Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, September 14, 1906, Sweiter Theil., Image 10

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    Die zmu des chdantcn.
KriminaliRoman von A. O. Klaußmamu
W s- ---w
(1. FortsehungJ
, Wie er es vorausgesehen hatte,
mer-de der Renoani lauen zehn Minu
ten später durch einen Psiff aus dem
Sprachrohr-, das den Tresorraurn mit
seiner Privatwohnung verband, abge
tufen. Er verließ das Kassenzimmer,
nachdem er dein Bucht-alter die fiir die
Eiulösuna der siiiligen Wechsel erfor
derliche Summe eingehändigst und den
Geldichrant wieder verschlossen hatte.
»Die Untersuchung lann ja nicht
lanae dauern," meinte er im Gehen,
»und wenn sich etwas bescnderes er
eianen sollte, werden Sie mich natür
lich rufen.«
»Als er über den Hausstur schritt,
nickte er dem rcslseltvoll grüßenden
Pförtner des Hause-» einem grauhacp
riaen, im Dienste der Gesellschaft zum
Invaliden arme-denen ehemaligen
Betarnannr. freunoiich zu, schloß dann
die Tbiir seiner Wohnung ans nnd trat
eine Minute stxiiier in dass euch der
Straße gelegene, hübsch ein-gerichtete
Emdsktnaszimynen wo ihn, wie er
wußte, seine Frau mit dem Haugarzt
erwarten würde.
Aber erfand nicht nur diese beiden
Personen in den-. Erwarte sondern
außer ihnen nett-, eine dritte. ein
seblank gwashi-sites ausfallend hüb
sches junges Mädchen von vielleicht
zwanzig Jahren, das zum Aussehen
anaetleidet war und sich anscheinend
nur durch die Antun des bejahttem
lan und freundlich blickendeu Arztes
noch hatte zurückhalten lasse;i.
..Guten Morgen, Herr Doktor!«
saate Winter mit jener erhcuchelten
Frische. die manche Patientin ihrem
Arzt gegenüber heraustrhren zu müs
sen glaubt. »Die iikertriebene Aengst
lichkeit meiner lieben Frau bat Sie da
meiner Ansicht nach etwas nnnöthig
bemüht Aber Sie wissen ja, gegen
den Willen unserer schönen Hälfte gibt
ez kein Widerstreben
Es lonnte wirklich nicht als Ueber
treibuna oder als leereRedensart be
zeichnet werden, wenn er mit einem
gewissen Stolz von seiner »schönen
Hälfte« sprach. Denn Frau Hermine
Winter. die die Dreißig noch nichten
reicht haben konnte, hatte :ooh!gegriin
teten Anspruch darauf, für eine-»Schön
lzeit zu gelten.
Sie war mehr als mittelgroß und
von wohlgebildeter, wenn auch schon
etwas üppiger Gestalt. Ihr reiches,
geschmackvoll geordnetes Haar war
von jenem glänzenden Kaftanien
braun, das seit undentlichen Zeiten den
Männern besonders gefallen hat. Und
ihre lebhaften Augen, ihre feine Nase·
ihre miidchenhaft frischen Lippen gaben
im Verein mit einem sehr zarten Teint
dem vollen Gesicht eine Anmutb, um
die manche Jüngere sie recht wohl hätte
beneiden können.
