Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, June 12, 1908, Zweiter Theil, Image 13

Below is the OCR text representation for this newspapers page. It is also available as plain text as well as XML.

    Eise Meinst
Mun- Ion Inn- sitt-e.
Jrgendwa im Garten hliihte der
Faulhaunu Aus tausend und aber
tausend weihen Blüthen stieg-süßer
Duft, ahr die von Feuchtigteit gesät
tigte Luft ließ ihn nicht weiter drin
gen, sie driirtte ihn immer wieder nie
der und hallte ihn zusammen, da er
wie eine Wolle iider dem Baum hän
gen hlieh, f wiil und schwer.
Bis der ind lam. —- Der war
draußen, auf freier höhe, iiber Felder
voll junger Saat geflogen, und wie er
nun behutsam. mit eingezogenen
Schwingen. zwischen den Bäumen des
tiefer gelegenen Gartenz hinftrich,
nahm er den Duft mit und trug ihn
an das einzig erleuchtete k nfter des
schweigenden hauset, das ensier der
Stube, in der Consul heinrich Klie
seinen Todestamps kämpfte
Jm offenen Fensterrahmen stand
Juge, die Lieblingstochter des sterben
den Mannes, ein schmalschultriges
Mädchen mit feinem, klarem Gesicht.
Sie öffnete die Lippen ein wenig, als
der hetiiubende hauch sich an ihr vor
überdriingte, und that einen tiefen,
zitternden Athemzug
Jhre jun e Seele war voll Leid.
Aber die heftigteit des ersten Schmer
es war einer fast wahlthuenden
umpfheit gewichen, Aufregungen
und Nachtwachen hatten ihre Kräfte
erschöpft —- wie in halbem Traume
versah sie die Pflichten und Handrei
chungen der Pflege, in die sie sich mit
der Schwester theilte. Nur wenn der
Kranle zeitweilig aus seiner tiefen
Ilganie ausschreckte, zerriß auch der
Bann, der ihre Sinne wohlthätig ver
schleiertr. Dann strömten ihre
Thränen von neuem, und der
Schauer dar dem Unhegreif
lichem mit jeder Stunde erbot-innigs
,
-e
los Itahettommenven paare ste.
Der Tod Was war dag? Wo
tam er her? Jnges Augen starrten
mit scheuer Angst in das Dunkel, als
stünde da irgendwo zwischen Büschen
und Bäumen lauernd eine seindliche
Gestalt. Aber es regte sich nicht« als
das Sehnen der Maiennacht, in der
tausend Knospen zum Leben erwach
ten, und ein heimliches Grüßen stieg
aus aus jungem Laub und gesegneter
Erde.
Iriedlich und schön lag die Hei
math vor ihr, aus der sie emporge
wachsen war, die an ihr gebildet und
gemodelt und ihrem Wesen den Stem
pel ausgedrückt hatte! Ob auch alles
seht in Dunkelheit gehüllt war —
ste sah seden Weg und Steg des Gar
tens vor sich, als läge er im hellsten
Sonnenlicht; sie sah die hügelig aus
und ab steigende Stadt mit ihren
Thürmen und das weit sich dehnende
Thal, das die Waldberge bläulich
umrahmten.
Wie sie das alles liebte! Es war
ihre Welt gewesen bis heute, ihre
stille, kleine, sreudevolle Welt, in der
sie gespielt und geträumt hatte, in
der ihr die Liebe begegnet war. Eine
göttliche Weichheit tam über Jngr.
Sie dachte daran, wie sie vor laum
einer Woche mit Hans Degenhardt
an dem Pförtchen gestanden hatte, das
sur Rachbarvilla hinübersührte. Zum
erstenmal hatte er ihr bis dorthin das
Geleit egeben, und seine Augen wa
ren ernslgewordem als er nach ihrem
schönen aterhaus deutete und sie
fragte, ob sie die heimath wohl lassen
Könnte um der Liebe willen. Da
mals hatte sie ein strahlendes Lächeln
sür ihn gehabt —- sie wußte ja, er
wollte ihr die Heimath nicht nehmen«
nur schöner, reicher sollte sie werden
durch ihn.
Und nun forderte der Tod das
Opfer. das sie dem Geliebten nicht
hätte zu bringen brauchen. Der hei
mathboden wantte unter ihren
Füßen
»helene«, ries sie leise und griss
rnit der Hand zurück, um die Schwe
ster, die lautlos näher schritt, zu sich
heranzuziehen.
