so gilt das wahrhaf
ILlls ich vor wenigen Tagen nach län:«
itig nicht für die augenblickliche Zeit.
gprer Abwesenheit hierher zurücktehrte,
fand ich die ganze Stadt in einem Zu
stand der Aufregung Und Betriersam
reit, der eigentlich gar nicht siir sie
charakteristisch ist.
Es handelte sich um die Vorbereitun
gen sijr das Tiefurter Fest, das am
achtzehnten zu Ehren der Goethegesell
schaft gefeiert wurde. Eine glän
zende Gesellschaft, wie sie bunter nicht
zu jener Zeit gewesen sein kann, als
die Herzogin Anna Amalia ihre fröh
lichen Assembleen veranstaltete, wird
die Gäste empfangen. Karl Ungarn
ter junge Herzog, und Luise, die lieb- »
lich sanfte, werden in höchst eigener
Person erscheinen, und es werden nicht »
fehlen die charakteristischen Gestalten’
ihres Hositaats Und sollte der große i
Olympier selbst dem irdischen Getriebe ;
sich sernhalten, so ist doch zu hoffen,s
daß Goethegeist diesem Fest eine fröh: s
liche und schöne Weibe verleihen wird. ;
Wilhelm Hegeler. I
i
Die körperlichen Anstrengunger
der Frauen.
lfs ist lielannt, das; man den
Frauen mit der Bezeichnung »das
s ,:oache Geschlecht« unrecht thut, sckon
aus dem Grunde, weil sie im Ertragen
von Schmerzen, aber auch im Ertra
aen von Strapazen und Entbehrunaen
mit gerinaen Ausnahmen mehr leisten
als die Männer.
Schon in der Praxis des qewöhn
Tichen Lebens leistet oie Frau körper
lich viel mehr als: der Mann. Setzen
mir als Beispiel die Verhältnisse in
einer Familie des Mittelstandes, in
dem der Frau wohl ein Dienstmädchen ,
zur Leersiiauna steht, wo sie aber doch«
das Kochen und die Hauswirttsscksrst
selbst besorgen und außerdem natür
lich auch noch mit deuKindern s,u thun
Raben muß. Nehmen wir an, der
Mann sei Beamter.
Welches sind nun seine körperlichen
Leistunan im Laufe des Tages-?
Sie sind in DerTh it außerordentlich
(
L———
gering. Da er es ziemlich weit zu
seiner Ltfisxe hat, legt er nicht einmal
den Mezq dorthin zu Fuß zurück, son
dern fährt mit der Eisenbahn oder
der Straßenbahn. Jn der Osstce hat
er natürlich auch keine körperliche At
beit zu leisten, er hat es ja nicht nöthig,
Bäume ausszureißen oder Miihlsteine
berumzutragen Mit irgendwie nen
nenswerth schweren Gegenständen
braucht er überhaupt nicht zu manipu
lieren. Er kommt dann wieder mit
Fahrgeleaenbeit nach Hause zurück
und macht nachmittags vielleicht aus
sGesundheitsrücksichten noch einen Spa
ziergang. Darin besteht seine ganze
körperliche Anstrengung.
s Nun sehen wir uns einmal an, was
die Hausfrau, die Gattin dieses Man
nes, an diesem Tage geleistet bat. Sie
that vormittags den Weg zwischen den
’verschiedenen Zimmern zahllose Male
dnretmessem Dabei hat sie sehr osk
»den Wen durch die ganze Wohnung im
Laufschritt zurückleitet-. müssen, weil es
Plötklich klinaelte und das Mädchen
nicht zur Hand war, nn zu öffnen
Sie hat in der Küche hantiert und
stundenlang mit schweren Lasten gear
beitet. Ein aesijllter Wasserkessel, wie
er in Den Kuchen tiblich ist, wiegt 12
bis 14 Pfund. Wie ost allein im
Laufe dieses- Vormittags muß die
jHaugsrau diesen Kessel aufheben und
wieder niedersetzen. Es sei hier auch
noch kurz daraus hingewiesen, daß ein
mit Speisen qeiiillter Schmortops aus
gutem Material bis zu 20 Pfund
koiegt nnd daß die Frau also allein
beim Kuchen mit Gewichten von zehn
bis 20 Pfund stundenlang zu arbeiten
trat.
Die Frau widmet sich aber nicht
allein der Küche. sie muß sich auch mit
den Kindern beschäftigen. Wie ost
nimmt die Mutter nicht das Kind auf
den Arm. lind auch ein solches Kind
hat ein Gewicht von mindestens 20
Pfund; denn selbst der Säugling in
der Wiege, den die Mutter so und so
rst bochnimmt und wieder niederlegt,
wiegt eine Anzahl von Pfunden, die
sich durch die wiederholte Beschäfti
gung mit dem Kinde natürlich sum
mieren. Die Kinder müssen auch
herumgetragen werden, besonders der
Säugling —- das- bedeutet wieder das
Herumschlevpen von Lasten.
Es lag uns nur daran, andeutnngs
weise zu zeigen. wieviel körperliche An
; strengung den Haussrauen zugemuthet
twird Wie groß diese in Wirklich
icit ist, scheint man selbst in den in
teressierten Kreisen, nämlich seitens
»der Eheaatten, nicht zu wissen; sonst
’miirde man die Arbeit der Frau in
Kuche, Haushalt und Kinderstube hö
iter bewerthem als dies leider sehr ost
geschieht. Wenn aber ein: brave,
Pslicltiteisrige Hausfrau abend-H darüber
klagt, daß sie zum Sterben miide sei
nnd sich nicht mehr aus den Beinen
halten könne, hat sie wahrlich Grund
genug zu dieser Klage, denn sie hat
gewöhnlich körperlich das Zehn- bis
Fiinszclkufache von dem geleistet, was
found so viele Männer an diesem
Tage oor sich gebracht haben.
Das: sie dabei auch geistig nicht un
thiitig war, ist ganz selbstverständlich.
-.-—
Sprüche der Lebensweiöheit.
Ob gut, ob schlecht das Jahr auch sei,
Ein bißchen Frühling ist immer dabei.
Wer teinen Willen hat, ist immer
rathloei,
Und wer kein Ziel hat, ist immer pfad
los,
Und wer nicht Früchte hat, ist immer
saatlos,
lind wer kein Streben hat, ist immer
thatlos.
Schaffen und Streben ist Gottes Ge
bot;
Arbeit ist Leben — Nichts-thun ist
Tod.
Der Herr muß selber sein der Knecht,
Will et’g iin Hause schassen recht.
Wisse, was dich dünkt die Welt zu sein,
Das ist der Widerschein von deinem
Herzen,
Sie ist voll Lust, wenn dieses klar und
rem,
Wenn trüb der Sinn, so ist sie voller
Schmerzen.
Weise ist, der nicht traurig ist iiber
das, was er nicht hat, vielmehr froh
iiber das, was er hat.
Unglückselig ist der Mann,
Der unterläszt das, was er kann,
Und untersängt sich, was er nicht ver
steht,
Kein Wunder, wenn er zu Grunde
geht.