Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, July 08, 1910, Zweiter Theil, Image 9

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    Nebraska
Staats-Inzeiger und Frei-old
M
Jahrgang 30.
( m .) Nummer 45.
Sonnenstrahlen.
Kinder-auqu llar und hell,
Gleichen warmen Sonnenstrahlen,
Die das Gran des Alllags schnell
Wie mit goldne-U Glanz ummalen
Kinderlippem hold und rein,
Sind wie Blüthen zarter Rosen,
Können trösten wunderfein,
Sinnig til-indem lieblich tosen.
Kinderhände, schwach und klein»
Wissen fest Das Glück zu halten,
Streicheln sanft dem Millierlein
Aus der Stirn die Sorgensalten.
Ainderherzem warm und weich,
Machen leicht das schwerste Leben.
Und dein Haus wird freudenreicki,
Wenn ein Kindlein dir gegeben.
Clara Fritzsche.
Für die Kinder.
—«-—.
SliZZe von Jonatan Reuter.—
Aus dein Schwedischen vcn M.
Linn-gltriim.
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Der Fischer Sten und sein Weil
Anna hatten mit ganz leeren Händen
angefangen. Er war Knecht aus ei
neni Bauernhose und sie Dienstmädchen
aus dein Nachbarhose gewesen. Sie
hatten sich ed nnd zii getroffen, rnit
einander gescherzt, sich bisweilen in
die Augen geschaut und gegenseitig
großen Gefallen aneinander gesunden.
Und als sie sich eines Tages zufällig
inr Haselgebiisch an einer schettiaen
Stelle trafen, wo die sperrigen Zweige
wenig Raum ließen und sie näher al
sonst zueinander-führten hatten sie sich
dies auch eingestanden. Daraus waren
sie an Sonntag Rachrnittagen zusasn
men hinausgewandert, nnd als sie eine
bewaldete Landspiye niit einer guten
hasenlnicht gesunden hatten, wo eg id
nen nach ihrer Meinung ishr ganzes
Leben lang gesallen würde, ida bestell
ten sie das Ausgebot und begannen die
hätte zu bauen, ind er sie sent wohnten
und die noch nicht ganz schuidensres
war. Dort hatten sie auch Gunnar
und Helga heran-wachsen sehen, ihre
beiden zehnjährigen, braungedrannten,
blauiiugigen und slachgdaarigen Kin
der.
An einem Herbstabend, als das
Feuer im Herde noch lustig brannte,
und die Kleinen, die den ganzen Tag
draußen zwischen dem Steinaeröll des-H
flachen Bergoorsprungs gespielt hatten,
zu Bett gebracht und sanft einge
schlurnmert waren, sagte Fischer Sten,z
der auf einer niedrigen Bank am!
Herde saß: »Wie soll es irn Herbst;
init den Knidern werden?«
Mutter Anna trocknete die eben ge
spülten Teller-. Sie verstand sofort
daß es sich darum handelte, ob die
Kinder zur Schule gehen sollten oder
nicht, denn sie hatte selbst schon längst
iin Stillen darüber nachgedacht, wie
es damit werden sollte. Sten und
Anna hatten häufig dieselben Gedan
ten
«haben wir auch Geld dazu?« sagte
bin-. -
Als-su
Dann schwiegen Beide längere Zeit.
Draußen sank die Dämmerung leise
hervor, und der AbendhimmeL der
iiber dem Walde jenseits der Bucht
goldiq leuchtete, verblaßte allmälig
Sten und Anna wußten wohl, daf;
der Schulgnng eine Geldsrage war.
Sie hätten die Kinder gern zur Schule
geschickt. Der Konsirmntionsunterricht
beim Pastor wäre ihnen dann leichter
geworden, und es war immer von Vor
theil, schreiben zu können· Man tonn
te ja nicht wissen, wo die Kinder einst
in der Welt bleiben würden. Wen-:
Gunnar später zur See ginge. könnte
die Mutter durch Briese stets etwas
von ihm hören, und helga slbnnte ihm
antworten und ihn dadurch missen las
sen, wie es daheim stand. Sten und
Anna waren sich aanz einig in diesem
Dunst, davon war nicht die Rede, aber
die Kinder mußten dann drüben im
Dorf in der Nähe der Schule unterge
bracht werden« und das tostete Geld.
