Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, February 18, 1910, Zweiter Theil, Image 14

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    Heimweh
Roman von Rheinhold Qrtmann
(4. FortsehungJ
Während sie ihr behilflich war, be
rührten ihre Lippen leicht die Wange
der Mutter. Dann trug sie die ab
I gelegten Qleidungsstücke hinaus, und
als sie nach wenig Sekunden wieder
eintrat, schien Doktor Dallwigs
Selbstmord für sie eine vollständig
abgethane Sache.
»Auch ich habe eine Neuigkeit für
Dich liebste Mama — aber zum
Glück eine erfreuliche. Wir werden
das Vergnügen haben, eine sehr in
teressante Bekanntschaft zu machen.
Denke nur: Doktor Artners Bruder
ift nach fünfzehnjährigec Abwesenheit
gestern ganz unerwartet Zurückge
kehrt. Und mit einer reisenden jun
gen Frau« von der mir der Doktor
während der legten halben Stunde
schrecklich viel vorgeschwärmt hat. Er
hat mir versprechen müssen, sie uns
recht bald zuzuführen, und ich kann
Dir gar nicht sagen, wie ich mich aus
sie freue.'«
Es war, als hätte Frau Flemming
zugleich mit ihrem Pelzmantel auch
ihre Aufregung abgestreift. Sie war
seht wieder ganz die beherrschte und
gemessen liebenswürdige Frau von
der Welt, als die hermann Artner sie
bisher tennen gelernt. Nur ein eigen
thümlich gefpannter Zug in ihrem
Gesicht und ein gelegentliches Zur-ten
ihrer Mundwintel verrieth, vaß ihre
äußere Ruhe nur eine Maske sei.
»Gewiß —- es wird uns sehr an
genehm sein«, sagte sie höflich. »Ihr
vHerr Bruder war weit von liier ent
fernt?«
»Allerdings, gnädige Frau! Er lebte
ieit seinem einundzwanzigsten Jahre
in Apia auf Samt-TM
Mit einer hastigen Kopfbervegung
wandte die Wittwe sich ihm zu.
»Auf Sarnoa? Was Sie sagen?
Das ist in der That außerordentlich
interessant. Und seit fünfzehn Jah
rent«
»Ja Eine unbezivingliche Wan
derluft ließ ihm nach dein Tode un
serer Eltern keine Ruhe mehr hier in
Deutschland Es war ein nicht ge
ringes Manißx aber er hat glückli
cherweise keine Ursache gehabt es zu
bereuean
»Ur m namin ais zveunaoer ver
Firma Rodenberg zurückgekehrt, Pio
rna«, ergänzte Else mit einem ge
wissen Rachdruch Aber Frau Mem
mina hatte es allem Anschein nach
twhdem übe-schürt Sie sah ein paar
Setuirden lang ins Leere, als ob sie
inr Kopfe irgend eine Berechnung an
stellte. Und dann wandte sie sich
mit viel größerer Wärme als zuvor
an den Besuchen
»Sie müssen ihn bei uns einfül,k
ren. lieber herr Doktor! Unter al
len Umständen müssen Sie es thun.
Jch erwarte es als einen Beweis Ih
rer Freundschaft.«
»Mein Bruder wird soviel Liebess
tvürdigteit gewiß nach Gebühr zu
schätzen wissen, gnädige Frau!«
»Und Sie müssen ihn uns bald
bringen —- recht bald! Ohne all:
steifen Förmlichleitenl Ich weiß, die
beeren Ueberseer sind teine Freunde
von dergleichen.«
Hermann war ein wenig überrascht
von der Dringlichkeit dieser Einla
dung, die weit iiber die konventionel
len Höflichkeits - Formen hinausging.
Aber er tonnte sich davon nur ange
nehm berührt fühlen, da sie ja den
Wünschen entgegenkam, die er für die
Anbahnung eines herzlichen Freunkk
fchafts - Verhältnisses zwischen Else
und seiner Schwägerin hegte. Da
zu, auch Frau Flemmina über Tuinias
Heriunft aufzuklären, fand er für jetzt
seine Gelegenheit mchr. Denn das
Dienstmädchen meldete den Besuch
Vier denk. Hause befreundeter Da
men. Und nach ihrem Eintritt wandte
sich das Gespräch sofort wieder Dem
großen Ereigniß des Tages, dem
Selhsnnord des Dottor Djllwu ku.
