Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, April 01, 1910, Zweiter Theil, Image 13

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    Isi.
W
. Glitt-O Freier.
sit Lotiesshlkr.
Auf eineni Treppenabsas blieb hof
raib Schneide-, iief Atbem holend,
eben. Er nahen den grauen Cylins
ab nnd beiupfie mii feinem fei
denen, nach tiilnifchern Wasser daf
ienden Suche die Siirn. Sehr vor
sichtig ibat er das, damit seine wohl
sepflegte Schläfenlocke nicht su Scha
den käme. Und ebenso vorsichtig fefzie
er dann seinen Cylinder wieder auf.
Die Abendfonne fchien durch das
Treppensenfier, das mii einer himmel
blau und weiß gemufterten Gardine
verhangen war. hätte Ludwig
Schneider gesehen, wie bleich ihn das
bläuliche Licht erscheinen ließ, er wäre
sicherlich heftig erschrocken. So ver
ursachte ihm der Anblick der Gardine
nur eine angenehme Erinnerung. Sie
war aus einem Sommerkleid seiner
Freundin Elvira Scriba gemacht
Er fah lächelnd nach dem blauen
Gewebe. Sehr. sehr lange war es
her, daß Elvira diefeg Kleid trug und
auf einer grünen Wiese mit ihm Blin
dekub spielte. Und nun seufzte er
tief. Das war sehr lange her —
wirklich —— daß sie jung waren. —
Und dann erschrak er doch. Eilige
Schritte kamen die Wendelireppe her
auf —- dann erklang ein melodisches
Lachen. So konnte nur Elvira la
so
chen.
»Sie sind wohl ganz entzwei, here
Dostathi Ja, die liebe Zeit! Und
ein Wiedersehen seiern Sie auch —
te Gardine! Ja — ja, das ist das
nde alles Schönen! Es wird dienst
bar femachtk Da stand Etvira ne
ben hm und lachte ihn an und war
weder miide noch matt von dem Aus
siieg. Der hosrath kam gar nicht
sum Antworten. Er machte nur eine
Verbeugung und trat zur Seite.
»Das Treppensteigen ist Ihnen
wohl ein ungemahnt Ding? Jst es
Ihnen schlecht betomment Oder ist
es der herbst, der Jhnen in den Glie
dern lie t? Er bringt ebenso viel
Unruhe ins Gemüth wie der Früh
ling, find' ich.«
»Der Herbst? Sie finden dass
Rein, das ist es nicht. Ich fiihle mich
durchaus wohl. etwas ermüdet aller
dings. Wie lann man auch so hoch
wohnen!«
»Ja — nun -- ich ftrebte immer
hoch hinaus. Sollten Sie das nicht
mehr wissen? Schließlich landete ich
fiinf Treppen hoch in einer Mansardr.
Ein Glück für Sie, das-. Sie mich
nicht versehlten. Ich werde voraus
gehen, um die Thüre zu öffnen.
Kommen Sie langsam nach!«
Ludwig Schneider hatte eine unbe
hagliche Empsindung, als leira
flinl vorausging. Er hatte Mühe-,
eine ärgerliche Stimmung zu iibers
winden. Wie gut Elvira Scriba
aussah! Ihre Augen leuchteten un
ter den seinen, dunklen Brauen. Jhre
Wangen schimmerten rosig wie gut
das zu ihrem vollen. weißen Haar
stand!
Ja diese feinen, dunklen Brauen!
Seine Schwester Anguste behauptete,
cskvira verdanke diese wirkungsvolle
Zierde einer am brennenden Licht ge
schwärzten Mandel. skr sand, es sei
vollkommen gleichgültig aus welche
Ursache eine so reizende Thatsache zu
rückzuführen sei.
Elvira gehörte feiner Ansicht nach
zu jenen Frauen. welche zu jeder Zeit
ihres Lebens fchiin und reizvoll zu
fein verstehen —— nein« es ganz ab
sichtslos sind -- , so daß die Natur
nie beleidigt wird.
Als er aus der letzten Treppenwem
dung angelangt war, öfsnete gerade
Elvira die Porsaalthiirr. Ein Licht
strom fiel auf die Treppe. Ludwig
Schneider sah entzückt empor. El
oira stand in der ossenen Thüre, die
Sonne wob einen hellen Schein um
ihr silbernes haar -- eine Aureole,
dachte er aufrichtig begeistert. Und
wie miidchenhast schlank diese Frau
noch war! —
Er eilte die legten Stusen hinaus
Cr vergaß, daß ihn vor wenigen Mi
nuten seine Kniee geichnierzt hatten,
und der Athem kurz geworden war.