»Niemand wird sich berzlicher freuen
als ich, wenn meine Aengftlichleit lich
als übertrieben erweisi,« sagte sie lie
benswürdig. »Aber ich konnte die Lei
den, die Deine Schlaflosigkeii und die
häufigen Beklemmungen Tit verur
sachen, wirklich nicht länger ansehen.«
»Danten Sie dem Himmel, lieber
Freund-, baß er Ihnen eine so für
sorgliche und liebevolle Gattin be
Lchieben hat«, meinte der Arzt, der
as gelblich blasse Gesicht des Ren
danten seht aufmerksam betrachtet
hatte. »Auch ich bin der Ansicht, daß
man im Punkte der Gesundheit nie
mals zn vorsichtig sein kann. Wo
aber soll vie hochnothpeinliche Unter
fuchung denn nun vor sich gehen?«
LAm besten vielleicht im Zimmer
meiner Schwester, Herr Doktor! Jch
sehe ja, daß sie im Begriff ist, das
Feld zu räumen. Und wie blieben
da sicher ganz ungestört.«
»Dann muß ich anen wohl schon
jetzt Adieu sagen, liebes Fräulein«,
wandte Doktor Weiß sich an das junge
Mädchen. »Denn daß Sie auf mich
warten werden« nur um nachher das
zweifelhaite Vergnügen meiner Beglei
tung zu genießen, habe ich ja schwerlich
zu erhoffen.«
»Ich tkzäte es sehr gern, wenn es
möglich wäre,« lautete die mit freund
lichem Lächeln gegebene Erwiederung
»Aber ich habe mich schon etwas län
ger aufgehalten, als ich"5 eigentlich
hätte thun dürfen. Und so eine Un
tersuchung währt in der Regel recht
lange.«
»Gott befohlen also, Fräulein Pro
fessdri Aerztliche Vorschriften brauche
ich Ihnen glücklicherweise nicht mit aus
den Weg zu geben. Denn wenn man
so rosig und blühend aussieht wie Sie,
darf man den Doktor und den Apothe
ler als die überflüssigsten Geschöpfe
unter der Sonne betrachten.«
Frau rmine schien nicht sehe an
ehm rlihet von der Galanterie
N Arztes gegen ihre Schwiigerin.
Denn iiher ihr hübsches Gesicht ging
es flüchtig wie eine leichte Wolle des
Uetdrusses, Und sie sagte mit einem
stick aufs den Regulator Es ist acht
U rv ordei Max-that Sieh zu, daß Du
nicht der Hättest. «
Die jun eheerin mochte den et
Ins schu Tondieser Mahnung
III-l iidethrt haben; denn sie ver
Mdete sich edan freundlich wie
Idee-den beiden Vetters auch von der
Frau ihres Bruders und verließ mit
den leichten, elastischen Schritten der
Jugend und der Gesundheit das Zim
mer.
Der alte Portier Nitschke riß, als
sie draußen an ihm vorüberging, seine
Mütze noch viel diensteifrtger vom
Kopfe als er es vorhin vor dem Ren
danten gethan hatte, und sein liebens
würdig erwiderter Gruß hatte einen
ganz besonderen, fast väterlich zärt
lichen Klang.
Jn dem schmalen Gange vor den
Kassenzimmer-n aber, den Blicken der
Fortgehean durch einen der zwischen
den Fenstern aufgestellten großen
Eisenschränle verborgen, stand der
Buchhalter Bartel in der Haltung
und mit dem Gesichtsausdruct eines
Menschen, der voll lebhafter Span
nung etwas Bedeutsames erwartet.
Er war in demselben Moment aus
dem Tresorraum hinausgeschlüpft. als
sich knarrend die Thür der Winterschen
Wohnung geöffnet hatte. Und nun
spähten seine dunklen Augen durch das
vergitterte Fenster aufmerksam auf die
Straße hinaus-, wo das junge Mäd
chen sogleich erscheinen mußte. Daß
sein Interesse leinem anderen Gegen
stande galt, als ihrer Person, verrieth
sich sowohl in dem unzweideutigen
Aufleuchten seines beweglichen Gesichts
bei ihrem heraustreten, als in der Be
harrlichleit, mit der sein Blick die an
ntuthgen Bewegungen ihrer schlanten
Abstle hasknlntss lasse-»so Ti- fisb in fri
nem Sehbereich befand. Als sie ihm
entschwunden war, athmete er tief auf,
blickte wieder verstohlen in den tletnen
runden Taschenspiegel, den er immer
mit einem Griff zur Hand hatte und
lehrte mit behendem, geräufchlrfen
Schritt in das Treforzimmer zurück-—
Jn Fräulein Marthas netteni
Stäbchen. wo tron der frühen Stunde
bereits die volllonnnenfte Ordnung
herrschte, hatte unterdessen Doltor
Weiß seine Untersuchung und fein
überaus gründliches ärztliches Verhin
begonnen. Als alter Praltiter ftellte
er feine Fragen fo, daß fre den Ren
danten nicht stutzig machen oder be
unruhigen konnten. Und er ließ hie
und da in feiner jovialen Weise ein
Scherzwort einflieszen, um die fiir
feinen Patienten immer etwas be
drucken-de Situation möglichst unver
fänglich zu gestalten. Aber der ernste
Ausdruck feines Gesichtes wollte nicht
recht zu feinem Benehmen «ftimmen.