Die Wittwe vermochte sich jetzt mit
vollkommener Ruhe darüber zu äu
ßern; aber die Unterhaltung bewegte
sich bald so ganz in den Bahnen des
alleraewöhnlichsten Kl.atsches, das-, dem
Doktor seine Zubökerrolle von Minute
zu Minute peinlicher wurde, und dass
er sich zum Aufbruch erhob, sobald es
schicklicherweise geschehen konnte. Frau
Flemmina verabschiedete ihn überaus
freundlich. Und wenn ihm auch Else
unter den beobachtean Blicken der
Besucherinnen weder in Worten noch
in Mienen ein Liebeszeichen geben
konnte, so sagten ihm doch der Druck
ihrer band und die glitzernden Gold
pünttchen in ihren Augen alles, was
ihre Lippen then verschweigen mußten.
Er Hins. Und als ihn unten wie
der das geschäftliche Straxentreiben
the, da war ishm zu inn, als
wäre hat«-große Erlebnisz der letzten
Stunde krick-is anderes gewesen, denn
ein holder, wunderlicher Traum, aus
Dem er in der kalten Winterlust
M lo r ur nüchternen Wirk
s» ern-Ist sei. Er sliichtete sieh
auf die menschenleere romenade
Inst des Zins-users, um site eine
Ieise Beile allein zu sein mit seinen
sehe-len- ber das köstliche Glücke
M das berauscht hatte, wäh
I ee Eise Flemming in seinen Ar
men hielt, ftellte sich tros der Ein
lanrteit in feiner vorigen Fülle und
Reinheit nicht wieder ein.
Er liebte sie —« aetvißt Wie hätte
es ihm in den Sinn tommen können,
daran su zweifeln. Aber er war sei
nen - indfätzety feinem wohlerwo
genen Entfchlusse untreu geworden,
als er es ibr in einem selbstvergeffe
nen Augenblick verrathen. Und ef
mochte das Bewußtsein diefer un
miinnlichen Schwachheit fein, das
jetzt bei der Erinnerung an iene feli
aen Minuten leine ungemischte Freu
de in feinem Herzen aufkommen ließ
Er konnte die seltsame Bellommens
heit nicht los werden, die auf feiner
Seele laa wie der Druck eines be
aanaenen Unrechts oder die Vorab
nuna eines kommenden Unglück-T
Und zudem drängte sich in feine Ge
danten immer wieder das Bild jenes
unaliicklichen Rechtsanwalts, dem er
mit feinem heutigen, entweht-nas
fchweren Besuch im Flemsmingfchen
Hause hatte Trotz bieten wollen.
»Pab — wohl dem, der es hinter
sich ball« hörte er ihn mit etwas
schwerer Zunge und farlaftifch verzo
aenen Lippen sagen. Und ein irr-fli
aes Erfchauern ging ibm über den
Rücken. als er daran dachte· aus wel
cher Stimmung heraus der Mann
diese wegwerfende Aeußerung über
den Werth des- Lebens gethan baden
mochte.
Und dann jenes andere unselige
Wort, iener freundschaftliche Rath:
.Lassen Sissicb nicht zu tief mit
den Flemmings ein, mein lieber Herr
Doktor! Es würde für Sie laum
etwas Besseres dabei herauskommen
als bittere Enttäuichuna!« Wie ganz
anders llana es ihm ient in der Seele
nach —- fetzt, da er wußte, daß der
Mann, der es aefprocken, ein Ster
bender gewesen war! Warum
hatte er ihm nicht heftig entgegnet!
Warum hatte er nicht auf der Stelle
eine Erklärung von ihm verlangt, die
ibn all der auälenden Zweifel über
hoben haben würde, von denen er sich
jetzt heimgesucht fiiblteS Nun war
es zu spät, und der Mund des War
ners war auf ewia aefchloffen. Ob
es nur ein durch nichts begründeter
persönlicher Groll gewesen war, der
aus ihm gesprochen nur die bas
hafte Freude am Verhetzen und Ver
leumsden — jetzt gab es teine Mög
lichkeit mehr, es zu ergründen. Der
bohrende Stachel hatte fein Gift ver
fprihb und hermann Artner fühlte
es in feinem Fleische brennen, wie oft
er auch das liebliche Bild des theuken
Mädchens Zu Hilfe rufen mochte, um
über dem Bewußtsein feines gleichsam
vom Himmel aefallenets Glückes, das
fatale Nagen zu vergeon.