Und nun standen sie sich gegenüber
in der Mansardenwohnung, fünf
Treppen hoch, im Haus »3ur Golde
nen Krone«. Jn dem stattlichen, stol
zen haus, das einst Elviras Vater
besessen hatte, als er noch Rathsmann
und Weinhiindier war, —-— ein reicher
Mann, dessen Geld in der Hand eines
leichtsinnigen Sohnes wie Morgenthau
vor der Sonne zerrann
·Wie lange wollen Sie denn noch
hier oben wohnen?«
Eldira zeigte nach dem Himmel, der
in wundervollen Farben glänzte.
Goldi , violeit und roth. »Begrei
sen S e nicht, daß ich gerne hier oben
binl Dieses Schauspiel sehe ich sasi
seden Abend. Und wenn ich will,
auch am Morgen. Und es ist jedes
mal gleich gewaltig, einerlei ob der
Schrecken oder die sansteiie Lieblich
teit die neben gemischt hat. Jch
versolge d e Goldene, hier an meinem
Fenster sihend, Stunde um Stunde.
Und dann Abends —- den Mond und
die Sternel«
.Wie Sie noch schwärmen können,
Eintre- — genau so wie damals, als
Sie mir eine Rauchsiiule zeigten, die
aus einem im Wiesengrund verdor
us aussilegt, und behaupte
ten, se ersengrade gen himmel rulefe
Ihee Sehnsucht —- ins Blaue he
out-M seinen, hohen Ziel. «
W
»Das haben Sie nicht vergessenf« s
Elvita sah ihren Gast erstaunt an. z
Und er wurde ehrlich unlet dem Bann i
dieser hellen Augen. !
»Buch, ich halte es vergessen, aber I
es fiel mit wieder ein. als ich die
blaue Gatdine sah." s
Elpita nickle und lächelte. ’
»Wie alt sind wir denn?« fragte
der Dostath. Es klang wie eine ver
legene Entschuldigung
»Wir beides Wir beide zusam
men?« Elvika lachle jehl laul und
zählte an den Fingern. »Genau ein
Jahrhundert, wenn wir unsere Jahre
zusammengeben. Ein rundes Jahr
hundetl.«
.Jch hin sieben Jahre auer ais
Sie. Elvira. Ich entsinne mich noch
ngnau auf Jhren ersten Ball. Sie
trugen einen Kranz von rothen Fuch
sien in den hellblonden Locken, und
Jhr Kleid war weiß wie Schnee.«
»O ja s-- auch ich erinnere mich
noch genau dieses Abends. Mein herz
pochte so laut zum Zersprinaen
Meine Mutter sagte: »Heute trittst
du in die Welt hinaus.« Wie selt
sam das alles war, als ich an der
Seite meiner Eltern in den Ballsaal
inm. Jch dachte während meiner
Jugendzeit ost, ähnlich ergeht es wohl
einer Seele. wenn sie in den Himmel
kommt: Glanz.und Melodie, und
Duft und Farben. ---— Aber nun sind
wir zuiammen hundert Jahre alt
und sollten nicht tveiter an der Ju
gend siisie Thorheiten denten, sondern
denten an die grauen Tage, welche
der Winter bringt«
Sie hatte eine einladende Bewe
guna nach dem Fenstererler gemacht,
der rund in Thurmtorm gebaut war.
Zwei beaueme Sessel standen dort.
dazwischen ein Arbeitstisch mit Bü
chern, ein bunter Asternstrausz daraus.
Ludwig ließ sich in einem der Sesset
nieder. Es war ihm ein angenehmes
Gefühl, weich und warm zu sitzen
nach dem mühsamen Ausstieg. Wa
rum war er nie hier oben gewesen -—
niemals? Er rückte sich tiefer in den
Sessel zurück, eine Berlegenheit he
schlich ihn, die er vordem nie getannt
hatte.
«Wissen Sie, weshalb ich tomme?«
»Sie haben mir etwas Wichtiges
zu sagen! Sie hätten sonst nicht den
Ausstieg gewagt. Ehe Sie sprechen.
möchte ich Jhnen doch ein Glas Süd:
wein einschenlen? Mustat « Lu
nel dars ich?«
Sie wartete teine Antwort ab,
sondern holte aus dem Ectschrant eine
Karosse mit dem dunkelgelben Wein,
fiillte zwei Gläser voll und bot eins
davon dem Gast. Und eine grüne
Glasschale mit Nußternen holte sie
herbei, und dann ergriff er das Glas,
stieß an das ihre, grüßte huldigend
mit den Augen und führte das Glas
an seinen Mund. Da bebte seine
schmale Hand taum mertlich. Nicht
das Alter verschuldete das. Son
Idern ein seltsames Erschreclen iiker
Eso viel Schönheit und Gelassenheit,
idie seine Augen erblickten. tsr trant
Zmit tiefem Behaaen Langsans
Idas war ein seltener Genuß. Und
Eder Herr Hofrath Ludwig Schneider
iwar ein feiner Genießer: der süße,
- schwere Wein, und diese schöne, sanfte,
i reife Frau.