Vater und Mutter konnten zwar den
Leuten. bei denen die Kinder Unter
tunst finden wurden. Brot und Fische
und sonstige Lebensmittel bringen —
rer weite Weg war siir sie dabei von
reiner Bedeutung —, aber der Wohn
raum siir die Kinder mußte immerhin
mit baarem Gelde bezahlt werden.
Zudem toar der Fischfang den ganzen
Frühling und tSomemr iibet schlecht
gewesen, das wiss-ten sie Beide, und es
oerlohnte sich nicht, darüber zu reden.
Tas Geld floß nur spärlich ein, und
nun stand der Herbst vor der Thür»
wo es mit den: Fischfang bald zu Ende
sein würde.
»Wir müssen etwas Bestimmtes ha-"
ben, elf-e wir die Kinder in’s Dorf
schicken tönnen", meinte Sten.
»Ja, natürlich«, erwiderte Anna.
»Aber ivenn wir wieder nichts san
gen?«
»Wir zuben noch einige Tage bis
zur Anmeldung —- laß es uns noch
einmal dersuchen.'« Anna war meist
zur-ersichtlich und shofste stets das beste«
»Wenn der Wind sich nur drehte!«
»Er wird sich morgen wohl drehen,
denn das Wasser war schon gestiegen,
als ich die Wäsche an der Brücke aus
spiilte."
«War gestiegen? Das ist ja ein gu
tes Zeichen.«
Sten wandte sich hastig nrn und
blickte aus dem Fenster nach Südw
sten, als wolle er sich überzeugen, dass
der ungünstige Wind ubgeslaut hätte
und der Südkvest im Anzuge sei. Aber
noch awr nichts davon zu merken.
—
An jenem Abend wurde nicht mehr
ivom Schulgang geredet. Man latn
stillschweigend iibereim dass man nichts
Anderes thun konnte, als den nächsten
Tag abzuwarten, und wenn dieser
nichts einbringen würde, mußte man
sich eben bis zum darauf folgenden ge
dulden.
Der nächste Morgen brachte lterr
lichen Sonnenschein« lein Lüftchen reg
te sich zwischen den Scharen Doch je
näher der Mittag heranriite, um so
mehr trübte sich die Luft am Horizon
te, im Südweften schien »ein Wetter
aufzuziehen Nachmittags stiegen ei
nige Walten in jener Richtung auf,
eine schwache begann zu wehen und
die Wellen gingen höher
,,Wir müssen doch wohl heute Abensd
hinaus«, sagte Sten zu Anna, »aber
ich glaube, es wird eine böse Nacht
werden«
»Wir thun es ja fiir die Kinder.«
»’Soll ich auch einen andern mitneh
men, wenn Du lieber zu Hause blei
den willsts«
»Nein, ich gehe wie gewöhnlich mit,
wir wollen uns sent doch teine un
nöthigen Ausgaben durch fremde Leu
te nrachen."
So wurden die Nede denn Nachmit
tags in Ordnung gemacht und mit
dem Unter in’s Boot gebracht. Die
Segel wurden gehitzt und man treu.zte
in kurzen Schlägen in’5 offene Meer
hinein, solange oie Brise tin-hielt. Als
der Wind adflaute, war man schon in
der Nähe Des Fifchpl.itzes. Die Dün
nungen hoben und senkten sich an den
Felseninseln
Jetzt lag die Meeresfläche weit nnd
foiegelibliint vor ihnen. Ein Leucht
thurm wurde gerade fern im Weiten
angezündet, und im Norden hob sich
die Küste wie ein schmales ountleg
Band vom rothen Himmel ab. Nur
das geübte Auge tonnte mit Hülfe der
tauin wahrnehmbaren Unebenbeiten
die Lage der kleinen Felseninseln er
tennen.