Bon Fwiefpaltigen crnpfindungen
gepeinigt und bitter unzufrieden mit
sich felbft, schlug er na kurzer Wan
derung durch die dun en verschwi
ten Wallanlagen den Rückweg ein
nach der inneren Stadt, um das mit
feinem Bruder verabredete Stelldich
ein nicht zu versäumen. An einer
Anfchlagfiiule blieb er ftehen, denn
fein Blick war von ungefähr auf das
vom Licht einer Straßenlaterne helt
befchienene Platat des Urania-Thea
ters gefallen. Und ohne besonderes
Interesse, nur um feinen Gedanten
eine andere Richtung zu geben, Eber
flog er das Programmverzeichniß.
«Ellinor, eine Waise —— Elfriede
Ander5«. las er gleich an der zweiten
Stelle. Und ohne daß er sich hätte
erklären können, wie es zugegangen
war, fühlte er in diefern nämlichen
Moment für die unbekannte Tochter
des unbekannten«P«ern«hard Lornfen
eine mittels-tue Zyeunayme, von uer
er vorhin während seiner Unterhal
tuna mit Fräulein Dvrette kaum ir:
aend etwas versuiirt hatte·
Er dachte an Rolss Erzählung von
dem lieben Kindergesickytchem in das
er ganz verliebt gewesen sei, und er
stellte im Weitergehen allerlei Ver
muthungen darüber an, wie das ver
wsaiste Töchterchen des abenteuerlu
stiaen Samoapflanzers aus der Ob
but des sittenstrengen Fräulein Breul
aus die Bretter der Vorstadtbiihne ge
langt sein mochte·
Er hatte sich nur um wenige Mi
nuten verspätet; aber Rols und Tut
ma erwarteten ihn bereits im Lese
zimmer des betet-T Seine junge
Schwägerin lächelte ihm freundlich
entgegen-: aber als er ihr, der in sei
nen Kreisen herrschenden Sitte ge
mäß, die Hand küssen wollte, zog sie
sie verlegen zurück.«
»Was sangen wir nun an?« fragte
Reli, der wie immer in der heiter
sten Stimmung war. »Ich fühle mich
gerade ausgelegt, irgen etwas recht
Närrilcbes zu unternehmen.«
hertnann wirkte nicht recht, ob er
mit Rücksicht au Tuima einen Thea
terbesuch vorschlagen diirse. und da
sie den Wunsch äußerte,' noch einmal
aus ihr Zimmer zu gehen, um die
dort vergessenen handschuhe zu ho
len, benupte er zunächst ihre tut-e
Abwesenheit um dem Bruder itber
das Ergebnis seines Besuch-s bei
Fräulein Dorette Vreul zu berichten
Dankbar schiittelte tbm Noli die
hand. denn es bereitete then ersicht.
lieb gros- Fveude- daß die Macht-I
stunden waren
er. Jlnd nun weiß ich auch, W
Urania-Theater, um uns rnhard
Lornfens Tochter anzusehen-«
befcheidenfter Gattung«, wandte Der
inann bedenklich ein. »Und wenn ich
nicht irre, giebt man irgend ein schau
derbaftes Spettatelftiicl.«
«Das ift einerlei. Es trird uns
schon Spaß machen. Und follte es
uns zu bunt werden, gehen wir ein
fach wieder fort. Ich bitte Dich unt
-Hitnniels willen, Liebfter, mir nicht
durch äfthetifche Skrupel das Vergnü
gen zu verderben.«
Danach blieb dein Doktor nat-Tir
lich nichts anderes übrig, als sich still
schweigend zu fügen.
s. It a p i t e l.
Fast am letzten Ende der mit aller
lei oollstbümlichen Vergnügungöftiip
ten besetzten hauptitraße der Hafen
vorftadt erhob sich das unanfehnliche,
fchniucklofe Gebäude, über dessen Ein
gangsthür in großen schwarzen Buch
ftaben die Inschrift »Urania:1heater«
brannte. Das- alte. verwitterte Haus«
an dessen Fassade sich der Putz in
großen Stücken zu löfen begann, hatte
allerdings nicht gerade das Aussehen
eines vornehmen Kunfttempelo. Und
während er feiner Schwäaerin aus der
Drofchle half, verspürte Hermann doch
wieder einige Gewissensbisse, daß er
sicd dem abenteuerlichen Vorhaben sei
nes Bruders nicht energischer wider
feht hatte.