Elvira nippte an dein Wein im
Glas, nahin einen Haselnußtern und
sah ihren Gast erwartungsvoll an.
Und dann geschah etwas tltäthsel
haftes. Er fand keinen Anfang und
hatte doch so genau gewußt, was er
in Worte fassen wollte, heiite an die
sein schönen Her sitag. Er sah seine
schöne Freundin aus der Jugendzeit
ängstlich an. Würde sie ihn ausla
chen. wenn er jetzt seinen Glückwunsch
zu der Erbschaft anbrachie, die ihr
wider Ermatten zugefallen war. —
wenn er sie bat. iin Namen feiner
Schwester und aller guten Freunde,
aus dieser entlegenen Mansarde weg
zuziehen, in ein freiindlicheres Haus«
vor das Thor? - Verlegen fuhr er
sich wieder mit seinem seidenen Tuch
über Stirne und Augen.
Elbira lächelte nicht. Sie sah
ernst, fast traurig aus« Von ihni
weg blickte sie zum Fenster hinaus,
über die Dächer, nach den schlanten
Thürmen und nach dein Tauben
schwarrn, der gerade der untergehen
den Sonne nachsloa und dann im
Duft des Abendhimniels verschwand·
Sie hatte sich iind ihren Gast auf
Augenblicke vergessen. Er irsaaie
nicht« an ihrer Verfuntenheit zii riih
ren.
Da erklang von irgend woher das
Spiel einer Flott. Weiche, seine Tö
ne, bei denen man an farbige Sei
fenblasen dachte, oder an Nosenblati
ter, die der Wind über ein Grab ge
streut hatte. Diese Töne ioertten sie.
Und es tlang iehr traurig, als sie
seht zu ihm sprach: »Sie hätten nicht
kommen sollen, Ludwig. —- hätten
uns Beiden das ersparen sollen.«
»Liebe Elvira --— Fräulein
Scriba -—«
Sie hob abwehrend die hand, auf
das Lied der Flöte lauschend. Wie
die Töne durch die Luft schwammen,
näher tamen, vorbeizogen und sich
mit dein leisen Summen-des Abend
windes davon machten, der im Schin
delbehang des Giebels spielte! Darin
ließ sie ihre Augen durch das stille
Mansardenzimmer gehen, das sie
liebte, wie der Vogel sein Nest. Und
erhob sich aus ihrem Sessel und
chritt aus dem Erter hinab bis zu
dein grünen Kachelofen. Dort blieb«
.-.—.--—.
sie stehen. Ludwig Schneider dachte:
Sie legt mit Bedacht eine räumliche
Entfernung zwischen uns, ehe sie
spricht.
Elbira aber empfand es wie eine
Wohlthat, daß sie im Halbdunlel
stand, und ihr Jugendfreund im
Abendlicht am Fenster saß. Sie stellte
fest, daß er immer noch ein schöner,
stattlicher Mann sei, etwas miide
vielleicht, mit einer erwachten Sehn
sucht im Gemüth, und ihre Heftigleit
verwandelte sich in Schonung. Und
sauch das wurde ihr llar, daß diese
jmitleidige Schonung nicht zu seinen
« Gunsten sprach. Eine Frau wird nur
heftig in abweisender Rede, wenn ihr
Herz nicht ganz frei ist, - - schonend
nnd mitleidig, wenn kein einziger
;Funle mehr unter der Asche glimmt.
Dann antwortete sie sehr ruhig:
»Seitdem ich diese Erbschaft machte,
sorgen sich alle meine Freunde um
mich. Sie finden plötzlich, daß ich zu
i hoch wohne, zu einsam lebe und unter
sMenschen gehen müsse — - Ich hoffe
diese Erbschaft « dieses Geld. Schon
einmal machte mich vor Jahren das
iGeld weil ich es verlor, einsam. Wis
sen Sie noch, Ludwig, in diesem
Herbste sinds gerade dreiszig Jahre
her, daß die Srribas bettelarm wur
den. -- - Nun bin ich wieder so reich
wie damals-. Aber ich blieb einsam,
obgleich alle wiedertommen, um mich
ihrer Freundschaft zu ver-sichern, und
behaupten. ste hätten es bestimmt ge
wußt, daß das Schicksal doch noch
einmal einen versöhnenden Ausgleich
finden werde Verföhnender Aus
gleich! Wenn ihr doch wüßtei. wie
lange ich schon mit dem, wag ihr mein
Unglück nennt, ausgeiöhnt bin-«
»Elvira - —’Sie werden bitter und
ungerecht.'«
Da iam sie wieder mehr in die
Abendhelle deg Erkerfenster-L Jedoch
ste blieb neben dem Pfeiler stehen«
der den Erler gegen das Zimmer ab
grenzte.