Eng umschlungen standen sie neben
einander, die siebzehnjährige Juge, die
sich vor dem Alleinsein surchtete wie
ein Kind im Dunkeln. und das nur
tun wenige Jahre ältere Weib, dern
sie Einsamkeit tiistlich schien, weil es
tn sreudlose Gemeinschast gebunden
ist«-.
Keine brach das Schweigen. — Sie
sahen in den Garten, der in seiner
heimli keit wie ein Marchen war,
nnd sa n aus den himmel, an dein
das Licht rnit der Finsternis kämpfte.
—- Jn die Wolkenmassen war Bewe
gung gekommen. Sie thürrnten sich
aus und drängten gegeneinander, sie
stiirniten vor und wichen wieder zu
riickZ kleine, slatternde Zehen lösten sich
von ihnen, und endlich war alles in
wilder lucht var deen Mand, der wie
ein Hei aus dein wogenden Kampfe
trat und leuchtend und siegend den
Schild erhob
«Wie ist das schön!« sa te das
Mädchen hingerissen. JWiei das
wunderschön! —- Mir ist, als müßte
das einen besser machen. als könnte
Inan in solcher Nacht nur ute und
reine Gedanken haben.« Un sie sah
sur Schwester aus mit Augen, die
ganz voll Andacht waren. —
Heime tacht- eiu leise-, Me
Lachen »Solche Nächte diirst’s gar
nicht geben, du! Die sind wie Gift.
Illen Willen und alle Kraft schliisern
sie ein, und das Blut singt einein in
den Adern, und die Lust ist wie ein
Bad, in dem Nosenblätter schwim
enen Man wirst sich hinein, und.
arn Morgen wird man gewahr, daß
man tin chrnuh elegen hat, in lau
ter Schmuh und chlamni . . .«
Sie brach ab und sah erschreckt in
Jngei weißgewordenes Gesicht.
»O du Liebe-I sliisterte sie reuig
und strich mit sachten händen wieder
und wieder iiber ihr dunkles Haar.
»Nun hab ich dir etwas Schönes ver
dorben! Aber hör nicht auf mich.
Jngr, ich weiß ja selbst nicht, was ich
rede. All diese Ausregungen. siehst
du, dies Aus und Nieder von Hofs
nung und Sorge, das macht einen
miirbe ...«
Vom Bette des Kranken her kam
ein Stöhnen. Jnge stand schon
neben ihm und beu te sich über das
Antlih, dem der pleglos wachsende
Bart ein ungewohntes, derwisdertes
Aussehen gab.
»Vater, lieber Vater ..." sagte sie
und nach einer Weile« da das Stöhnen
anhielt, noch einmal, inbrünstig:
«Vater!«
»Er hört dich nicht,« ries elene
weich. »Er hat tein Bewu tsein
mehr, weder von sich, noch von uns!
Und es ist ja gut so. Wir wissen
dann doch »daß er nicht leidet!"
Das Mädchenschiittelte zweiselnd,
ungetröstet den Kopf. »Wir wissen
es nicht, Helene! Und wenn’s die
Aetzte zehnmal versichern. Jch kenne
sein Gesicht —- eö quält ihn etwas.
Ganz gewiß, es quält ihn etwas."
Und sie tonnte die Augen nicht los
reißen von dein Gesicht, unter dessen
geschlossenen Lidern es ruhelos zuckte.
—Wie hatte sie auch nur einen Au
genblich langan anderes denkentönnen
als an dies schwere Sterben! Bin
ich denn so liebte-Z? sragte sie sich ver
zweifelt, so oberslächlich und undant
bar, daß ich auch nur einen einzigen
Gedanken an mich selbst verschwende,
während hier schluchzend tniete sie
nieder und drückte den Kopf in die
Decke, die über den Sterbenden ge
dreitet war.
Helene hatte sich nun in den Sessel
gesetzt, in dem sie nun schon die zweite
Nachtwache hielt. Auch ihr Blick hing
an dem Vater, aber es war ein selt
sam unruhiger, wechseln-set Ausdruck
darin. Erschiitterung und lang nie
dergehaltene Kindesliebe rangen mit
dem Groll, der seit Jahren zwischen
ihr und dem Vater stand. Sie benei
dete die Schwein fast um den reinen,
rückhaltlosen Schmerz, um die Thrä
nen, die so heiß über die jungen Wan
gen strömten. Der Abschied, der jeIt
an Jnge herantrat, den glaubte sie
selbst lang hinter sich zu haben. Da
mals, als die Hände, die jetzt so ziel
los tiber die Decke glitten, sie gezwun
gen hatten, einen oerhaßten Weg
su. gehen, da hatte sie
sich innerlich vom Vater geschieden!