Und es war ihm anscheinend ganz
willkommen, als gerade in dem Au
genblick, da Gerhard Winter feiner
feits lächelnd fragte: .,,Nun, Herr
Doktor, wie fteht’"s —- werde ich bald
in die Grube fahren?« — an die
Thür des Zimmers getlopft, und
Frau Herminens Stimmer vernehm
lich wurde.
»Den Bartel läßt fragen, ob Du
nicht herüberlommen könntest, Deine
Anwefenheit sei dringend nothwendig,
denn der Kassenbote des Banlverein
wolle nicht länger warten.«
Jn diesem Augenblick hatte feine
Gesundheit durchaus kein Intereer
mehr für den pflichteifrigen Beamten.
»Alle Wetter, diese Sache hätte ich
ganz vergessen —- da heißkä aller
dings eilen«, rief er, in großer Hast
feinen Anzug ordnentu »Wenn Sie
mir irgend welche Verhaltungsregeln
vorzuschreiben haben. lieber Herr
Doktor, so besprechen Sie das wohl
am besten mit meiner Frau; denn ich
habe in diefem Augenblick ganz und
gar keine Zeit.
Er rannte hinaus, noch ehe er Weste
und Rock vollständig zugetnöbft hatte;
Und Dr. Weiß begab sich. nachdem er
die bei der Untersuchung gesuchten
Instrumente bedächtig wie zu sich
« gesteckt hatte. in das anstoßende Spei
sezimmer, wo Frau Hermine Winter
bereits aus ihn wartete.
Sie suchte in seinem Gesicht zu le
sen; aber der Doktor hatte seine Züge
wieder vollkommen in der Gewalt.
»Ihr Gatte bedarf allerdings sehr
dringend der Erholung, liebe Frau
Winter« sagte er ruhig »und ich
würde deshalb empfehlen, daß er sei
nen Urlaub nicht erst im Herbst, son
dern sobald als möglich —- am besten
noch in diesem Monat — antritt.
Auch darf er ihn nicht wieder in einer
sogenannten Sommerwohnung un
mittelbar bei Breslau verbringen, um
alle drei oder vier Tage unter irgend
einem Vorwande zu seinen geliebten
Kassenbiichern zurückzukehren, sondern
er musz ins Gebir e, an einem schön
gelegenen, ruhigen rt, wo et an nichts
anderes zu denken und sür nichts an
deres zu leben hat. als für seine Ge
sundheit.«'
Die junge Frau hatte ihm aus
merksam zugehöri. Immer deutlicher
spiegelte sich eine lebhaste Crregung in
ihren Zügen. »Es steht also vielleicht
noch schlimmer um ihn, als ich’Z ge
fürchtet habe? Es handelt sieh um
Ernsteres als um bloße Retvosität?
Sie Misset- mir alles sa n, Herr Dot
tor —- die ganze Wahr it. Ich habe
ein Recht daraus, sie zu ersahren.«
Der Arzt blickte ein paar Selunden
lau unschliissig u Boden. Dann
erw der-te er zögern :« »Es wäre wohl
l
.—
allerdings nicht ganz richtig« wenn ich
Jhnen sagte, daß das Leiden Jhret
Mannnes ohne alle Bedeutung sei.
Aber Sie brauchen sich darum nicht
gleich zu beunruhigen. Bei strenger
Beobachtung einer zweckmäßigen Le
bensweise ist eine Heilung oder doch
ein jahrelanger Stillstand der Krani
heit keineswegs ausgeschlossen.«
Hermine war ausgestanden und
hatte sich aus den Rand des Tisches
gestüht Jhre Brust hob und senkte
sich in raschen Atheinziigenx »Das
tiingt viel« zu vorsichtig, als daß ich
nicht etwas anz anderes dahinter
vermuthen mii te. Noch einmal bitte
ich Sie inständig: verschweigen Sie
mir nichts. Jch gehöre nicht zu den
Frauen, die gleich in Ohnmacht fak
ten. Und nur Ungewißheit könnte ich
nicht ertragen.«
»Nun denn —- Jhr Gatte ist herz
leidend. Und zwar nicht erst seit
heute und gestern, sondern allem An
schein nach bereits seit geraumer Zeit.
