Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, December 29, 1905, Sweiter Theil., Image 13

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    Ver Dritte.
—
Eine Sylvestergelchichte Von M a r -
garethe v. Rentz.
Das Weihnachtsfeft ist vorüber, der
Lichterglnnz erloschen.
deDie Kinder schauen nicht mehr nach
day-tacht der Schaufensterx sie zie
den ie kleinen Schlitten über die
schneebedectte Straße oder probiren
die neuen Schlittfchuhe.
Und wenn die graue Dämmerung
den Tag verdrängt, hören fie gern alte
Märchen nnd Sagen, nnd je unheim
licher diese klingen, desto gemtithlicher
finden es die jungen Zuhörer im
wodldurchwiirmten Stäbchen s— —
Die alte Beate Römer sitzt im gro
ßen Lehnstuhl, der nahe an den Ofen
gerückt ift. Sie trägt eine gefältelte
schwarze baube auf dem spärlichcn
weißen Haar, aber ihre alten Augen
blicken darunter noch hell und frisch
hervor.
Die Hände bat sie gefaltet im
Schooße liegen —--— hin nnd wieder
wendet sie den Kon nach der Thür,
als ob sie Jemand erwarte.
vDraußen auf der Straße werden
schon die Laternen angezündet, cer
Schnee blinlt rein und weiß
Vater Winter hat ordentlich zuge
deckt, wie es sich auch ziemt nnd dem
alten Herrn zur Weihnachtgzeit wohl
ansteht. —--— «
Ueber Beate Römers runzligeg Ge
sicht fliegt jetzt ein ftrahlendeg Lä
cheln, sie hört auf der Holzftieae dran
fzen Kichern und Lachen und die aus
getretenen Stufen tnarren. «
Hunnen Rose und Lene Weber ste
hen gleich darauf im niedrigen Stüh- »
Well«
Alle drei sehen frisch und rotigs
aus, sie kommen direct vom Schlitt- -
schuhlaufen zu der Alten, die ihre!
ehemalige Kinderfrau ist.
Sowohl fiir diese wie fiir die jun: l
gen Mädchen war es ein ganz beson
deres Vergnügen, in der Dunkelstunde
zusammen zu sein. Beate war noch
vom alten Schlage. Sie wußte eine·
Menge wundersamer Geschichten, an1
die sie selbst steif und fest glaubte,
und da ihr früher streng untersagtl
worden war, den Kindern so etwas
ei·nzureden, holte sie es jetzt, da die
Jüngste schon siebzehn Jahre alt war, (
eifrig nach. I
Besonders gern erzählte sie Spuk- t
und Gruftlgesckichten.
Die jungen Mädchen glaubten na
tiirlich nicht daran —- nein, entschie
den nicht — sie lachten und kicherten
viel darüber und machten sich lustig
besonders am lichten Tage, oder wenn
sie an dem großen Familientisch um
die hellbrennende Lampe saßen. Und
doch war es merkwürdig --— hier in
Beatens kleinem Stäbchen, im Halb
dunlel wurde ihnen bei deren Erzäh
lungen immer ein wenig grufelig.
Auch heute, als die Alte von der
letzten Jahresnacht zu erzählen be
gann.
Lenchen rückte unwillkürlich mit
ihrem Schemel ein wenig näher zu
Hanna hin. An der Zeit von Weih
nachten bis Neujahr tann der Mensch
sehr viel über seine Zukunft erfahren,
wenn er will," sagte Beate in feier
lichem Tone, «und besonders in der
Syloesternacht sind alle Geheimnisse
offenbar-«
,,host Du auch einmal versucht,
über Deine Zukunft etwas zu erfah
ren, Beatr?« fragte Rose.
Die Alte hob abwehrend die Hand.