Sten ruderte und Anna stand im
Achter und ließ das viele Meter lange
Netz in prächtigen Bogen in das dun
tel gewordene, wie Stahl schimmernde
Meer hinabiallen, daß die Wellentäm
me röthlich erglänzten Als das ganze
Jtetz mit seinen Birkenflöfzen und her
abstehend-en Steinen ausgeworfen war,
beseitigte man das legte Enoe am
Boot und dann wurde alles dem « lind
und den Wellen überlassen
Die Nacht brach herein und es
Olieh nun nichts anderes übrig, als-«
sich unter dem Segel zu Rufe zu le
gen. Zu schlafen wagte Sten jedoch
nicht, und auch Anna tonnte tein Auge
schließen. Sie wußte, daß Sten sich
wegen des Wetters beunrutiigte Das
Boot fchaulelte leise auf und als, die
Dünnungen spülten mit weichem Rol
len an seine Seiten und allerlei schwa
che Laute ertönten in der Luft. Wenn
man das Segel ein wenig in die Höhe
hoh, sah man in der Ferne die Blinte
des Leuchtthurms, eine Strecke nach
Süden bewegte »sich leise rauschend ein
Dampfer mit spielen hellerleuchteten
Fenstern vorwärts; idas Ganze fah aus
wie ein geheimnisvolles Märchensichloß.
das üsber’s Meer dahinglit Am Him
mel funkelten die Sterne —- es wur
tyen ihrer immer mehr-, je länger man
Ginsah, und vom Lande her hörte man
»den häßlichen Ruf der Seehunde, die
auf den Fellenliängen lagen.
So ruhten sie halblchlummernd im
Boote und fühlten, nrie die Dünungen
allmälig höher und höher wurden Al:
Sten einmal die Anan öffnete, ge
wahrte er am TüdlichensHorizont einen
plötzlichen, schnell verickisvindenden
Schein. Er lag noch eine Weile still,
dann sagte er: »Zollen wir Das Netz
ein-zieben?'«
Anna wußte ebenfalls, wirst- fich im
Meer vorbereitete, aber trotzdem zö
gerte sie mit der Antwort. Sie wuß
te, daß die See schnell wuchs, wenn
die Dünungen in dieser Weise ohne
Wind stiegen, und sie verstand, daß
es gefährlich werden konnte. Anderer
Ifeits iiviir Sten ein Mann, auf den
man sich verlassen konnte, er hatte fein
Boot in der Gewalt wie wenige, nur
war er etwas zu besorgt, aber das war
er erst geworden, seitdem sie die Kin
der bekommen Gatten. Anna wurde
von quälender Unentschlossenheit er
griffen. Sie wollte das Boot Ikeiner
»Gefahr aussetzen, aber andererseits
i konnte eine Nacht wie diese Reichthü
mer bringen.
Ballen wir einziehen? fragte Sten
zum zweiten Male.
»Laß uns noch etwas warten-. er
widerte Anna schließlich.
lEs wetterleuchtete jetzt häufiger und
greller, die Sterne verbargen sich bin
ter diinnen Woltenschleierm und eine
schwache Brise begann zu wehen. Die
Luft veränderte sich, die Wellen gin
gen Oschon hoch, und der Wind brachte
kleine Regenschauer. Stens Unruhe
wuchs mehr nnd mehr.
»Wir müssen doch wohl einziehen«,
sagte Anna jetzt aus der Dunkelheit
beraus. Sie begriff. daß sie nicht
länger warten durften, und hatte wie
derholt daran denlen müssen, wie
schrecklich es fiir Helga nnd Gunnar
wäre, wenn ein Ungliict geschehen soll
te. Sten setzte sich zu den Rudern, nnd
Anna sing an, das Netz einzuziehen;
Ringsumher herrschte Finsterniß. Bis
weilen slatnmten Blitze am Horizont
aus und zogen blendend immer b«
am Himmel empor. Das Wasser rann
wie Feuer vom Netz herab. Es war
Meerleuchten heute Nacht.