Ich mußte eine chronifche Entzündung
der inneren Herzhaut feststellen, die
Himmerhin zu den tückischeren Krank
sheiten zu zählen ist. Aber ich wie
s derhole: es droht ihm durch den
tKrantheitsprozeß selbst teine unmit
xtelbare Gefahr. Jch kenne Patien
k ten, die mit diesem Leiden sehr alt ge
i worden sind, und auch Fälle von roll
Jständiger Heilung gehören keineswegs
zgu den medizinischen Wundern.«
T »Ja —- ja'«. unterbrach sie ihn un
;geduldig, »das find die günstigen
fMöglichteitem mit denen die herren
;Aerzte immer zu trösten versuchen.
HAber es giebt doch auch ungünstige,
Iund ich möchte auch auf diese vorbe
sreitet sein« Herr Dotior!«
! »Die ungünstige Möglichkeit, meine
Poetehrte Frau Winter, läge in der
»Gefahr einer plöylichen Katastrophe,
die allerdings eintreten könnte, wenn
dem kranken Organ eine Leistung zu
gemuthet wird, die es nicht mehr zu
bewältigen vermag. Jch verstehe da
runter übergroße törpetliche oder ei
stige Arbeit, sowie vor allem seeli che
Erregungen, die auf das Aengstlichste
vermieden werden müssen. Und aus
diesem Grunde möchte ich Sie auch
dringend bitten, Jhren Gatten nichts
von der Natur seines Leidens ahnen
zu lassen. Er muß in dem Glauben
bleiben, daß es sich nur um eine Auf
lehnung seiner überreizten Nerven
handelt, und er dars sich teiner aus
reibenden Sorge um sein Leben hin
geben. Jn dieser hinsicht dars ich
mich wohl aus Jhre weibliche Klug
heit und auf die Selbstbeherrschung
der liebenden Gattin verlassen.«
»Ich denke, here Doktor, daß Sie
es dürfen. Was haben Sie ihm denn
gesagt?«
»Noch gar nichts, da er abgerusen
wurde, ehe ich ihm auf seine Frage
nach dem Ergebniß der Untersuchung
antworten konnte. Aber er ist ganz
ahnungslos, und deshalb wird es ge
nügen, wenn Sie ihm mittheilen, daß
ich den Antritt der Erholungsreise
in spätestens vierzehn Tagen für drin
gend geboten halte. Wie er sich dann
im Gebirge zu verhalten hat, werde
ich ihm schon noch rechtzeitig einprä
gen. Ein Meditament, dessen Be
siandtheile er möglicherweise aus dein
Rezept erkennen und das ihn deshalb
leicht mißtrauisch machen tönnte, will
ich vorläufig nicht verordnen. Vor
besonderen Exzessen aber brauche ich
einen Mann von der musterhasten
Solidität Jhres Gatten nicht erst zu
warnen."
Die junge Frau fuhr sich mit dem
Taschentuch über die Augen; aber es
sah nicht gerade aus, als ob He eine
Thräne hätte wegwischen müssen.
Denn ihre Gesichtszüge dritetten mehr
eine gewisse Spannung, als tiefe Be
trübniß aus« und die braunen Au
gen, die sie jeht wieder in eindringli
cher Frage auf den Doktor richtete,
schienen vollkommen klar.
»Und wie — wie lange wird er mir
Jhrer Meinung nach noch erhalten
bleiben, wenn Sie mir ganz ehrlich
und nach bestem Gewissen Austunft
darüber geben wollen?«
.Jch habe es auf Grund meiner
. -Z-I:2L-Z-— Esc-c-0-«-- fis-»O -i
- Uessluyoovsu Voll-JOHNku
.....g,. «
geschworen, liebe Frau Winter, solche
Fragen zu beantworten. Denn all
unser ärztliches Wissen ist Stückwert,
und die Natur kümmert sich blutwe
nig um unsere günstigen oder ungün
stigen Prognofen. Was ich Jhnen
nach dieser Richtung hin zu sagen
vermag, haben Sie bereits gehört.