»Gott soll mich bewahren, Lindeh
Es ist immer Teufelswert dabei, und
gar manchen hat der Böse schon auf
solche Weise fiir sich gewonnen. Wer
weiß, ob ich heute hier so gemiithlich
Lästzn wenn ich je so etwas versucht
ii te·«
Sie schwieg einen Augenblick sie
schien über etwas nachzudenken —
dann begann sie:
»Wenn Jhr in der Sylbesternacht
zwischen 12 und 1 Uhr an einen
Kreuzweg geht und wartet, big ein
Mann kommt, müßt Jhr ihn fragen,
weß Standes und Gewerbes er ist «
besselben ist dann auch Euer Zukünf
tiger.«
»Das könnte man mal versuchen,«
meinte Rose. Beate beachtete den Ein
wtirs gar nicht und fuhr fort:
»Die Kathi und ich waren Nach
barstinder. hübsch war sie wie nur
eine, sodaß sich alle aus der Straße
nach ihr umdrehten, und lustig war
die Kathi auch. Nun und die hatte
auch davon gehört. »Was gilt’s »s
ich probir’5!« sagte sie zu mir, und
aus mein Abrathen lachte sie nur· Sie
« ist richtig hinausgegangen in der
Z etsrg kalten Nacht an den-Kreuzweg
i Und wißt Jhr. wen sie gesehen hat?"
i Die Alte beugt den grauen Kopf
weit vor, und die jungen Mädchen
F. riieten noch dichter zusammen.
« »Den Tod hat sie gesehen, und so
erschrocken ist sie, daß sie aus der
2.;kell’."-— htngesallen und nicht mehr aus
estanden ist.«
’ »Don wie schauerlich!« sagt Hanna.
»j- «Woher wißt Jhr denn, daß die
atht den Tod gesehen hatt« skagt
« ne
Beute verschräntt die Arme unter
r Brust
«Nu sieh mal einer den Kiesindie
lt ant Mk sie sonst so erschrocken,
nn sie nicht den Tod gesehen hättet«
TJTTZ »Wie sah denn die Kathi aus« ats
- T-- pl sie sandett« stagt Lenchen noch
. ? s.
s
W
»Fein sah sie aus. War sie doch vom
Tanzboden weggelaufen.«
»Ach darum!« wirst Lenchen ein. s «
»Was darum7« Beate ist ärgerlich,
daß man ihr die schöne Geschichte
nicht glauben will.
»Sie ist eben gestorben, weil sie er
.hitzt in die Kälte hinausgelausen isi,«
meint Lenchen.
»Sie hat sterben müssen, weil der
Tod ihr am Kreuzweg ausgelaueri
hat!« sagt Beate mit erhobener Stim
me in einem so bestimmten Tone, daß
kein weiterer Widerspruch mehr laut
wird.
Es war eine geraume Zeit ganz
; still im Stäbchen, auch war es inzwi
schen finster geworden, nur der La
ternenschein wars von draußen ein
wenig Licht in den Raum.
Die alte Frau sah von ihrem
Lehnstuhle aus hinüber nach den Fen
stern; sie überlegte, um etwas recht
Schauerlicheg herauszusindein
»Es giebt auch noch einen alten
Glauben,« begann sie endlich, »von
einem stummen Dritten, wißt Ihr da
von?«
»Nein —- bitte, erzählet«
Beute sehte sich befriedigt zurecht,
strich die Schürze glatt und begann:
,,Also in der Neujahrsnacht müssen
in einem Hause, wo sonst alles schläft,
zwei Menschen aufbleiben. Von elf
Uhr-ab darf keiner mehr ein Wörtel
sprechen —- anz mucksmliuselstill
und ruhig miiäen sie zusammen den
Tisch für drei Personen decken. Es
darf nichts fehlen, und Brot und
Salz und Wasser müssen auch da fein.
Sind sie damit fertig, miisfen sie sich
an diesen Tisch setzen, einander ge
acuiiber — das dritte freie Plätzel
inuß zwischen ihnen sein. So bleiben
sie· dann ruhig sitzen, und wenn die
Glocke zwölfe schlägt — dann-— dann
«- wird die Thür aufgehen, nnd her
ein wird der Dritte kommen sich mit
an den Tisch setzen, von demBrot nnd
Salz essen, von dem Wasser trinken
—-- wohlgemertt auch ohne ein Wort
zu reden ----- und um ein Uhr wird er
ganz ruhig und still wieder hinauäs
gehen.«
»Aber das ist ja doch unmöglich,
Veate8« sagte Rose.