»Die Geheimniffe von London oder
beldenniiitbige Schioefterliebe. Schau
spiel in elf Bildern«, stand in gewalti
gen Lettern auf den blutrotden An
» lchlagszetteln zu beiden Seiten des
) Einganges. Und einige Matrosen wa
ren eben damit beschäftigt, andüchtig
die gewissenhaft aufgezählten Titel
diefer elf Bilder zu ftudiren Der üb
liche Sturm auf die Kasse aber war
bereits vorüber, und nur vereinzelte
Nachzügler fchoben noch sich hastig in
, den matt erleuchteten Flur-«
- -«.
Das ist is ganz prächtig«. lng
ioir fest unternehmen. Wir hen inss
»Aber es in eine Aufmerwa
l
s «Ftemdellloge —- mmr want-« -
) fragte der Kassiter zuvortommend
inachdem er einen etwas verwunder
jten Blick auf die elegant getleideten
; Besuches geworfen. Und dann Hom
i men sie die lleine. halsbrecheris
» steile Stiege empor, die aus dem Ka -
; senflur geradewegs-« zu dem bevorzug
- ten Platze führte.
Es war ein winziger duntier Ver
schlag. der wahrlich mehr Aehnlichkeit
mit einem Käfig als mit einer Thea
terloge hatte. Aber nachdem sich ihre
» Augen ein wenig an die Dämmerung
gewöhnt hatten, gewahrten, sie daß sie
nicht die einzigen Jnsassen des klei
nen Raumes waren. Ganz im hin
tergrunde, aus einem bescheiden in die
äußerste Ecke gerückten Stuhl saß ein
weibliches Wesen, dessen Gesicht bis
zur Untenntlichteit beschattet war,
dessen fast noch tindlich schlanle
Formen aber auf ein Alter von höch
stens fünfzehn oder sechzehn Jahren
rathen ließen.
Beim Eintritt der neuen Ankömm
linge schien sich die jugendliche Thea
terbesucherin noch fchiichterner in ihre
Ecke zu rriirlea Und Noth höflich-e
Frage, ob sie nicht aus einem der vor
deren Stiihle Plan nehmen wolle, be
anirvcrtete sie mit einem taum ver
nehmlich geflüsterten: »Nein. ich
danle —- ich bleibe lieber hier.«
Just in diesem Augenblick ertönte
das leßte blecherne lingelzeichen,
und schwerfällig, wie mit verdrießli
chem Widerstreben, rauschte der ver
schlissene Vorhang empor.
hätte nicht der Zette! verrathen,
daß »ein verrufener Stadttheil von
London« der Schaut-las des ersten
Bildes fei, so würde man sich ohne
Zweifel aus den Marltplatz eines
höchst ehrbaren deutschen Städtchens
versetzt geglaubt haben. Das auf
dee Szene herrschende halbduntel
aber und die lebhafte Phantasie der
dicht gedrängten Zuschauer mochten
die Illusion dennoch zu einer vollstän
digen machen. Und es ging wie ein
Murmeln· der Entrüstung durch das
haus, als der allen Stammgiisten
wohlbekannte Bissewicht des Urania
Theaters schleichende-r Schrittes und
in Gesellschaft zweier ebenfalls äu
ßerst verdächtig ausfehender Indivi
r
duen die Bühne betrat.
f
Es gab zwischen den dreien ernel
weitläufige Unterhaltung iiber ir
gend einen fchurlischen Anschlag des-;
sen Opfer eine arme, elternloie Stra-»
ßensängerin werden sollte. Die bei
den Strolche wurden beauftragt, sie
mit List oder mit Gewalt zu entfüh
ren. Und nachdem jeder von ihnen
eine »Hundertpfundnote« als band
geld empfangen hatte, schlich sich der
Bösewicht, von einigen unzweideuti
aen Aenßerungen der Verachtung aus
den oberen Rängen begleitet, mit deni
unvermeidliten Aechzen und hüfteln
aller hartgesottenen Theater-schaden
von der Szene, während seine Spieg
gelellen sich hinter einem gemalten
Mauexborsprung versteckten.
.Du hattest recht —- ez ilt ein
lchauerliches Machwerl«, flüsterte
Rolf feinem Bruder zu. »Und ich
deute...aber, so wahr ich lebe, das
ist Bernhard Lornsenk Tochter!"
Weit beugte er sich in seiner freu
dig-en Ueberraschung über die Sagen
b stung vor. Aber auch durch das
Parterte »und die beiden Gallerten des
hat-les ging es gleich einer Bewegung
bewundernden Staunen-. Und man
durfte dern Regisseur des Urania
Ibeatert das Zeugnig auMellen, daß
ee sich auf fein Pu litum verstand.