Anna wurde es unheimlich zumntbe,
als sie mit der schweren Arbeit Ibeschiifi
tigt war. Sie bereute eg, daß sie über
hauen hinaus—gesa«hren waren. Sie See
schlug hart gegen den sAchterstevem nnd
sie wurde naß vom emporspritzenden
GischL Da sah sie plötzlich trotz der
Dunkelheit etwas Weißes im Netz blin
ten, nnd im nächsten Augenblick fiihlte
sie, daß Fische in den Maschen hingen
-— wie viele eo waren, ließ sich nich: so
genau erkennen. Das Netz wurde ixn
mer mehr eingezogen nnd war ietzt
überall voll und schwer von Ettlin
mung. Mitten in ihrer Angst tam est
wie Freude über Mutter Anna, Wer
sie sagte Sten nichts davon, denn sie
wußte nicht sicher, ivie groß der Fang
sein lonnte. Sten fragte auch ni-.t)t,
er hatte genug mit dem Boote zu l!i«1n,
Trielleicbt dachte er auch, daß eg nicht
mehr iei als gewöhnlich Zudem tani
das Unwetter jetzt schnell heran, der
Wind nahm an Stärke zu, und die
Wogen thürmten vsich übereinander.
Nun war das Netz völlig eingezogen
und es galt, an Land zu kommen. In
der fie umgebenden reiben-schwarzen
Dunkelheit wagte Sten nicht etier
Vollfegel anzusetzen, bis man Irr
Küste etwas näher gekommen kvxir und
sichere Fühlung mit dem Lande l).itte.
Stumm safz er am Ruder und spiidtc
hinaus. Woyl blinkte der Leucht
t"l)urm, aber er lag zu weit seitwärts,
als das-, man sich nach ihm hätte sich
ten können. Sten wußte, daß es rings
um ihn her Riffe im Meere aals, und
er hörte die schäumenden Brandunaen
ganz nahe. Da bemerkte er plötzlich
fern im Norden einen fchwachenScksein
der ab und zu wieder verschwand
Sten erkannte diesen Schein und
glaubte jetzt auch oie Umrisse des
Storderges im Norden zu unterichei
den. Das Großfegel wurde beigesetzt
itnd das Boot flog dahin. Die Blitze
leuchteten mit verschärster Klarheit und
in einiger Entfernung grollte schon der
Donner. Jeyt galt es, bei Zeiten zu
entkommen.
Sten kannte sich jetzt wieder aug.
Auf dem Felsen dort fah er die ein
same sEberefche, die den Lichtschein ab
und zu verdunkelt hatte, und das Licht
kam aus ihrer eigenen Hütte. Groß
mutter war mitten in der Nacht ans
aeftan«den, hatte Feuer im herbe anne
macht und Licht angezündet Sie
nahm an, daß Sten undJAnna nun
bald nach Haufe kommen würden.
»Das hier haben »wir für unsere
Kind-etc faate Sten. Er shatte jetzt
klare Fahrt und seit zum Reden.
»Du haft es also auch gesehen?«
sagte Anna freudig.
Drinnen in der Hütte ging Groß
mutter im Stäbchen hin und Eier. Als-·
Sten Unr) Anna un der Brücke anqe
legt hatten und in Die Stube tr-.1ten,
war der IKaffee fertig.
Dann saßen sie am Herde beisam
men, froh, baß fie geborgen waren.