Sie schüttelte das Haupt· »Nicht
so, Ludwig. Jch bin nicht bitter,
nicht ungerecht. Trostlos war ich
damals, als sich zum ilngliick die
Schmach gesellte, —- als Sie mir
llar machten, daß die Verhältnisse
stärler wären, als wir als die
Liebe, an die ich glaubte. an die Sie
nur im Glück glauben tonnten «
,,(klbira, blieb ich nicht einsam wie
du?" Er sprach leise, und hingerissen
von ihrer Schönheit schlich ihm die
alte, trauliche Vlnrede über die Lip
- pen. —
,,6insant wie ichs Oh nein, Du
sandest dich auf deine Weise mit dem
Leben ab.«
»Ich hatte Verpflichtungen - meine
Mutter —
»Um Gottes- willen, ich hadere und
rechte doch nicht mit dir, Ludwig
Schneider," entgegnete sie stolz. ,,Lasz
s mich dir alles sagen um jener Glücks
strtnden willen, die du in meine Jus
grnd brachtest. Ich war unglücklich
Jch saf-, hier in diesem tirter, allein
und verlassen. Der Bruder feige ans
dem Leben geflohen. der Vater vor
tttram gestorben. Ich hatte Rie»
manden, ich dachte zuriick - nur
immer zuriick utdd schüttelte verwun
jdert den Lobi Ich mochte nicht an
das denken, was lam. lind eines
Hlbendcy als ich hier saß in diesem
kErter und nach der untergehenden
Sonne schallte und nicht anfstand
— - eine ganze einsame Nacht lang
ach so einsam - - die Sterne zogen
cauf s- die Mondstchel hing in den
. Wollen die llhren schlugen der
jWind sang die Glocken läuteten
---— das Leben fchlief rin, das Leben
erwachte wieder - und die Sonne
ging strahlend aus: da erstand in
tnir die scheue Ehrfurcht vor dem
«Uebermiichtigen, dem wir nichts sind.
lind gleichzeitig damit noch ein an
I deres: das tfinssein mit jenem lleber
smächtigen Da erwachte eine andere
ISehnsucht in mir, ich wollte start
.sein und zu den lleberwindern gehbs
) ren — ich bin nicht einsam und nicht
;bitter, Ludwig, --- ich bin so reich,
I daß ich oft selbst erschrecke. Jch habe
; jene Ruhe gewonnen, die iiber Freude
i und Schmerz steht. Mich locken nicht
-Gold, nicht Liebe, ich bin wunschs
und sttrchtlod."
Elvira ftrich sich, tief aufathmend,
mit der Hand iiber die Stirn In
völlig anderem Ton dann fuhr sie
fort: »Ich hiitte Ihnen dies vielleicht
verschweigen sollen, Herr Hosrath isz
war auch wirklich meine Absicht, mit
einem Scherz über die peinliche Si
tuation hinwegzukommen in die mich
Ihr Befnch brachte - — aber dann
bezwang mich doch die Erinnerung
an das Löstlichc das wir einst beia
ßen —- nnd ich wurde wahr-«
Sie ftieg die eine Stufe hinauf,
setzte sich wieder in den Sessel. ihm
gegenüber, ergriff ihr Glas und trank
es langsam leer.
Er fand teine Worte. Lange fah
er sie an, und sie wich seinem Blick
nicht aus. Dann sagte er langsam,
und feine Stimme klang feft aber
traurig: »Einmal als ich jung war,
iflvira, — am Morgen jenes Tages-,
an dem ich dir Abends meine Liebe
erklärte, die Treue fchwor« -—-— er
ftockte und fehlon für einenAugenblick
die Augen — »bändigte ich mein wil
des fett-. Das war ein HochgefühL
wie ich es nie wieder empfand. Jch
ahnte nur manchmal. wie göttlich fchiin
es fein müßte, ein geliebtes Weib zu
bezwingen. seine Seele zu gewinnen.