Dean gerade in dem Auge-erblich dn
die Deldin des Stückes aus der Ku
; lisse hervortritt, hatte er init so ver
blussender Plöilichlrit den Mond
aus hen lassen, daß sie von einer
Fu e blendendem rveißgriinen Lichtes
s uhersluihet wurde, während sich gleich
zeitig der durchdringende Geruch den-.
galischen Feuers als eine natürliche»
Erklärung - der wunderbaren Natur- s
erschernung im ganzen Hause bemerk-.
lich machte. s
Jn ein phrntastisches Mignvnlos
stiien gekleidet, eine Gnitarre in den
Händen, stand die junge Strassen
siingerin mitten in dem grellen Licht
streisen. Das blonde Haar floß aus
gelöst in dicken, weichen Wellen iiher
ihre Schultern und ihren Stücken« das
zarte Gesicht überaus lieblich, wie in
einen goldigen Rahmen einsassend.
Nun wurde es wieder still. Dasi
räthselhaste Mondlicht nahrn zu
sehends an Heiligkeit ab, und die
Straßensiinaerin begann ihren vom
Verfasser vorgeschriebenen Monolog.
Sie sprach mit einer weichen,
wohlllingenden Stimme. aber leise
und mit sehr wenig dracnatischern
Ausdruck. Es war eine lange, rühr
ielige Leidensgeschichte, die sie dem
Publituni zu erzählen hatte, und es
schien, daß sie aus die naiven Besu
cher des Urania-Theaters wirllich den
beabsichtigten Eindruck hervorbrachte
Herniann Ariner aber war schon nach
ihren ersten Worten mit sich darüber
im reinen, daß sie eine herzlich un:
bedeutende Schauspielerin tei. Und
er spürte jene peinliche Empfindung.
die uns übe.rlpmmt. wenn wir einen
uns nahestehenden oder sympathischen
Menschen in einer unioiirdigen Lage
erblicken miissen. « »
»Nun, eine große Kiinstlerin ist sie
jedenfalls nicht«· rannte jeyt auch
Noli ilnn mit dem Ausdruck des Be
dauern-Z zu. Tuiina aber, die seit
dem Auftreten der Straßensiingerin
die dunklen Augen nicht von ihr ab
gewandt hatte, sagte mitleidig:
»Ich fürchte, Nols, ihr ist nicht
wohl. Sie zittert ja ani ganzen
Löwen«
- - · Ist-—
»Wie viel nienr du ooco sey-u
tannst als wir gewöhnlichen Sterb
lichen«. scherzte ihr Gat e. »Aber Du
maast Dich beruhiaen. ahrscheinlich
spielt sie ihre Rolle zum erstenmal und
Etat ein wenig Lampenfieber. Das ist
aanz ungefährlich und geht schnell
vorüber.«
Doch es ging nicht vorüber, son
dern das Geboten der jungen Schau
ipielerin wurde immer settsamer und
befremdlicher. Sie stockte wiederholt
mitten in einem begonnenen Satze
und leate die band an die Stirn wie
jemand. der sich mit Anstrengung auf
etwas besinnen muß. Ihre Worte
waren hier und da ganz unverständ
lich, und immer deutlicher hörte man
die Stimme des Sofsleutit, der ver
zweifelte Anstrenaungen machte. ish
rern offenbar versagenden Gedächtniß
zu hilfe zu kommen.
Das Publilum indes; schien in sal
ledem noch immer nichts besonders
Ausfälliges zu finden. Es nahm die
häufigen Pausen und die immer mat
ter werdende Sprechweise der Schau
spielerin offenbar fitr etwas, das zu
ihrer Rolle aehiirtr. und spannte seine
Aufmerksamteit nur um so höher an.
Hermann Artner aber saß wie auf
Nadeln, denn es war ja voraus u
sehen, daß schließlich auch dieien
harmlosen Zuschauern das Verständ
nisz der satalen Situation ausgehen
wiirdr. Da wurde er durch ein eigen
thiimliches Geräusch hinter seinem
Rücken bestimmt, den Kopf zu wen
den. Und er sah zu seiner Ueberra
schung, daß das schüchterne junge
Mädchen sich von dem Stuhl im hin
tergrunde der Loge erhoben hatte und
mit voraeneiatem Ohertiirper da
stand, beide Hände in einer Gebärde
namenloser Angst an die Schläfen
gelegt und mit weit aeiissneten Art-f
gen« in denen sich das Entsetzen spie-;
gelte.