Soweit es sich um die Weiter-entwicke
lung des eigentlichen Grundleioens
handelt, sind die Aussichten keines
wegs trostlo5. Denn selbst wenn es
nicht gelänge, eine heilung oder einen
Stillstand herbeizuführen würden
doch die Fortschritte des Krankheits
prozesseö wahrscheinlich sehr langsam
fein. Was aber die vorhin erwähnte
Möglichkeit einer plötzlichen Kata
strophe betrifft, so muß ja schließlich
jeder von uns rnit derartigen Even
tualitäten rechnen. Wir alle stehen
in Gottes Hand·«
»Das ist nicht sehr tröstlich. Aber
ich muß mich wohl damit bescheiden,
da Sie mir ja na Ihrer Erklärung
nichts anderes zu agen wissen. Jch
werde meinen Mann also veranlassen,
noch heute um einen baldigen Urlaub
einzutommen. - Und es wäre mir lieb,
Herr Doktor, wenn Sie an einemsder
nächsten Tage noch einmal vorspre
chen wollten«
Dottor·Weiß sagte dies bereitwillig
z - und machte Miene, sich zu empfeh
len. Hermine aber, die wohl noch
W
sehr einsi. doch vollkommen ruhig
schien, hielt ihn zurück.
»Ich möchte Sie noch um eine kleine
Gesälligkeit bitten, die Sie mir nicht
versagen werden, da ich Sie haupt
sächlich im Interesse meines Mannes
darum ersuche. Er schläft seit eini
gen Wochen so wenig, daß jede äußere
Störung seiner Nachtruhe doppelt em
pfindlich siir ihn ist. Und iiher eine
iolche haben wir uns leider allnächt
lich zu beklagen.«
»Eine Störung, die ich zu beseiti
gen vermöchte, liebe Frau Winteri«
»Sie könnten es wenigstens versu
chen. Jn dem Keller biet unter un
seren Zimmern wohnt. wie Sie wis
sen, der Portier Nitschke mit seiner
Frau und einem kleinen Enkelkinde,
das sie aus irgend welchem Grunde
zu sich genommen haben, obwohl die
Eltern noch am Leben sind. Der
Schwiegersohn, der ais Bergmann im
Waldenburgischen arbeitet, ist« glaube
ich, etwas roh und trunksiichkig. Aber
das hat ja siir uns weiter kein Inte
resse. Der Grund, aus dem ich Sie
bemühen will, ist vielmehr die entsetz
liche Unruhe dieser- kleinen Kindes.
Seit Wochen vergeht keine Nacht, wo
es nicht bis gegen den hellen Morgen
hin so jämmerlich schreit, daß man da
bei kein Auge schließen kann. Jch
dachte erst, es würde von den alten
Leuten vielleicht schlecht behandelt.
Aber ich habe mich überzeugt, daß
davon nicht die Rede sein kann; denn
sie hängen aus ihre Weise mit großer
Zärtlichkeit an dein kleinen Geschöpf.
Das Kind muß also krank sein- und
zur Rachtzeit an Schmerzen leiden,
gegen die sich doch wohl etwas thun
läßt. Mächten Sie sichs nicht ein
mal daraufhin ansehen, Herr Dok
Oktqu
»Seht gern. Aber es giebt da doch
gewisse Bedenken. Haben denn die
Großeltern selbsts den Wunsch ge
äußert, ärztlichen Rath zu empfan
gen?"