Nun war er ihr lange fremd. Wohl
hatte in diesen letzten Jahren wieder
und wieder die Reue an ihr Vers ge
ilopst, und die Erlenntniß der eige
nen Schuld hatte das Haupt erhoben
und sie gemahnt: hast nicht du er
zwingen wollen, was du den anderen
zum Vorwurf machst? Aber der
Glücks-banger in ihr, der sich aus
bäumte gegen die targe Kost der
Pflicht, das Joch« an dem sie sich
wund rieb in täglicher, sreudloser
Arbeit, ließen jenen leisen Stimmen
der Gerechtigkeit nicht Raum. Bis
seht, da sie den Vater, den sie als ei
nen Starken, Energievollen getannt,
als hilslosen Kranten wiedersah! Der
Anblick seiner Schwäche entwassnete,
erschütterte sie. All die sanften Jn
stintte des Weibes wurden mächtig in
ihr, das mütterliche Erbarmen, das
die Frau Noth und Krankheit gegen
über empsindet, zog sie unwiderstehlich
zum Vater hin, machte ihre Hände
weich, ihre Stimme innig und warm
—.Jnge selbst hätte den geliebten
Kranken nicht ausopsernder pflegen
tännen, als sie es that.
Und doch war's helene angesichts
der schon vorn Tod gezeichneten Züge,
als wiese eine strenge hand sie fort,
als hätte sie selbst sich des Rechtes be
geben, neben Jnge zu stehen in dieser
Stunde, in die nur heilige Liebe hin
einschauen dürfte! Jhr Schmerz war
nicht rein, nicht frei von eigensiichtis
gen Gedanken! Jmmer wieder
mischte sich anderes hinein. Sie litt
um sich selbst, um ihre betrogene, ge
tnechtete Jugend . ..
helene fuhr aus ihrem ruhlosen
Grübeln empor, und auch Jnge hob
lauschend den Kopf. — Durch den
Garten hallte ein dumpfes, tlagendeö
Geheul ·
»Der Hund« sagte das Mädchen
erschüttert. »O helene, er fühlt, daß
sein herr sterben muß.« Und von
neuem ausweinend, schlug sie vie
hände vvr’s Gesicht.
»Arme, tleine Jnge.« helene suchte
nach Trvftwvrten und Bstand sich voll
Bitterkeit, daß ej der vrte nicht be
dürfen würde, wenn ihr Herz mit dem
der Schwester den gleichen Schlag
schiiige in dieser schweren Stunde. —
Dann fiel ihr etwas Glückliches, Ab
ienkendes ein.
»haft du heute schon einmal an
«ihn« gedacht, Liebest«
Einen Augenblick schien es, als
wollte in Jnges verweinten Au en
und auf dem zuckenden Mund ein ä
cheln erwachen, ein Lächeln verschönt
ten Glücks. Aber sie wehrte es heftig
ab.
»Ich will jetzt nicht an ihn denken,
nicht an ihn und nicht an mich! Wie
kannst du mich nur daran erinnern,
Velenei Jeyt, wo Vater O
helene, hast du ihn denn nicht liebli«
»Nein ...« sagte das junge Weib
rauh, während ihr Herz aualvoll da
wider schrie. Und das Wort, das doch
leise gesprochen war, klang hart und
laut durch das Zimmer, in dem das
große Schweigen sich schon ausbreiten
wollte. —- Eö war, als würsen die
Wände den Klang unwillig zurück,
als weckte er in den Ecken ein viel
fältiges zürnendes Echo aus, daß es
dröhnend den miiden Mann aus seiner
Ruhe ausstörte. Er sing an zu mur
meln, hastige, sinnlose Worte, die tei
ner verstand.
»Komm«, sagte Helene zitternd, als
er in seine Lethargie zurückgesunten
war; und sie zog die willenlose Jnge
mit sich fort. »Komm an’s Fenster.
Jch will dir sagen, was Vater mir
angethan hat. Vielleicht verstehst du
mich dann ...«
Und während draußen die Nacht
immer verklärter ward und das sil
berne Licht wie ein Frühlingssegen
von Wipsel zu Wipsel glitt, brach aus
einem verstörten und verbitterten Her
zen ein Strom wilder Klage hervor-.