Er wollte eine Frage an sie rich
ten, aber in diesem Moment erfaßte
Tuima mit einem leichten Ausruf des
Mkeckens seinen Arm nnd veran
laßte ihn dadurch, seinen Blick wie
der auf die Bühne zu richten. Er
fab, daß die Straßensöngerin am
Boden lag und daß die beiden hinter
dein Mauervorfprung verftecktenStrol
che berzuspranaem um sie aufzuheben
und durch die nächste Seitenkulisse von
der Szene zu tragen. Die Gelassen
beit der Zuschauer bewies, daß sie dies
für die von dem fchleichenden Böse
wicht bestellte Entführung hielten.
. Doktor Artner aber erhob sich hastig
von seinem Stuhl, denn hinter lkjin er
tiana eine verzweifelte Stimme:
»Gott irn Himmel —- sie stirbt —
nieine Schwester — meine geliebte
Schwester ....« Und ini nämlichen
Augenblick schon riß das Mädchen die
Loaentbiir auf, us in wilder hast die
steile Treppe binabzustiirmen.
»Sie s int in der Tbat erkrankt
zu sein«, agte er. »Ich will se n,
its-b ich da vielleicht von Nutzen ein
ann.«
Und er folgte der Boraufgeeilten,
von der er Ja nun mit einem Male
wu te, daß ei Bernhard Lornsenl
swe te Tochter war. Jn dein schma
len Seitengange, aus den die Thüren
des Parterre ausmündeten, holte er
sie ein. .Er sah, daß sie wirklich fast
noch ein Kind war, dem das einfache
dunkle Kleidchen kaum bis an die
seinen Kndchel reichte. Der Lesen
schließer neben der kleinen Bühnen
bforte mußte fieon kennen, denn er
ließ sie ohne weiteres passireih und er
binderte auch den Doktor nicht, hinter
ibr durch die unverschlossene Thiir
den Budnenraum zu betreten. Da
aber ware er schon beim zweiten
» , ! , W- , E
i Schritt um ein Vaar mit einem sehr
»großen und sehr dicken alten Deren
zusammengebrallh der hochrothen
Antlihes nnd heftig gestikulirend ir
gend einem andern Unsichtbaren zu
rte :
»Borhana! —- Zuen Teufel noch
einmal —- schliist denn der Kerl? —
Vordang, sage ich! Wie lange sollen
die Leute noch auf die leere Bühne
alotzen?«
Herrn-Jan zweifelte nicht. in diesem
Machthaber den Regisseur oder den
Direktor der Bühne vor sich zu sehen
Und während ein vernehrnliches Rau
schen anzeiate, dasz dem mit so gro
siem Nachdruek ertheilten Befehl Folge
geleistet wurde, wandte er sich an ihn:
»Ich hin Arzt —- Der Doktor Art
nett Und da ich vom Zufchrsuerraum
aus wahrzunehmen glaubte daß eine
Darstellerin
Der alte herr befand sich ersicht
lich in der iibelsten Laune
»Der Teufel hole diese hysterischen
Frauenzimmer!« fuhr er dem Dot
tor in grimmig in die Rede. »Um-iu
fallen tei osfener Szene! Hat man
so etwas schon erlebt! Aber ich wer
de sie verantwortlich machen fiir al
les, was daraus entsteht. Ja, das
werde ich! Ich lasse mir nicht von
meinen Mitgliedern aus der Nase her
umtanzen Sie mögen in Ohnmacht
fallen so viel sie wollen. Aber nicht.
wenn sre hier Komödie spielen.«
.Entschuldigen Sie —- aber die
Gesetze, die Sie Ihren Mitgliedern
vorschreiben, interessiren mich durch
aus nicht. Ich« komme, um mich als
Arzt zur Verfiiaung eu stellen, falls
man meiner bedarf.«
»Ja iol Sehr freundlich von le
nen, Herr Doktor! Jch dense, es hat
nichts weiter auf sich mit diesem Un
wohlsein. Aber ie schneller Sie sie
wieder aus die Füße dringen, desto
lieber würde es mir natürlich sein.«
Und er stapfte vor sich her durch
dar- Getvirr oerftaubter Kulissen und
abenteuerlich gestalteter Versatzstiicke,
von denen man hier nur die schmutzi
ae, freilich-, mit wunderlichen Zei
chen und Buchstaben bemalte Rück
seite sah.
Noch durch einen schmalen Gang
und über ein paar Stufen; dann
klopfte der Herr Direktor an eine
Thiir.