»Ach, Sie wissen ja, wie diese be
schränkten und ungebildeten Leute
sind. Sie meinen, wie das Kind von
selbst trank geworden sei, so werde es
auch wohl von selbst wieder gesund
werden. Und Gottes Wille würde
doch unter allen Umständen gescheliem
Darauf, daß sie aus eigenem Antrieb
zur Vernunft tommen werden, kann ich
um meines armen Mannes wåäen
nicht warten. Und es wird wohl ge
nügen, Jhr Bedenken zu zerstreuen,
wenn ich mich bereit erkläre, Sie bei
den Nitschtes einzuführen.«
»Da es vor allem Jhtes Mannes
wegen geschehen foll, will ich mich gern
dazu verstehen. Wollen Sie mich
gleich jetzt hinunter begleiten?«
Hermine bejahte, und wenige Mi
nuten später stieg sie mit dem Doktor
die Kellertreppe hinab. Die Luft da
unten war ein bischen muffig; aber
das rührte sicherlich mehr von der
Feuchtigteit des Hauses, als von
einem Mangel an Rainlichteit der Be
wohner her. Denn in den beiden
niedrigen Zimmern, die das beschei
dene Heim des alten Ehepaares aus
machten, herrschte eine wohltuende
Sauberteit und Ordnung.
Die Nitschtes zeigten sich von dem
unerbetenen ärztlichen Besuch wohl
einigermaßen überrascht; aber der Re
spekt vor der Gattin des Nendanten,
die sie ziemlich kii l und von oben her
ab behandelte, lie sie doch bereitwil
lig und ehrerbietig aus die Fragen
des Doktors antworten.
Sie holten ihr Entelchen, ein blaß
und gedunsen aussehendes Kind von
etwa zwei Jahren, herbei, unb der
alter Bergmann erzählte: »Der Junge
ift wie eine Uhr. Um elf Uhr Abends
fängt er an zu schreien, und dann
geht’s in einem fort bis gegen Drei
—- wir mögen mit ihm auffiellen,
was wir wollen. Tagsüber ift er da
gegen ganz vernünftig Und sehr
schlimm kann es mit einerr Krankheit
auch nicht sein« denn er ißt seine Por
Rms Gurt-schle- tmis tin Gras-s «
»Na, da hätten wir wohl schon vie
Ertlärung«, meinte der Doltor, der
sogleich daran gegangen war-« das
rasch entlleidete Kind zu untersuchen.
»Der Junge ist strofulös und schlecht
genährt. Das ist die einzige Ursache
seiner nächtlichen Beschwerden. Mit
der Kartoffeldiät werden Sie also
wohl vorläufig aufhören müssen,
Präm darin eine Besserung eintreten
o .« »
Er gab den alten Leuten ausführ
liche Rathschläge für eine zweckmäßige
Ernährung ihres Enlelchens. Und
als Frau Nitschle, die über diese Din
ge natiirlich ihre eigenen Ansichten
hatte, etwas geriezt bemerkte, sie seien
viel zu arm, urn solche Vorschriften
zu hesolgen, erklärte die Gattin des
Rendanten in ihrer bestimmten, fast
hochmüthig klingenden Weise, sie wer
de die oerordnete Milch bezahlen und
das Mittagessen für das Kind von ih
rem Mädchen bereiten lassen, da die
ses nächtliche Geschrei unter allen Um
ständen ein Ende nehmen müßte.
Dann hatte sie es sehr eilig, den
Keller zu verlassen, dessen schlechte
Lust sie beengte, und auf dein haus
slur verabschiedete sie sich nur mit
einem kurzen Wort des Dankes von
dem· Arzt, uni in ihre Wohnung zu
rückzukehren.
Jn demselben Speiseziinmer, wo sie
, vor einer Viertelstunde die Kunde
von der schweren Erkrankung ihres
Mannes empfangen hatte, trat sie an
das nach dem Hofe hinan-gehende
Fenster. Und ihr Gesicht nahm einen
sträurnerisch sehnsüchtigen Ausdruck
samt Wink.
l k-' lxkal
IWMMX»" TM
Gatte: »Schrecllich! Da lese ich eben in der Zeitung, daß mein Freund
Pieske gestorben ist«
» Gattin: »Die arme Frau! Einen solchen Mann zu verlieren, der sie
jedes Jahr ins Bad geschickt hat!«
—s
an, Jviihrend sie lange gedanlenvers
loren zu den blinkenden Leichenfteinen
fuhf dem Garnifontirchljof hinüber
a
Dann reckte sich plöhlich die schöne,
'iippige Gestalt straff empor, und in
dem sie wie voll inbrünftigen Ber
lange-is die Arme ausbreitete, sagte
die junge Frau halblaut vor sich bin:
»Noch einmal frei fein —- ganz frei
— und die Herrin meines Schicksals!