»So eine Mainacht wie diese war’3,
und ich war nicht älter als du, als ich
mich mit Richard verlobte«« sagte
helene tonlog. »Er hatte schon den
ganzen Winter um mich geworben,
mich bei jeder Gelegenheit mit Rosen,
Süßigkeiten und verliebten Schmeiche
leien überschüttet. Das machte mir
Spaß. —- Wenn ich mit ihm geneckt
wurde, lachte ich — wie so ein junges,
dummes, eitles Ding eben lacht,
wenn's seine Macht spürt. Eigentlich
wußt ich von ihm weiter nichts, als
daß er den besten Walzer tanzte schön
gewachsen war und tadelloses Schuh
wert trug! Was man so auf Ballen
und beim Theaterspielen eben vonein
ander merkt und siebt. —- Da gaben
Freeses", sie suchte mit den Augen das
Thürmchen einer Villa, das in gerin
ger Entfernung schlank und weiß hin
»ter den Baumgrupven ausstieg, »ier
rsogenanntes .,Fruynngsfesr." Die
Stimmung war von Anfang an über
müthig. Es war viel junges Volk da
—- die Sechsundsiebziger verkehrten
vollzählig bei Freeses — und es
wurde flott getanzt. Und zwischen
den Tänzkn liefen wir —- erhitzt und
trunken vor lauter Lust —- hinaus in
den Garten. Da blühte alles. Jn
der Fliederlaube, du kennst sie ja,
schlug die obligate Nachtigall, und
über dem Rasen lag das Mondlicht.
Ganz unirdifch fah das aus —- gerade
wie heut, sieh dir s nur an ...«
Jnge hatte den Kopf an die Schul
ter der Schwester gepreßt. Sie wehrte
sich nicht mehr gegen die holden tröst
lichen Gedanken, die ihre wunde Seele
einlullten. Jhr Ohr lauschte der Er
zählung einer fremden Brautzeit, ihr
Herz träumte halb unbewußt den eige
nen Liebestraum; sie spürte noch ein
mal das Zittern vor der Entscheidung
und jene bange, fast schmerzvolle
Glückseligkeit der schrantenlosen hin
gebung, die nur das Weib empfindet
»Da tam es, helene2
»Ja, da kam es« fuhr die leise
fpöttifche Stimme fort. »Der Mond
ist ein arger Kuppler, Kind, der hat
schon manches zusammengeschmiedet,
was sich ewig hätte sernbleiben sollen.
Wer weiß, was geschehen wäre,
wenn’s damals zufällig geregnet hätte
oder lichtlos und frostig gewesen wäret
slüsterte sie in unaussprechlichem
hohn. »Aber der Mond schien, so
hell er nur konnte. Und die Sporen
klirrten so ritterlich an den eleganten
Lackfchuhen, und der ganze Mann,
wie er so neben mir ging in dem
weißen Glanz, tam mir verwandelt
vor und über sich erhöht. Sogar seine
Stimme tlang anders als sonst. Als
käme sie aus weiter Ferne. Als wäre
sie eine Antwort auf meine Sehnsucht,
eine Erfüllung all des Unverstande
nen, Süßen, das ich unter dem weißen
Tülltleidchen mit mir herumtrug . .
Ach Gott, Juge: wenn irgend ein an
derer neben mir gestanden hätte in der
Stunde — ich hätte ihn auch getüfztt
Jch hätte mir jeden vertlärtl Daß
der Mann zufällig Richard hieß und
Oberleutnant mit Vermögen war und
meinen Ku als einen Wechsel aus die
Zukunft na m — daran hab ich wahr
wenig nicht get-achr.
»Helene,« sagte Jnge ganz sassungs
los und riittelte die starre Gestalt, »du
mußt ihn doch wenigstens im Ansang
geliebt haben?«
»Mag sein« Kind. Ich weiß es
nicht mehr.«
»Aber du hast doch um ihn ge
tämpstt Du hast doch sterben wol
len, wenn du ihn nicht betämst —
Großmutiee hat’j mir mal erzählt,
als ich mich wunderte, daß gerade ihr
beide euch gesunden hättet.'·
helene hob der Schwester das Kinn
sacht in die höhe und sah ihr mit
spöttisch funkelndem Blick in’g Auge.
»Daß du als Kind mal etwas ver
sagt betommen, Schaßi Und weißt
du noch, wie ei dann im Preise stieg?
Daß ich mich an diese sogenannte
»Liebe« tlarnmerte. war Troß, nget
Einsacher, tindischer Troß! ater
wollte nichts von der Verlobung wis
sen. Nicht, daß ihm Richard persön
lich unangenehm gewesen wäre — du
weißt ja« wie hoch er ihn stellt um sei
ner Tüchtigteit und Sparsamkeit wil
len —- aber er ahnte wohl, daß Wel
ten zwischen uns lagen, daß meine
Seele noch gar nicht ausbgewacht war.