Heute weiß ich. was mir entging an
Götterwonne, als ich dich verließ —»
s— - . I
weil die Verhältnisse mich zwangen«
Er hatte die letzten Worte in bit
terer Selbstverspottung gesprochen
und stand nun auf. Auch sie hatte
sich erhoben. Die Sonne war hinab,
ydie Dämmerung lag wie ein Schleier
vor den Fenstern der Taubenschwarm
, flog mit tnarrendem Flügelfchlag dicht
l am Fenster vorbei. Die Flöte schwieg
j — es war still ringsumher
- Eldira verließ zuerst den Erler.
I Sie zündete schweigend ein Licht an
,und geleitete ihren Gast zur Thüre
skltoch einen Augenblick stand er zö
gernd da, ihre lalte, schöne Hand in
seiner weichen haltend, dann schritt
er hinab.
Sie blieb, über das Geländer ge
beugt, stehen und hielt das Licht hoch.
lind dann bedachte sie die Rundungen
der Wendeltreppe, daß sie dem Licht
schein Schranken setzten. Deshalb
aing sie fürsorglich hinter ihm drein.
Wenn er bei einer Biegung aussah
nnd die stille Frau mit dem Licht
erblickte, dessen Flamme im Wind er
l)ebte, ging durch fein Herz ein stum
mer Jammer, eine heiße Sehnsucht
nach nie geiostetem Glück.
If sf O
In dieser Nacht fegte der Herbst
sturm iilser die Dächer, und es regnete,
als« ob alle Schleusen des Himmels
aedffnet wären
Wieder saß Elvira im Sessel am
Fenster. Sie lauschte aus das Stöh
nen und Schluchzen der .Herhstnacht,
und es siel ihr schwerer als sonst,
den reinen Ton heraus zu hören, der
vom wiederkehrenden Frühling singt-«
—-—-- 44 —
l
Bis-mirs send das Russlscheo
Als Fürst Bismarl its-O als
spreußischer Gesandter nach Peters
Aburg kam, fing er an, bei einem jun
kgen Studenten Russlch zu lernen,
»der ihm zweimal in der Woche sriih
sum 10 Uhr Stunde gab. Der
igroße Staats-name siirchtete zunächst,
zsich bei den vielen Konsoranten und
szsischlauten die Zunge zu verrenken.
Als er aber erst einmal die ersten
Schwierigkeiten überwunden hatte,
machte er mit seinem staunenswerthen
Gedächtniß überraschende Fortschritte.
Während des Unterrichts kam es
»in manch lustigen Zwischenfällen
Bismark hatte auf der Jagd einen
lleinen Bären gefangen, mit dein
seine beiden, damals R und 11 Jahre
alten Jungen spielten nnd der in dem
großen Saal. wo die Lettionen statt
fanden, frei herumlief. Während Bis
als fleißiger Schüler Turgeniews da
mals eben erschienene Novelle »Das
adlige Nest« ins Deutsche iibersetzte,
mußte er auf einmal laut auslachen,
denn der Bär hatte sich dem Lehrer
genähert, und dieser war in entsetzli
cher Angst. daß die Bestie ihm in die
Waden beißen könnte.
Durch seine rasche lsrlernnng des
sRussischen lenlte er sogar die Ans
merksamteit des Zaren aus sich. ist
war mittags ins kaiserliche Schloß
geladen worden nnd Alex-ander lt.
fragte ihn: ,,Verstehen Sie Rus-»
sisch?« Ich verstehe es ein wenig,
Masestät,« antwortete Bismarl dreist,
wenn es nicht zu rasch gesprochen
wird.« »Lernen Sie die Sprache
schon langes« sraate nun der Zar
weiter, und als Vismark aus rus
sisch erwiderte. ,,(7rst seit vier Mona
ten,« war Vllerander höchlichst er
staunt iiber ein so ungewölmliches
Sprachtalent und äusietie sich
darüber in den schmeichellmftesten
Worten zu dein Gesandten
Besonders Spaß machte Bismark
;die vielfältige Bedeutung des Wor
ites »Nitschewo«, das eigentlich »Es
i thut nichts!« heißt, dessen Sinn aber
lans die verschiedenste Weise je nach
Idem Inhalt des Gesprächs ausgelegt
;werden lann und sowohl dem Aus
Idrurt des Bedauerns und der Ent
isehuldigung wie der Zufriedenheit
Hund Genugthuung entspricht. Die
Vieldeutigkeit dieses russischen Aller
weltwortes sollte er einmal in fühl
barer Weise kennen lernen. Bei einem
sJagdausflng hatte er sich berspätet
»und einen Schlitten gemiethet, der
iihn möglichst schnell zu seinem Gast