—- Das —- ja das wäre endl: ch das
Glückl«
2. Kapitel.
Mit dem Glockenschlage der sit-Elf
ten Stunde öffnete sich das Haustbor
der höheren Töchterfchule in der
Schweidnitzer - Straße, und wie ein
munterer Vogelfchwarm flatterte
fchtvatzend und lachend all das junge
weibliche Volk ins Freie hinaus, froh,
xii r diei en Tag wieder einmal dem lei
igen Schulzwang entronnen zu sein -
Mit dem würdevollen Ernst, der ib
rer autoritatioen Stellung utam.
tauchten hie und da auch die estal
ten ältlicher Lehrerinnen in der bun
ten Miidchenwelle auf. Man brauchte
nicht eben ein großer Menschenienner
zu fein, um nach der mehr oder weni
ger zutraulichen Art, wie sie von den
Schülerinnen gegrüßt wurden, den
Grad ihrer Beliebtbeit u beurtheilen.
Den unbestritten er ten Platz im
Herzen ihrer jugendlichen Zöglinge
mußte danach wohl die fchlanie, ro
sige junge Dame behaupten, die als
eine der letzten in der Thilr erschien,
umgeben von einem ganzen Kranze
zierlicher Backsifchchen, deren jedes
eifrig darauf bedacht schien, ein
freundliches Wort, ein Lächeln oder
einen verabfchiedenden Händedruck für
sich zu erhaschen. Sichtlich beglückt
durch die Liebe und Anbiinglichleit,
. hss Z-- K- mIO K-- sssssisstssu III-Ils
- »o- sqs »v- su o s-- s- sus
. .«, ,..., .......
chen Natürlichkeit entgegengebracht
wurden, legte Martha Winter inmit
ten ihres anmuthigen Gefolge-J den
Weg bis zur Promenade zurück. So
vielfach wurde sie von allen Seiten in
Anspruch genommen, daß sie einen
dort an der Brücke über den Stadt
graben stehenden Herrn und seinen
verbindlichen Gruß vollständig über
fah. Eine der Schüler-innen erst
mußte sie darauf aufmerksam machen»
und nun buschte ein allerliebstes Er
röthen der«Verlegenheit über das Ge
sicht des jungen Mädchens, während
sie zu freundlichem Gegengruß den
Kopf neigte.
Mit angeborenem weiblichen Takt
oder vielleicht auch infolge eines ge
wissen ebenso weiblichen instinktiven
Ahnungsvermögens zerstob das Back
sifchlein in alle Winde. Und eine Mi
nute später war der vornehm ausse
hende Herr an Marthas Seite.
Die schwarze lederne Aktenmappe,
die er unter dem linken Arm trug,
und der Umstand, daß er vom Stadt
gericht ber über die Brücke gekommen
war, ließen unschwer den Rechtsan
walt in ihm erkennen. Sonst würde
das feine, charaktervolle Gesicht mit
der energischen Adlernafe, den scharf
blickenden graublauen Augen und dem
martialischen Schnurrbart viel eher
auf einen Offizier gedeutet baden.
Auch dte hohe, wohl ausgebildete Ge
stalt biitte solcher Vermutbung kaum
widersprochen, solange sie im Zustand
der Ruhe oerharrtr. Jn dem Au
genblick aber, da der Mann den er-l
sten Schritt that, wurde es sogleichs
offenbar, daß er zum Soldaten nim
mermehr taugen konnte, denn er wars
ein Krüppel. Sein rechtes Bein mußte;
gelähmt oder durch irgend ein Ge-;
brechen gebrauchsunsähig gewordenj
sein, da er es beim Geben wie eines
todte Masse nachzog und sich infolge
dessen nur mit Hilfe eines Stockes
langsam und ziemlich mitbeselig fort
bewegen konnte-.