nnd glücklich über das-, ivgs das Meer
ihnen gegeben hatte, während Hequ
und Gunnsar ihren gesunder-. Schlaf
schliefen nnd der Gewitterreqen unter
Donnern und Krachen niedersxiuste
-——-.-..-—-— ;
Stille Winkel in London
Die Hiißiichieit Londous ist wie
die heitere Pracht Lutetias, die blitz
sautbere Neuheit Berlins, ein oft ge
hörte-z Schlag-dort und wohl die
meisten Fremden empfangen »von der
Riefenftadt troy einzelner zweifellos
sschöner und großartiger Bilder
zuerst den Gesammteindrucl einer
verwirrenden Disharmonie Sie ift
so ernst und spröde, kennt teinLächeln,
teine freundliche Koletterir. hat wenig
Sinn fiir Verhältnisse und Verspri
tive, erniichtert felbft an pathetifch ge
hobenen Stellen durch Zwischenfchieb
fel gefchäftsmäßiger Profa und ver
fällt zuweilen, wenn sie das Alltags
tLeid abstreifen und mit anderen
Hauptstädten pomphaft wetteifern
möchte, in fteife Maskerade. Aber
London gewinnt, wenn man es näher
tennen lernt und sich die Bergleicheah
gewöhnt. Für den seinen, rein male
rifchen Reiz des Straßenbildeg, dag,
arm an lebhaften Lolalfarben, durch
Dunst und Nuß die zarteften Posten
töne von sammtnem Blauschwarz bis
zu leichtem, perlengleich fchillerndem
Grau hervorzaubert, mag nicht jeder
mann empfänglich fein, doch gewährt
vielen allmählich die Freude am Cha
rakteristischen einen Ersatz sijr ausge
glichene, sofort einleuchtende Schön
heit. Jn dieser Hinsicht bietet Lon
don, das ausSiedlungen fehr verschie
dener Art zufammengewachfen ist, im
mer neue Ueberraschungen. Besonders
fällt dem Wanderer oft die enge Nach-«
barfchast von geräufchvollem Leben
und weltabgefchiedener Ruhe auf. Jn
Vierteln, tvo man vorn Omnibusdach
nur Laden, Bänken, Lagerhäufer, eine
ununterbrochene Rette von Fuhrwerk
und emsigeg Gewimmel auf den Bür:
gcrfteigen ficht, fände ein Maler oft
dicht bei den Hauptftraßen Motive zu
Bildern, die er nach gefühlvoller eng
lifcherSitte Einsamkeit oder Fern vom
lauten Weltgetriehe betiteln könnte-,
ein Square mit träumenden Bäumen,
in denen die Amfel ruft, oder einen
außer Dienst gesetztenKirchhoL wo mit
roftiaen Gittern umgebene Grabplat:
ten, deren Namen längst von schwärz
lichem Moos iiberwachsen sind, im ho
hen Grase liegen.
lfin tleiner Friedhof, nicht der stim
munggvollste, aber einer der mert
tvijrdigsten liegt vor der Kirche St.
Bartholomew the titreat bei Sinithi
sielo. Sehr unromnntisch sieht
Sinithsield aus, too einst die Trompe
ten zum Turnier aus grünem Rasen
bliesen, und too später die berühmte
Bartholomäugtirmeg mit ihren Krani
,bnden, Menagerien, Theatern, Seil
»tänzern und Quaclsalbern tobte, das
.Melta aller Rausbolde und Beutel
schneidet in und um London. Eine
Seite des Platze-J nehmen heute die
mächtigen Hallen des Zentralsleischs
marltes ein, aus der anderen dehnt sich
dac- toeitläusige BartholomäushosvitaL
die übrigen Häuser sind zumeist lang
weilige, moderne Gebäude mit Ge
schäftsstuben, Speichern und Restau:
kaute-. Jn der Mitte des Platzes
windet sich, eine kleine, staubige Gar
tenanlage umschließend, eine breite
Fahkstraße hinab zu unterirdischenj
Eisenbahiidepot5. Ohne Unterlaß«
rollen die Karten, in langen Reihen
stehen Plainoagen, aus denen die weiß
rötshliehen Beinstriimpfe enthiiuteter
Rinder und Oammel shervorlugen, der
Wind tehrt in den Ecken Stroh und
Papier-setzen zusammen, um sie gleich
daraus wieder über das Pslaster zu se
gen Neben einem hohen, mit großen
goldenen Buchstaben protzenden Bau
duckt sich verschiimt ein windschieses,
urgroßväterliches Häuschen, dessen
vorspringendeStocktoerte aus einem go:
thischen Spitzthore mit start beschädig
tee, seühmittelalterlicher Steinhauer
arbeit ruhen; durch dieses Thor führt
ein enger Gang zu dem Kirchhof, und
mit wenigen Schritten gelangen wir
aus der polternden Gkoßstadt in einen
Winkel, der ein altes, verödetes Land
stiidtchen vortäuscht. Jm hintergrund
erhebt sich der gedeungene, stumpfe,
braunrote Kirchturm mit seinem Zin
nenlranz und den verblichenen Gold
ztsseen der Uhr; den Kirchhof umgeben
die Rückseiten von Häuser-n so das-z
man aug den Fenstern der Erdge
schosse mit ausgestrecktem Arm die
nächsten Grabsteine erreichen kann.