»Wer ist ein Doktor, Amalie, der
dem Fräulein Anders heistehen will.
Er kann doch ’reinkommen?«
Die Tbür wurde von innen geöff
net, unt eine nicht mehr jugendliche,
aber ebenfalls tostiimirte und ge
schmintte Dame maß den Angeeede
:en mit prüfendeni Blick:
»Bitte sehr, Herr Doktor!«
Sie ließ ihn eintreten, schlug aber
seinem Begleiter höchst respettwidrig
die Thür vor der Nase zu.
(Fortsehuna folgt.)
Der Leser-.
Eine Komödie «von l der Reise Von
Max Bittrich.
»Weißt Du,« sagte Frau Schnei
der, als sie vierzehn Tage im Gasthaus
zum Lamm im Wildthal gesessen hatte,
»der Herr Direttor aus Dinge-da ge
fällt mir nich-t. Er ist ein unangeneh
iner Mensch.«
.,Wieso?'« forschte Herr Schneider.
»Ja, weißt Du, das tann man nicht
so sagen. Mancher hat etwas Beson
deres an sich, etwas Unanaenebmes.
Das ist schwer zu begründen.·
»Aber kürzlich schien er Dir ein
sehr vornehmer Herr zu sein: er be
sitze. sagtest Du, einen vilfeinen Kof
fe: neuester Form· Natürlich hast Du
gleichfalls einen taufen müssen -s- ei
nen Koffer dieser neuesten Fagon!'«
»Du fpottest!«
»Lieber Schatz, ich erwähne nur
Tatsachen. Oder sagtest Du nicht et
was Aehnliches?«
»Gewiß man lann von den Sachen
ein bischen auf die Leute schließen.«
»Natürlich: feine Koffer gleich seine
Les-tei, Soeben behauptest Du jedoch
der Herr habe etwas Unangenehmes
san sich, also troh des unserm eigenen
sgleichenden Koffer-DE
»Ja, das sage ich allerdings sehr,
es wird am besten sei den Verkehr
mit ihm au zugeben. ch wenigstens
grüße ihn nicht mehr· iderfteht mir
solche Betanntlcbaft, so muß sie auch
Dir unerquicklich sein. Alo bitte —'·.
»Gut, gut!«
Drei Wochen später.
Regen um Regen, Kälte um Kälte!
Flucht aus dem Will-that Seit Be
ginn der Woche geht täglich etne kleine
Karatvane den halbstlindigen Weg
hinaus zur Bahnstation.
»hast Du schon gehört," sagt Frau
Schneider, »vom Herrn Direltor?«
»Nein, was denn?«
»Der Mensch fährt genau wie wir
ab, heute abend 7 Uhr!"
s »Dagegen wird stch nichts tun las
en.«
»Er ist« tmperttnent!« l
Schthttrltch ntnnnst Du ihn th
»Gut nicht, Liebstet Häher Bahnen
sind Bssentltch —- -- —«
«Verschone mich mtt Deinen lehr
reichen Abhandlungenl Du sollst se
hen, er will uns nur ärgernt«
»Ich wüßte etn gutes Mittel dage
en.
S
»Da wör« tch neugiertgt«
JWir sahren erst morgen — —«
»Das meinst Du ernstlich?«
»Warum ntchtf«
Du würdest seinetweaen, elnes
stocksremden Menschen wegen, die Ab
reise verschieden?«
»Nein: Deinetwegen, damit Du
teinen Berge hast. ·
Wieso ergtrk
Du sagtest eben, der Herr set im
pertinent Jch wollte Dir den Anblick
ersparen.«
»Er wird sich doch nicht zu uns
sehens«
»Wenn er will, seht er sich uns ge
gengkr. Weißt Du ein Mittel dage
gen «
»Nimm ihn nur wieder in Schadl«
«Thu mir den einzigen Gefallen,
sag· mir: wann willst Du reiseni«
«heute abend 7 Uhr!«
»Aus die Gesahr hin, ihn als Reise
gesährten zu habenim
« ch habe leine Furcht!«
« ehr freundlich! Also werden wir
reisen!«
»Gewiß werden wir das!"
O s I
Abends viertel sieben Uhr.
»Liebe Frau, jetzt nimm aber schnell
Abschied von der Wirtin, wenn es
überhaupt sein muß! Der Wagen zur
Bahn ist ohnehin sort und wir stehen
noch hier. Kannst Du nun und nim
mermehr eine Viertelstunde zu früh
sertig sein. statt zu spät?«
»Ich bin noch immer zurechtgelom
men. Der Zug hat täglich Verspä
tung. Meinst Du ich stelle mich oben
eine halbe Stunde in den kalten
Wind? Uebrigens, der Herr Direk
tor ist auch noch hier. Jch sah ihn
eben beirn Wirth«
»Vielleicht hat er noch abzurechneu.