sreunde bringen sollte. Aber der
Kutscher kam ihm trotz aller milden
und kräftigen Erinahnnngeu, die er
an ihn richtete. nicht rasch genug vor
wärts. Aus die Frage, weshalb er
denn nicht schneller fahre und ob er
auch den richtigen Weg nicht verfehle,
antwortete der Kutscher immer gelas
sen: ,.Nitschewol« Selbst cls er« ei
nen Pusi in den Niiclen erhielt, zück
te er nur entsagungsvoll mit den
Schultern und murmelt- wieder
»Nischewo!«. Plötzlich machte er mit
seinem Schlitten eine zu kurze Wen
dung. Das Fuhrwerk neigte sich be
denklich zur Seite und tippte endlich
mit seinem erlauchten Passagier um,
der schon damals iiber zwei Zentner
wog. Bismark fiel mit dem Ge
sicht in den Schnee. Als er sich wie
der erhob und ärgerlich zu schimpfen
anfing sagte der Kutscher, nachdem
er seinem Fahrgast gemiithlich den
Pelz abgeklopft hatte: ,,Nitschewo,
Herr, wir werden schon irgendwo
glücklich ankommen.«
ROH- -
Ein Familien Dame:
»Sehen Sie nur« Herr Ober, der Herr
hat das ganze Glas Bier über mein
Kleid gegossen.« Ober: »Ach, das
ist nicht so schlimm, es gibt ja mehr
Bier.« ·
Des Auge des Betst-erhub
Krtminalistische Stute von T. v. Mts
wallstiidt.
. Lavater, der berühmte Professor der
I»Phyfiognomifchen Fragmente zur
Beförderung der Menschentenntniß
nnd Menschenliebe«, erwartete einst
das Bildniß Herders Als er es end
lieh in Händen zu halten glaulste,
ifand er in den Zügen des Edlen that
lsächlich alle jene erhabenen Eigen
fschnftem die er ihm zugetrant hatte·
IWeder ilein noch freudig sollte aber
-Lavater’g Ueberraschung sein, als es
sich bald herausstellte daß er in die
ser Weise einen turz zuvor in Han
nover hingerichteten Mörder »der-ni
achtet« hatte.
Diese Anetdote, die keineswegs er
sunden ist, zeigt so recht deutlich, wie
«leicht die Physionomit versagen kann,
wie schwierig es ist, ans den Zügen
«des Menschen seinen moralisscksen
Werth bestimmen zn wollen. Nichts
destoweniger verzichtet der Criminas
list in der Ausübung seines Bernfes
doclt nicht ans die Mithilfe dieser
,.Wissenschast«; denn haben ihn er
fahrttnggreiche Arbeitsiahre erst zn
einem wirklichen Menscheniennec ge
macht, so weiß er wohl im menschli
chen Antlitz zu lesen.
Damit ist nicht gesagt, daß es ihm
einfallen würde. aus der angeborenen
Form der Gesichtsziige aus »Gut«
oder »Böse« schließen zu wollen. Es
hat allerdings eine Zeit gegeben, in
der man viel von einem sogenannten
»Verbrecherthpus« sprach; aber das
Gebäude der Lehre vom »geborenen
Verbrecher«, der an bestimmten tör
verlichen Erscheinungen zu erlennen
sein sollte, ist eingestürzt, weil es auf
unwissenschaftlicher Grundlage errich
tet war. Nicht die Form der Gesichts
«ziige, mögen sie noch so grob, absto
ßend nnd unheimlich sein. läßt auf
einen verbrecherischeu Geist schließen:
Der ehrlichste und harmloseste Mensch
tann diese Form theilen mit dem
verworfensten Mörder. Eines aller
dings wird er nie mit ihm gemein
haben, wenigstens fiir den Menschen
ienner nicht: den Ausdruck, das Mie
nenspiel!
Und wenn der Verbrecher sein
Mienenspiel sei es vor dem Rich
ter, sei es vor anderen Leuten, die
er täuschen und deren Vertrauen er
gewinnen will wenn er sein Mie
nenspiel auch noch so glänzend zu be
iherrschen sucht, über etwas ist ihm
jdie Macht auf die Dauer versagt,
leines verrath ihn schließlich doch ein
mal, das ist der wahrhaftige Spiegel
der Seele, das Auge!
Wie es ihn zu verrathen vermag in
einem gröberen Sinne, das werden
lwir später sehen; das psnchologische
Moment interessirt uns- zunächst.
Eine Eigenthiinilichteit aller, die
sich fet:!!dig fiihlen, die sich herstellen
und die Entdeckung siirckiten miifsen,
ist der blitzartig schnell geivorsene,
lauernde, sorfchende, scharfe Blick.