Abgesehen von einem neuen Bau
mit hellen, alasierten Ziegeln und ei
fernen Balkonen tragen die Häuser aus
ihren spitzen Giebeln die Last von
Jahrhunderten Sie bestehen aus Holz
und sind mit einem Gipgbewurf über
zogen, dessen fröhlich rosarote Farbe
durch Ruf; und feuchten Ausschlag ge
dämpft ist. Hier und da bauchen sich
Balken vor, der Bewurf bröckelt ab,
Strümpfe und zerrissene Wäsche hän
gen vor den Fenstern, und doch liegt
ilber den morschen Häusern eine me
lancholische Würde, als gedächten sie
in ihrem Verfall der Tage, als hter
noch reiche Patrizier wohnten. Zu
iweilen hört man dumpfe Hammer
jschlägh als wenn ein Schuster Nägel
lin Sohlen klopfte, das Knirschen einer
Säge und Kindergeschrei, aber diese
Alltagsgeräusche beinträchtigen nicht
»den seltsam trübseligen Eindruck des
Kirchhofe-L der wie ein Stück modern
der Vergangenheit zwischen den Be
hausungen der Lebenden eingesenkt ist.
Auf dem Boden wächst dünnes, kränk
sliches Gras, die rußschwarzen Leichen
sfteine, deren obere Kante der Regen
weiß qewaschen hat, stehen in Reihen
wie wackelige Invaliden; im Winter,
wenn der Boden kahl ist, erinnern sie
;c.n abgenutzte verstämmelte Zähne in
« der schwarz verwittertenskinnlade eines
vorsintfluthlichen Ungethü-ms. Selbst
zwei Katzen,die sich mit blinzelnden
Funkelaugen hinter den Grabsteinen
auflauern, sind keine gewöhnlichen
Illäusejiiger. sie haben Kunde von
manchem Geheimnis, das hier begra
ben ist, denn ihre Ureltern schmiegten
sich an die dürren Kniee des Alchimi
sten, der in jenem Keller seinen Tiegel
iibcr die Flamme hielt, und die runz
ligc Here, die dort in der Giebelstube
Liebestränke braute, nannte sie zärt
lich ihre lieben Söhnchen und Töch
terrtien.
Die Kirche ist eine der ältesten Kir
chen Londons; wenn iie viel schnöde
Unbill zu erdulden gehabt hat-lange
Zeit hatten sich Werkstätten in ihr ein
genistet, und man zeigt noch heute
Wände, die von dem Rauche eines
Schmiedefeuers geschwärzt sind —, so
ist ihr dafür die Verschönerungssucht
Wreng und schliintnerer Verballhor
ner ferngeblieben. Die nackten, grau
gelb und schwarz gescheckten Mauern,
die duntlen Wölbungen und die wuch
tigen, narbenreichen normannischen
Säulen geben ihr eine diistere Tragik;
man trifft gewöhnlich ein paar junge
Damen an, die mit Kohle oder Waf
ferfarben die Architektur auf geduldi
jges Papier übertragen.