Und er wollte mich nicht lind in mein
eigenes Elend rennen lassen ...«
Jnge griss jäh nach ihrer Hand.
Wieder drang dasWinseln des Hundes
durch die Nacht, unheimlicher als vor
her. Die Schwestern hörten, wie er
die hütte umtreiste, wie er verzweifelt
an der Kette riß und zerrte unt-»sich
dann röchelnd wieder niederductte und
still ward.
»Ich half- damals durchgeseht2«
fuhr Helene fort. »Als erste von all
meinen Freundinnen verlobt zu sein,
und zwar mit einem »Oberleutnant«,
der nicht allzu weit vom »Haupt
mann« stand — das war schon etliche
Thränen und Scenen werth! Uebri
gens: solange ich um ihn kämpfte, so
lange glaubte ich auch, ihn zu lieben!
Und die romantischen heimlichleitem
die verstohlenen Zeichen und angstvoll
flüchtigen Stelldicheins —- all das
hatte seinen Reiz für mich! Erst als
ich ihn mir glücklich erobert hatte, als
das »goldene Ringlein« fest am Fin
ger saß, da kam das Erwachen .. .«
Ein Schauer lies iiber sie hin, als
störe sie, und ihre Stimme wurde fast
unhörbar vor Scham. Dennoch sprach
sie weiter, als wäre es eine Wohlthat,
die stumm getragene Last einmal her
nnterzureden vom Herzen.
»O diese Tage damals — diese ent
setlichem angstvollen Tage! Geslohen
bin ich vor seiner Stimme und habe
die Thiir hinter mir zugeriegelt, wenn
ich ihn kommen sah! Daß er mich
titssen durfte, war mir wie ein
Schimpf »- ich begriff es nicht, daß
der fremde Mann ein Recht aus mich
haben sollte Und die Hochzeit
rückte immer näher . . ."
»O Helene, warum hattest du kein
Vertrauen?'« rief Jnge ganz außer
sich, die Schwester mit beiden Armen
umschlingend. »Warum bist du nicht
zum Vater gegangen und hast ihm
deine Noth gezeigt! Er hätte dir doch
geholfen!«
»So? Meinst du«-« fragte die an
dere hohnvoll und stieß die zärtlichen
Arme zurück. »Auf den Knien habe
ich vor ihm gelegen an dem Tag, an
dem ich getraut werden sollte! Nichts
habe ich verschwiegen und nichts be
mäntelt — nur immer gebettelt und
gefleht: Vater hilf mir! Laß mich
nicht so elend werden, ich bin ja noch
so jung .. .«
»Und er, Helene?« Jnges Stimme
llang leise vor Erregung Jhr war,
als grübe sich in des Vaters geliebtes
Bild ein fremder, entstellender Zug.
»Er?« persiflirte Helene, und die
feine Falte zwischen den Bronnen, die
ihr junges Gesicht oft so finster er
scheinen ließ, vertiefte sich. »Er hat
gesagt, sein Name wäre ihm zu gut,
um durch den Mund der Leute ge
schleift zu werden! Was ich mir ein
gebrockt, müßte ich ausessen —- einer
lei, ob’s gut schmeckte oder nicht. —
Da bin ich ausgestanden und an ihm
vorübergegangen wie eine Fremde.
Jch habe mich zum Standesamt sah
ren lassen und habe zum erstenmal den
Namen des Vaters als etwas Abge
thanes unter meinen Frauennamen
gesetzt — und wußte nicht, welcher
mehr Schmerz und Schmach fiir mich
bedeutet hat: der neue oder der alte!
Und ein paar Stunden später habe ich
in Brautlleid und Schleier vor dem
Altar gestanden und die große Lüge
mit angehört, daß »Gott« uns zusam
mengefügt hätte ...«
Helene schwieg. Die Erregung, in
die die Gewalt der anllagenden Erin
nerun en sie hineingerifsen hatte, wich
einer iesen Trostlosigteit. Wie er
loschen waren die Augen, die eben noch
in Zorn und Empörung geleuchtet
ychlL
Ein heißes Mitleid mit der Schwe
ster ergriff Jnge und eine Ahnung der
geheimnißdollen Mächte, die freundlich
oder feindlich in jedem thätig sind,
ihn verstricken in Schuld und Sünde
und unzerreißbare Knoten schürzen
aus feinstem Gespinst.
»Helene«, sagte sie beschwörend mit
ihrer warmen jungen Stimme, »ich
weiß nicht, was Vaters Leben einft
zerstört hat —-- wir waren ja Kinder,
als Mutter von uns ging —- aber ich
weiß; daß er unsiiglich gelitten haben
muß, um so hart gegen das eigene
Kind zu werden«
.Gibt eigener Schmerz ung ein
Recht, Unschuldige leiden zu lassen?«
fragte die Aeltere heftig dagegen.