Dein Erfahreneu geuiigt das Anffan
gen eines einzigen solchen Blickes, um
zu wissen, welches Urtheil er sich bil
den soll. Solche sorschende, scharfe
Blicke entfliehen z. B. auch dem Si
mulanten, der sich einfältig stellt. Die
Simulation von Dummheit kommt
iiberaug häufig vor. Besonders dann,
wenn ein Verbrechen mit raffiniiter
Schläue in Szene gesetzt worden ist,
greift der Thater mit Vorliebe zu
dieser Verstellung. Jn seinen Antwor
ten vermag er sie auch auf die Dauer
so ziemlich durchzuführen Einen
wirklich »dummen« Ausdruck der
iAugen erreicht aber bekanntlich kaum
"der begabteste Komiker. Namentlich
dann, wenn der Angeklagte plötzlich
in eine schwierige Lage gedrängt wird,
tann er es nicht verhindern, daß ein
Blitz höherer Intelligenz durch fein
Auge zuckt
Auch wo es gilt, Simulation von
Geistestrantheit festzustellen, lvird auf
den Ausdruck des Auges als auf ein
besonders wichtiges Moment geachtei.
Verbrecher, die den »milden Mann«
spielen, mögen sich noch so große
Mühe geben, eine Geistesftörung
glaubhaft zu machen —-— der Blick des
Jrren steht ihnen nicht zur Verfü
gung. Ueber den Blick des Simulan
ten schreibt Penia aus feiner reichen
Erfahrung heraus: »Man wird im
mer die Beobachtung machen, daß die
Augen des angeblich Geistes-kranken
lebhaft, beweglich find und Aufmerts
( faniteit verrathen, das-, sie fest auf den
Fragesteller gerichtet sind, daß sie im
iiner in dessen Gesichtsaugdrucl oder
dein der tlniftehenden. in den Aeufie
i
rungen, die fallen. in den Schriftzü
gen, mit denen die Eltotizen gemacht
werden« die Meinung. die man sich
über sie gebildet hat« zu entziffern be
smübi sind. Die Augen erftrahlen nie
fin dem vhosphoreszirenden Glanze
ides Maniatalischen zeigen nie die
jdiistere Theilnahmslosigteit des Me
)lancholis«chen, nie den lebhaften oder
.mif3trauifchen Ausdruck des Para
Iuoifchem nie den argwöhnischen, un
!ficheren, schreckhaften Ausdruck des
!Epileptiters, nein, sie bleiben die
iAugen des Verbrechers, aufmerlend,
sbeweglich kalt und finster.«
! Einen besonders scharfen, blitzarti
gen Bli ck besitzen übrigens die Falsch
fpieler. Es ist ein Blick ganz eigen
ihiinilicher Art lvie man ihn gerade
so bei keiner anderen Verbrechertaste
Tfindet Diefen charakteristischen Blick:
Lüben fie und brauchen sie eben beis
...-.—««- .. ..
ihxer »Berussarbeit«, dem Falfchspie!.
Seine Anwendung in schwierigen Le
benslagen wird ihnen schließlich zur
zweiten Natur. »Leute", schreibt
Hanns Groß,’,s»deren Existenz, Ge
winn und Freiheit davon abhängt,
daß sie auf das allerschärfste beobach
ten und alles sehen, was für sie wich
tig ist« ohne daß aber die anderen be
merken dürfen, daß sie etwas sehen
aewiihnen sich dieses eigenthiirni
liche Schauen so an. daß sie dann,
wenn sie zwar nicht nach den Karten
sehen müssen, sich aber doch in be
denklicher Lage befinden, jenen ge
wohnten Btick auch nicht meistern tön
nen. Dieser Blick hat weiter das
tfiaenthiimliche, daß die Leute infolge
aroßer Uebuna weit nach rechts oder
lian schauen tönnen ohne hierbei den
Kopf überhaupt oder merklich wenden
zu müssen· Hierbei halten sie den
Kopf etwas vorniiber, ziehen die oft
Jaufaetiimmten Augenbrauen zusam
Ernen, um so einen Schleier für die
Augen bilden zu können, und nun
Hliegen die scharfen Augen blitzartig
nach allen Seiten, ohne daß der Ge
aeniibersi tzende der ja eine auffallende
Kopfbewequna nicht wahrnimmt, eine
Ahnuna davon hat« daß der Grec so
klebhaft umherschaut und beobachtet.