Wir haben das erledigt.'«
»Ich sliichte vor dem nicht!«
»Man lann jedoch zur rechten Zeit
in Gemütsruhe qehen Frau! — Und
nun noch der Koffer —-— — Den hätte
wahrhaftig der hotelwagen mitneh
rnen diirsen.«
»Nein, nein, den gebe ich nicht aus
der Hand! Wenn Du nicht magst,
trag« ich ihn selber!«
«Tiiusche ich mich nicht so sel- ich
in Deiner hand nichts als die Hand
ichube —- -—'
Soll ich ihn etwa schon hier her
rrmschleppen?'· .
O
halb sieben Uhr.
»Na also ade, Frau Wirthin!«
»Abe! Aus Wiedersehen, Fra
Schneider!«
«Raich, rasch, Frau! Wir haben
gut eine halbe Stunde zu tausen. Jch
allein iiirne auch leicht hinaus, doch
wie Dich das Nennen anstrengt, weißt
Du am besten!«
»Bin ich vielleicht aar schuld —- —-'
»Daoon ein andermal! Und dann
der Rossen wo hast Du ihn?«
«Aengstige Dich nicht schon wieder!
Er steht gleich hier an der Treppe —
ach nein, oben war er sicherer -— nein,
dort an der Tür! Jch nehme ihn!"
»Aber rasch!«
Sie packt den Koffer-, tröat ihn iiber
die hausthiirschwelle und händigt ihn
selbstverständlich sosort dem Manne
ein: «hier, o, ich bin sroh!«
Fauchen und sagen:
Alle silns Minuten wandert der
Rosser — aus der Rechten in die Linie
und zuriick
»Eile doch nicht aar so sehr, Mann!
Mich trisst der Schlag! Noch weit
hinter uns tommen Leute«
»Aber, ob zum Zug, ob die reisen
wollen k- -—«
-,,Wo souren ne hins
,.Du bist manchmal großartig.
Frau!« Nach einigen Minuten hastet
der ominöse Direktor ieichtiiiszig. ohne
Last, vorüber. Jetzt beobachtet es auch
herr Schneider zum ersten Male: des
Direktor-s Blicke scheinen lauter Hohn
zu sein.
»Gut, daß er vorüber ist!« ruft
Frau Schneider-.
»Schrei’ nicht so!'«
»Ich hab' keine Angst!u
Sie jagen weiter, und der Koffer
fiieat in die Rechte und in die Linie.
Sie hören den Zug rasseln. pfeifen
und halten. Da«— da jeyt sind auch
sie droben.«
Nur sir hinein, denn der Bahnvors
siehet will schon das Zeichen zur Ab
sabrt geben.
Da stellt sich dem verspäteien Ehe
paar der gehaßte Direktor gegenüber,
in den Weg, er vertritt ihm sogar den
Zugang zum Wagen.
»Wollen mir die Herrschaften gil
iigst meinen Koffer geben?«
»Jhren Koffer. Wieso?«
herr Schneide rseyt ihn nieder und
schwentt die halb erstarrten Arme.
»Wies o denn —- Jhren -——?«
»Ich will ihn dssnen, damit Sie steh
überzeugen Hieri« Die Kosfekhöls
ten fliegen auseinander.
Des Direktors Eigentum liegt vor
dem Ehepaar Schneider-. Die Pfeife
scheillt; der Direktor sliiehtet mit sei
nem Eigentum in den Zug und fährt
setihlich von dannen. Schneiders Kos
ser aber steht im Gasthaus.
»Dab’ ich Di« nicht vom ersten
Tag an gesagt,« zischelt Frau Schnei
der i ten Gemahl an, »ein unangeneh
mer enschl« I
—-..-.s-.—
Wenn die Preise sür Rindsleiseh
-Schweinesleisch und hammel immer
mehr in die höhe geschrauht werden
sollten, wird man doch schließlich
mit Gänseleberpastete verlieh nehmen
!miissen.
i ·- e
I Je tieser geschöpst eine Weisheit ist,
umso weniger kann sie gleich klar
sein.
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Das ist im Lebenl häßlich eingerich
tet, da bei der Schnee- auch gleich.
vie Ko lenschausel steht.