»Und ich war unschuldig, denn ich
wußte nicht« was ich that! —- Gott
im himmel, was weiß man denn mit
sieh ehn Jahren vom Leben! Vater
mu te fe bleiben, als ich mein Un
glück von ihm verlangte! Er mußte
mich gegen mich felber schützen!«
»Wir beide dürfen nicht Richter sein,
Helene ..."
Der Kranke ward wieder unruhi
ger. Er warf das Haupt in den Kis
sen hin und her, und die Lippen, die
briichig waren von der Fiebergluth
öffneten sich lechzend. Behutsam ver
suchte helene, ihm ein paar Tropfen
Wasser einzuflöfzem aber sie rannen
an den Mundwinleln nieder —- er
schluckte sie nicht. Da tauchte sie ein
Tuch"in’s Wasser und netzte leise den
armen Mund.
Es schien ihm wohlzuthun. —
Gleich einem Auf-ruhen ging es über
die durchfurchten Züge und nahm
ihnen den Ausdruck qualvoller Span
nung. So lag er ganz still, indeß die
Schwestern lanm zu athmen wagten.
Und plotzlich thaten diese Augen, die
seit Tagen an nichts erischem mehr
gehaftet hatten, sich groß auf und
richteten ihren ruhevollen Blick auf
Heleneng überwachtes Gesicht.
Jst das rüctfluthendes Leben —- ist
es das, Aufflackern vor dem E -
löschen? dachte sie zitternd, währe d
sie unter dem Bann dieses Anschauens
in die Knie sank, halb ohnniächti vor
seelischer und körperlicher Erschöpiiung
Und ihr war. als dränge der leuch
tende Blick durch all die tilnsilich fest
gehaltenen Schleier der Selbsitiiui
schung und des Trotzes bis in ihr
Innerstes, um die Kindesliebe zu be
freien, die jahrelang dort gefesselt
war.
Stockend erst und dann in hastigen
Flüsterlauten, als bräche ein lan aus
Igesammslter Quell jäh hervor, sprach
sie dicht am Ohr des Kranken, dessen
Augen sich wieder geschlossen hatten,
so wie sie nie mehr zu ihm gesprochen
seit ihrem Hochzeitstag »
Dann hob Jnge die Zusammenge
sunlene aus, und sie setzten sich, eng
aneinandergeschmiegt, zum Fußende
des Lagers, ein jedes in seine Gedan
len dersintend.
»Gertrud« . . .
Wie ein Hauch, und doch llar und
deutlich, strich das Wort über die Lip
pen des Sterbenden.
Die Schwestern sahen einander an,
staunend, ob sie auch recht gehört, ob
diese seltsame Nacht ihren überreizten
Nerven nichts oorgaulle.
Denn der Name der Mutter war
todt gewesen aus des Vaters Gebot,
seit langen Jahren durste ihn Nie
mand nennen. Und nun gewann er
auf einmal wieder Leben und Gestalt!
Er stand zu Häupten des Bettes und
sah aus dunllen Frauenaugen still aus
das abgezehrte Gesicht, er schritt durch
die Stuben und zögerte an der Stelle,
wo einst die Kinderbettchen der
Schwestern gestanden hatten, er glitt
treppauf, treppab in dem Hause, in
dem er einst geherrscht. —
Hörte der Konsul in Wahrheit die"
lang verschollenen Schritte? Ein
Lauschen schien über ihn gekommen, er
lag und rührte sich nicht, nur der
Athem ging mühsam und schwer durch
die geöffneten Lippen.
Sie fühlten es beide, die Hand in
Hand seinen Schlummer bewachten:
die Vergangenheit war bei ihm in sei
ner letzten Stunde. Nicht die Ver
gangenheit, deren Erinnerung ihn vor
der Zeit alt gemacht, mit der er ge
ziirnt und gehadert hatte, sondern die,
in der er jung und glücklich gewesen
war! Ein heller Schein ging über
fein Gesicht — ergriffen ahnten die
Frauen, für die der Name der Mutter
nur etwas Blutloses, Schattenhaftes
heraufbeschwor, welche Macht er für
den Vater bedeutet hatte, und daß er,
den sie so ganz zu kennen gemeint, an
ihrer Seite ein heimliches Leben für
sich gelebt! Ein Leben voll Liebe und
Schmerz und Verzweiflung, an dem
sie keinen Theil gehabt.