Sitzt derselbe dann vor dem Un
tersuchunggrichter« so weiß er sehr
gut, daß es jetzt um ein sehr ernstez
lSpiel geht, und daß ihm dasselbe,s
was ihm so oft beim Spiel geholfen
bat: Menschenkenntniß, Scharsbliek,
kaltes Blut und Unverfrorenheit, auch
heute noch helfen kann. Es ist nicht
zviel Unterschied zwischen der heutigen
sSituation und anderen, in denen er
sich oit genug befunden hat. Die Lage
» ist ihm nicht fremd, er bleibt in seinen
laewobnten Manieren und läßt seine
I Blicke blitzen, ivie er sonst gethan. Der
Untersuchunggrichter, der aber nur
einen einzigen solchen Blick aufsängt,
weiß, mit wem er es zu thun hat.«
Jn einem ganz anderen Sinn noch
.vermag das eigene Auge den Uebel
ithiiter zu verrathen: Ein flüchtiger
«Verbrecher, der sich unkenntlich ma
chen will, vermag sein Aussehen aus
fast unglaubliche Weise zu verändern.
iDie Farbe des Auges aber wird von
Tsolchen Versuchen nicht im geringsten
berührt. Sie kann er nicht umwan
deln gleich seinem übrigen Aeuszeren.
Darum gilt auch die Augensarbe als
eines der wichtigsten Erlennungsmerb
male. Mit Hilfe der ,,Bertillonage«,
d. h. vermöge jene-H berühmten Sig
nalementH, dessen Prinzipien Vertil
lon festgesetzt hat, ist der Criminal
«beamte im Stande, die feinste Far
zbenniiance eines Auges zu bestimmen,
Idaß Jrrthiimer ausgeschlossen sind.
Damit diese Klarheit der Bestim
mung erreicht werden konnte, mußte
natürlichen mit einigen im täglichen
Leben gebrauchlichen, aber ungenauen
Benennungen gebrochen werden.
«(Itraue« Augen gibt es z. B. nicht im
Hssrkeununagdienst Was man graue
Augen neunt, sind meist blaue, die
imehr oder weniger mit gelblichen
YToneu durchsetzt sind. Man spricht
Iauch vou ,,s-.t)warzeu« Augen. Die
Ekttegenboaenhaut ist aber nie völlig
tschwarz, sondern uur dunkelbraun.
E Zum Zwecke des Signalementg
iwerdeu die Augen in zwei Grundty
Ipen eingetheilt, in nichtpigmentirte«
Uteiueu braunen Farbstoss enthalten
1det und in schwarzbraune Augen.
Nietnpigmeutirt sind z. V. die azur
;blauen, schieferblauen u. mittelblauen
««Augen. Bei den pigmentirteu Augen
iunterscheidet man gelbe, Drange, ta
Ystanienbrauna treigförmig schwarz
Zhrauue, selnuarzbraun griinliehe und
i schwarzbraune Augen.
f Leider verbietet uns der beschränkte
,Raum, nähere Detailg der Augenbr
schreibung, wie sie heute eingeführt ist,
zu geben. lFH sei nur noch einmal be
ftoni. das; sie von großer Ausführlich
iteit und Klarheit ist. Besonderheiten
fund Anomalieu des Auges werden
inatiirlich auch nicht auße: acht ge
’lassen. Gerade sie können sich durch
innregelmäfiige Vertheilung des Farb
stosfes in der Regenbogenhaut aller
lei sonderbare Figuren bilden. So
erscheinen mituuter im menschlichen
Auge klare, woblleserliche Ziffern.
Besitzer solcher ,,numiuerirter« Augen
diirsten wohl mit besonderer Unsehls
barkeit wiedererkanut werden.
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Der fchlaaserttge Zeuge.
»Wenn ieb recht verstel)e,« schnauzte
in einein amerikanische-n Gericht der
Vertheidiaer den Zeugen an, »sind Sie
Lehrer. Wissen Sie in dieser offi
ziellen Eigenschaft etwas über Ursache
und Wirliina?'« s »Jamol)l,« ant
wortete der Zeuge mit den milden
Zügen. »Und wollen Sie mir,
bitte, mal sagen. ob die Wirkung je
mals der Ursache vorangeht?«·-- »Ja
wohl, das tann der Fall sein« —
,,O! Und wann, wenn ich fragen
dars?« -— »Wenn eine Schiebtarte
von einein Manne geschoben ivird.«
Das Publikum ticherie, und der
Richter putzte seine Brille· »Sie schei
nen so klug zu sein,« höhnte der Ver
theidiger, »daß Sie den Gerichtshof
vielleicht auch darüber austlären wer
den, wieviel Seiten ein Kreis hat?«
»Gewiß!« entgegnete der Zeuge.
»Er hat zwei Seiten.« — »Jn der
That! Und welche sind hast« -—·
»Die Jnnenseite und die Ariszenseite.·
—— Der Fall wurde vertagt.