; Nicht weit von Smithfield liegt
;.Lwlborn, wo sich den ganzen Tag iiber
Ieine hofticie Prozession von Omnibufi
ssen, Automobilen, Drofchken und
Last-innen hintvälzt. Der schönste
lSchmuck der breiten Straße sind nicht
einzelne ragende Gefchäftgpaliiste, son
dern eine Reihe in dieser Umgebung
doppelt auffallendcr Giebelhänser aus
der Zeit Jakobs l., die dem großen
Vrande von 1666 entgangen sind und
mit ihren abenteuerlicb schiefen, sauber
schwirz und weiß gestreiften Wänden,
den traulichen Ertern und kleinen
tileiaesasiten Scheiben zu den bekannte
ften Wabrzeichen Londons gehören.
Ein Thoriveg in dieser Häusserreihe,
dein Stahle Inn, leitet in einen Hos,
dessen beschauliche Ruhe nach dem
Lärm der Straße ähnlich wirkt, als
versente uns ein Zauberspruch aus
einein laufenden, stanspsenden Maschi
nensaal plötzlich in die stille Studier
stube eine-I Landpsarrerss. »Es ist
einer der Wintel«, schrieb Tickensy »in
denen der von der lauten Straße ein
tretende Besucher die Enipsindunq hat,
als triiae er aus einmal Watte in den
Ohren und Sametsohlen unter den
Stiefeln. Es ist einer der Winkel, wo
einige Verriiucherte Sperlinge in ver-—
räucherten Bäumen zwitschern, als rie
sen sie einander zu: Laßt uns spielen
wir wären aus dem Lande!« Den vier
eckigen Hos, dessen spißwarzigcs Pfla
ster von Pfaden glatter Platten ge
Ireuzt wird, uinschließen schlichte Back
steiiibiiiitenx die kleinen, trüben Schei
ben der Fenster liegen niit der Außen
seite der Mauern in einer Ebene und
sind von schmalen, einst weiß ange
strichenen, heute schmutzig gelben Holz
streisen eingerahmt. Aus Hogartschen
Stichen tennt vielleicht mancher Leser
solche Häuser, die in ihrer jedes»
Schmucles baren Niichternheit sriiherl
siirLondon charakteristisch waren. Hier
in dem stillen Hofe jedoch hat die an
spruchslose, altmodische Spießbiitger
lichteit einen großen Reiz. Der Stamm
und die Aeite der Bäume sind, wie
Dickens bemertte, verräuchert, aber
setzt iin Frühling tragen sie blanke
Knospen, deren in der Sonne strah
lendes Gelbgriin durch den g rellen Ge
Jensan die beschatteten Wände in einen
inalerisch entzuctenden duftig blauen
Zelleier hüllt. Durch einen schmalen
Gang taki-. men wir zu einem zweiten
Sof, der einen kleinen Garten umfaßt.
Ein allerliebstes Bild ergehen die im
mergriinen Sträucher, der frische Ra
sen, die Beete flammender Narzissen
und dic gesprenkelten Platanen vor
dem IbraunrothenGebäude. das rnit den
hohen Kommen der aroßen Uhr. dem
spitzen Thürmchen des Schieferdaches,
auf dem Tauben trippelm ganz aus
sieht wie das bescheiden patriarchalische
Hurenhaus eines Laut-gutes Die
neueren Gebäude in der Nachbarschaft
passen sieh zumeist den« alten Stile an,
nur ein hoher Bankbau, dessen aufge
blasene —Ornamentit, Terratotta-Me
daillons und blau-grüne Kachelpseiler
start an ten Prunk mancher deutscher
Bierpaläste gemabnen, blickt störend in
die altväterliche delle.
Wie Holborn hat auch die verkehr
reiche Flut-Sind ein stiedliches AshL
den Temple. Seine Häuser. Brunett
hallen, Gänge, Höfe und Gärten bil
den eine kleine Stadt für sich; Bände
könnte man füllen mit seinerGeschichte,
mit den unzähligen Anekdoten, die sich
an ihn knüpfen, mit Schilderungen
der Persönlichkeiten, die in seinem Be
reich gelebt haben, entweder in Fleisch
und Blut oder als Phantasiegestalten
der Dichter. Der Name des Gebäude
lompleres stammt von den Tempelher
ren, die sich hier im Anfange des 12.