»Einmal habe ich ihn weinen
sehen«, sagte Jnge leise, aus solchen
Gedanken heraus. »Einrnal, an ei
nem wunderschönen Frühlingstag«
Helene antwortete nicht. Wie der
Blitz mit jäher Klarheit eine dunkle
Landschast erhellt, so sah sie in der
Erkenntniß dieser Stunde des Vaters
Fühlen und Denken vor sich. Sie
wußte jetzt, wie furchtbar der stolze
Mann darunter gelitten haben mußte,
den großen Schmerz seines Lebens
nicht heimlich tragen zu dürfen, son
tern ihn von der Neugier und Sen
sationsluft der anderen betastet zu
sehen! Sie begriff, daß er es nicht
ertragen hatte, den kaum zur Ruhe
Gekommenen durch ihre kindische
Thorheit noch einmal hervorzerren zu
lassen, daf; er hart habe bleiben müs
sen aug Selbstachtung! Und sie
wußte, daß sie nun, da der Tod ihr
die Thiir zu der oft so heiß ersehnten
Freiheit öffnete, nicht mehr den Muth
haben würde, die Schwelle zu über
schreiten. Nein, nein — sie zeigte nicht
auf die Wunde, die der Arme dort
schweigend mit beiden Händen zuge
deckt! Ruhe sollte er haben. Tiefe
Ruhe!
Und Helene beugte sich und küßte
die Hand, die keinen Ring mehr trug,
und tiißte das Herz, das doch die
Treue gehalten. —- Löschte so leise
aus, was uns mit seinen Stürmen
ängstigte und schreckte? War dies der
Schluß alles Sehnens und Bangens?
Die Schauer der großen Einsamkeit
tiihrten sie an. Sie sah die Leere
gähnen, die jeden umlauert. Und
das Meer oon Leid, in dem die Thrä
nen des einzelnen nur Tropfen sind. ..
Jhre eigene Noth ward klein, an der
der anderen gemessen —
Jn den Bäumen draußen hob ein
Rauschen an — der Tag wollte kom
men. Graue Dämmerung war dem
Mondglanz gefolgt, zitternd und frö
stelnd standen die Büsche beisammen«
und über den Rasenplätzen wogte ein
weißlicher Dunst.
Jnge trug das Licht zum enster
und löschte es dort, damit sein s-chwe
len den Kranken nicht störe. Da
schlug ihr die Morgenluft herb entge
gen, und der Thau hing ihr Perlen
in’s haar. —- Die Farben des Gar
tens wachten mählich aus, die Tulpen
züngelten wie Flammen von den Bee
ten, und der Kies der Einsahrt sing
zu glihern an.
Das Mädchen bog sich plötzlich weit
über die Brüstung: iin Nebel stand
etwas Drohendes, Ragendes, das ihr
das Blut in den Adern gesrieren
ließ...· Nur einen Herzschlag lang
hatte der Spuk gedauert —- sie suhr
mit der Hand über die Augen« da
wallte der Nebel wie vordem hin Und
her.
Aber vom Hause her raste in gro
ßen, sedernden Sprüngen der Hund;
die zerrissene Kette schleifte hinter ihm
drein und tlirrte gegen die Steinstu
sen der Treppe.
Muts-« tief Jw zärtlich. »Pub.
,..——,-—
mein altes, trenes Thier! Haft du
dich frei gemachti Wolltest du u
uns tommen, mein Alter·i« Und iie
nickte ihm zu, wie er sich niederlegte
nnd aus großen, schwimmenden Augen
zu dem Fenster ausschaute, hinter dem
er seinen herrn wußte.
Langsam ging die Zeit. —
Sie strich mit dem Finger iiber die
Wollenränder, da wurden sie golden
—- sie strich üher das Antlitz des mü
den Mannes, da wurde es seltsam
feierlich. Sie weckte draußen tausend
zwitschernde Stimmen und löschte
drinnen die eine Stimme aus. — —
Von der großen Stille erwachten
die Schwestern, die ein kurzer Traum
der Wirklichkeit entrückt hatte. Angst
ooll traten sie wieder an das Lager,
von dem kein Röcheln mehr kam. —
,,Vater!« schrie Jnge auf. Und sie
neigte ihr blühendes Gesicht tief über
das weiße, feierliche . . .
Da spürte sie die Kälte, die tren
nend von ihm ausging, und sah das
Lächeln auf seinem Mund.