Martha hatte sogleich ihren Schritt
verlangsamt, als sie seine Absicht. sie
anzuredem erkannte. Aber sie war
tete nun eine kleine Weile vergebens
auf diese Anrede. da er sie wohl mit
einem leuchtenden, bewundernden
Blick ansah, wegen der Einleitung
eines Gesprächs jedoch in Verlegen
heit schien·
»Sie kommen vom Gericht, gerr
Rechtsanwalt?« fragte sie, um och
etwas zu sagen.
Und nun war das Eis gebrochen.
»Ja, bon meinem Tagewerk« wie
Sie. Aber ich wollte. meine Thä
tigkeit wäre nur halb so gesegnet und
erfreulich wie die Ihrige. Es war ja
geradezu herzerquickend zu sehen, wie
viel Liebe Sie sich zu gewinnen
wissen·«
Jn einer Verwirrung, siir die ei
gentlich gar tein Anlaß gegeben war,
schlug Martha die Augen nieder.
»Ach, das ist nicht schwer«, sagte sie,
»und durchaus kein Verdienst. Diese
bergigen Kleinen sind so dankbar für
jeden Beweis ehrlicher Antheitnabme
an ihren vielen Freuden und Leiden,
daß es ein wahres Vergnügen ist« mit
ihnen umzugehen. Um nichts in der
Welt möchte ich meinen Beruf mit
einem anderen vertauschen. Ich habe
immer die Empfindung, daß man bei
diesem ständigen Verkehr mit der Ju
gend selbst niemals altern könnte.«
»Fiir Jhre Person wenigstens wür
de das sicherlich zutreffen,« bestätigte
er im Tone vollster Ueberzeugung, um
dann, da sie nicht antwortete, nach
einer kleinen Weile mit verändertem
Ausdruck hinzuzufügen: »Aber ich
kann Ihnen wohl nicht zumuthen,
aus Rücksicht aus mich dieses Schne
ckentempo innezuhaltew Es war ja
auch nur meine Absicht, Jhnen einen
guten Tag zu wünschen und mich nach
dem Besinden Jhres Bruders zu er
.2.—8 --..
Isslqsskccs
Er war stehen geblieben. Doch sie
erhob mit einem freundlichen, fast
bittenden Blick die Augen zu seinem
Gesicht. »Glauben Sie etwa, dafz ich
in dieser drückenden Mittagshitze
schneller gehen würde, wenn ich allein
wäre?« fragte sie. »Wenn ich Jhnen
von meinem Bruder erzählen soll,
müssen Sie sich schon entschließen,
mich noch ein Stück zu begleiten.«
»Aber Sie bringen mir ein Opfer«,
beharrte er. »Ist es Ihnen denn nicht
peinlich, neben so einem hintenden
Krüppel, nach dem alle Leute sich
mitleidig umsehen, iiber die Prokur
nade zu schleichen?«
Martha erröthete wieder, und dies
mal noch tiefer als zuvor. »Wie Sie
nur so garstig sprechen mögen! Gi«
gentlich sollte ich Jhnen gar nicht das
ran antworten. Denn Sie müssen
wahrhaftig eine sehr wenig giinsti
Meinung von mir haben, um eine f
lräntende Frage zu stellen.«
Sie schwieg wirklich verletzt, und es
bemühte sich nach Kräften, seine Un
geschicklichteit wieder gut zu machen.
«Seien Sie mir nicht böse, Fräu
lein Marthat Das-, ich mir lieber die
Zunge abbeißen, als Sie mit Vorbe
dacht tränken würde, sollten Sie doch
wissen. Und welche Meinung ich vo
Jhnen habe, müßten Sie eigentli
auch schon gemerkt .hahen. Aber t
tann nun mal nicht über die Empfin
dung hinweglommen, daß mein Ge«
brechen mich den Menschen lästi
macht. hanc ichss gleich mit auf di
Welt gebracht, würde ich vielleicht wes
nieer unter dieser fatalen Besotgnil
leiden, die mich mit einem besiiindi es
distrauen eeftillt gegen die Aufr i
tigteit meiner Nebenmenschen.«
Entsetzung folgt.)
Ein Optimist ist ein Mann» dem es
nz egal ist, was passiert, so lange s
cht ihm passiert.
)