Jahrhunderts niederließen. Das ein
zige Ueberbleibsel aus ihrer Zeit ist die
Amme-Kirche eines der vier runden,
nach dem Muster der Kirche des Heili
gen Grabes erbauten englischen Got
teshäuser. Die kleine, aber durch ge
diegene Pracht ausgezeichnete Kirche
enthält neun in schwarzem Marmor
gebildete Statuen von Tempelrittern,
die aevanzert und die Hand am
(n-!
XVllslUcllgllH ulu Plaudern Josua-u
auf den Gräbern liegen. Nachdem der
zu einein Klub hochnäsig üppiger Mii
ßiggänger entartete Bund aufgehoben
worden war, fiel der Temple an die
Krone und wurde bald das Haupt
auartier der Rechtsgelehrten, das er
auch heute noch ist. Die Herren, die
uns begegnen, zeigen unter formellem
Zvlinder eine verschlossen frostige At
tenniiene, manche blättern in einem mit
farbigekn Faden aeheiteten Schrift
stiict; zuweilen segelt in gebauschtem
schwarzen Talar ein Anwalt an uns
vorbei. den Kon umhüllt von den klei
nen, festaedrehten Löckchen der weiß
aranen Pferdebaarperiicke. Die ältern
Teile ch Tempels find recht stim
mungsvoll. Einsache Ziegelsteinhäu
ser, wiederum mit kleinscheibigen,
sdiinnrahmigen Fenstern, schaaren sich
um schmale Gänge und einsame ver
steckte Höfe, wo der Schritt widerhallt
und das schrille Zanten der Spatzen,
das man im Getümmel der nahen
Fleet Street gar nicht hören würde,
als ldrmende Dreistigleit empfunden
wird. Sie gleichen alten Gesetz
biicbertL die höchst ehrbar, aber etwas
verstaubt und abaeqrissen aus dem Re
oal stehen. Uebrigens ist hinter den
ernsten. pedantifchen Wänden nicht nur
viel Tinte, sondern auch viel Ale und
Vorm-ein aeslossenz die Chronik mel
det von mancber Oraie zwischen mus
fiaen Folianten und Attenbijndeln, um
die gichtbriichiqen Fichtenholztische
Lirmlichcr Tsachstubem in denen das
Geschick stets mit Vorliebe Gelehrte,
Kiinstler und Dichter einaesverrt bat.
Der beriibmte Jurist Blactsione, de:
unter Goldsmithg Bodenlanuner
wohnte beschwerte siciz oft iitxer ruhe
stdrenden Unsua.
L Von Lieblmbern des alten Londonsz
und esxinnerunqgsüchtigen Amerilane
irinnen gerader verhiitschelt wird die
iFontiine im FountainslsourL beson
ders- seit Dickens ihr lustiges Plät
schern so biibsch mit der unschuldigen
Liebesaesebichte der belläugigen, nied
lichen lleinen Rath verflochten hat An
beißen Jammertagen wenn selbst in
sonnenlose Höfe des Temple ein schwü
ler Hauch dringt, ist der Springbrun
nen inmitten der Steintviisie ein er
articklieber Anblick; durch das gezackte
Laub der Platanen streut die Sonne
qlitzernde Funken über den weiß spriis
henden Strahl, dag gleichmäßige
Seinvatzen und Murmeln des Wasser-J
im Betten llingt wie ein Wiegenlied,
und die stiihle genießend sehen wir
schläfrig lzwischen neuzeitigen Anhan
ten dec- Temple hindurch, über die
mohlgepflegten Rasenflächen der
Templegärten zum Silberstreisen der
Themse, wo die Schornsteine und Se
gel der Schiffe vorübergleiten.
Nicht aus das viele Wissen kommt
es an, sondern daraus, daß man das,
was man weiß, auch anzuwenden ver
steht.