Der hier lag, gehörte ihnen nicht
mehr. Es war ein anderer als der,
den sie gekannt! Der Tod hatte aus
ihm hervorgeholt, was das Leben so
ängstlich gehütet hatte: all seine
Sehnsucht und seine Hoffnung, all
seine Kämpfe nnd seine Siege. Sie
woben eine Glorie um seine Stirn,
vor der das Weinen seiner Kinder ver
stummte. —
Ein Urtheil über vie früheren pe
tvohner Verans.
Daß die Berliner viel besser sind,
als ihr Ruf, wird wohl allgemein
zugegeben-. Das Schicksal, ungerecht
und zu schwarz beurtheilt worden zu
sein, scheinen sie übrigens von jeher
gehabt zu haben. So schrieb z. B.
am 20. Oktober 1505 der gelehrte
Herr Johannes Tritheim, Abt des
Klosters St. Martin zu Sponheim,
welcher zu Ende des fünfzehnten und
zu Anfang des sechzehnten Jahrhun
derte lebte und wirkte —- er starb
1516 — und ein vertraiiter Freund
des Kurfürsten Joachim von Bran
denburg war, folgendes Urtheil über
die damaligen Bewohner Berlin
Cöllns nieder: »Die Einwohner von
Berlin sind gut, aber zu rauh und
ungelehrt, sie lieben mehr die Schmau
sereien und den Trunk, als die Wis
senschaften. Selten findet man einen
Mann, der die Bücher liebt, sondern
aus Mangel der Erziehung und der
Lebensart ziehen sie die Gesellschaf
ten, den Müßiggang und die Polale
vor. Indessen gefällt mir ihre Fröm
migkeit und Religion, in der sie an
dächtig Und eifrig sind. Sie gehen
fleißig in die Kirche, feiern die Feste
der Heiligen mit Ehrfurcht, halten die
Fasten strenge und sind in der Reli
gion um sc viel eifriger, da bekannt
ist, daß sie unter allen Völkern die
letzten gewesen, die den christlichen
Glauben angenommen haben. Die
Ausfchweifung im Trinken wird von
ihnen nicht für ein Laster gehalten,
doch gibt es auch viele, die sich dessen
enthalten, und nur die Einwanderer
aus Franken und Schwaben, wie ich
oft bemerkt habe, sind mehr dein
Trunle ergeben, als die Lande-sein
nohner.« »
-f-——-- ,
Das Kiebitz-einfachen tu Nord
deutschlemtk
XI
Wenn der Frühling ins Land zieht,
dann finden sich in Norddeutschland-.
aus sumpsig-seuchten Wiesen und tief-"
gelegenen Aectern die ersten kostbaren
,,theuren« Gaben des Lenzes-: die Kies
bitzeier, die der Großstädter nur in
den mit Sägespähnen gefüllten Kist
chen der geschmackvoll dekorirten«
Schausenster besserer Delitateszhand
lungen kennen lernt. Das Kiebitzeiers
suchen selbst hat seine eigenartigen
Reize. Die ersten dieser Frühlings
boten, die sogenannten ,,Märztiebitze«,
tressen bereits in der ersten Hälfte des
Lenzmonats ein. Nach kurzer Paa
rungszeit beginnen sie den Bau ihres
einfachen Restes-: ein slaches Erdloch,
ausgelegt mit Stroh- oder Grashal
men. Ende März liegen schon vier
birnensörmige Eier darin, die aus
schmutzig - olivengriinem Grunde
schwarze Punkte und Striche zeigen.
,,Märztiebitze« waren es auch, die all
jährlich den »Getreuen von Jever«
101 Kiebitzeier als Geburtstagsges
schent siir den Altreichstanzler liefer
ten. Mit Frühlingsansang erscheint
der Hauptschwarm der Kiebitze, deren
Gelege in den ersten Apriltagen die
üblichen vier Eier ausweist. Das Kie
bitzeieriuchen ist äußerst schwierig, da
das Männchen aus einem erhöhten
Platze beständig Wache hält, wenn
»sie« aus den Eiern sitzt. Naht der
Brutstätte Gefahr, dann erhebt sich
das beschopste Familienoberhaupt,
warnend »tiwitt, tiwitt!« schreiend, in
die Lust, und kaum wahrnehmbar
sliegt das unbeobachtete Weibsten et
wa 100 Meter von den Eiern fort.
Mitunter stellt sich der alte Kiebitz
lahm und läust am Boden eine kurze
Strecke hin, um den Sammler zu
täuschen und von der Brutstätte ab
zulenlen. Die Kiebitznester sinden sich
meist an den höher-gelegenen trockenen
Stellen der seuchten Wiesen und aus -
ten »tiefen« Weizen-, Klee- und
Brachseldern-.