« »Komm denn ein Mensch oder ein
Geist?« fragte Hanna
Beate zuckte die Achseln.
»Das weiß ich nicht. Es gehört
aber sehr viel Muth dazu, es zu pro
biren.«
Die Alte steht auf und zündet die
Lampe an, und sobald das Streich
hölzchen-aufslammt, lachen die jun
gen Mädchen, und alle Spukgeister
chen nehmen Reißaus.
»Beste« sagt Lenchen und faßt die
Hände der Alten« »Du bist unsere
liebe, gute, alte Veate, aber was Du
uns eben erzählt hast,· ist doch fein
schrecklicher Unsinn.«
»So? Meinst Dut«
Beate sieht das junge Mädchen
groß an.
»Ihr seid halt fein gebildet »
wißt Euch alles zu ertliiren und
glaubt an kein Wunder mehr. Aber,
Kindel,« sie streicht Lenchen über den
blonden Krauskopf, »es giebt halt
noch viel, was man sich nicht so leicht
erklären kann, und besonders die Zeit
nach Weihnachten ist eine geheimniß-·
volle. Sag mir, KindeL von wem
hast Du denn jetzt am meisten ge
iriiumt? Brauchst doch nicht gleich
roth wie ein Psingströsel zu werden,
kann mir schon denken, daß es nicht
«die alte Beate war.«
« »Warum willst Du denn das wis
ten?«
Beute wiegt den tiops hin nnd her
nnd lächelt.
«Jedensalls vom Doeior Firiiger,«
wirst Rose ein.
«Woher weißt Du denn beisp«
fährt Lenchen aus.
»Aha, es stimmt,« meint die Alte
schmunzeind, »nun schau, LeneL das
ist ein gutes Zeichen. Das zeigt an,
daß der junge Herr gerade so ost an
unsere Jüngste dentt wie sie an il)n.«
»Ich denke gar nicht so ost an
ihn,« vertheidigt sich Lenchen
Die Schwestern lachen.
»Aber inanchmal,« sagte Hamm,
»und dann desto länger. Hin und
wieder muß man doch schließlich mal
an etwas anderes denken·«
»Rose, Du bist abscheulich Dn
glaubst wohl, ich habe keine Augen
Jch weiß auch ganz genau, an wen-«
Rose schlief-X mit der Hand ihrer
Schwester den Mund
,,Still, meinKleines,« sagt sie, »Du
hast ja noch gar nicht mitzureden«
Lenchen schweigt
Sie spielt nachdenklich mit ihrem
Zopse, der ihr blond und schwer über
die Schulter hängt.
Beate sucht in ihrer großen Kom
mode nach einem Kartenspiel.
»Richtig- Kartenaufichlagen kann
ich nicht,« sagt sie dabei, »aber ein
Bissel hab’ ich’s von meiner Urahne
gelernt. Die ist jeht lange todt, und
ich werd’ wohl manches vergessen ha
ben.«
Sie miicht und legt aus, murmelt
unverständliche Worte vor sich hin und
beginnt. Sie sagt ihren drei Lieblin
aen nur Schönes aus den bunten
Blättern.
»nen Brief tue-W kriegen, mit ei
net guten Nachricht, hier liegt auch
Nie schöne Reise und hier der Herz
bube—— schau — kchau —- RoieL « sie
nickt dieser lächelnd zu, »ich werd’
Dich wohl noch im Brauttranze sehn
—
—- — was er ist, der herzbube —
wollt’s wissen? Scheint mir auf dem
Gericht zu thun zu haben. Wie? Ach,
es stimmt —- das freut mich!«
Die jungen Mädchen gehen befrie
digtnach Hause
,,Bei der Beate ifw doch immer zu
geiniithlich," sagt Lenchen.
Rose und Hanna schmückten sich
zum Balle. Sie hatten zu Weihnach
ten sehr schöne zarirosa Kleider erhal
ten, die siir den Syldefterball be
stimmt waren.
Lenchen kam sich in ihrem gewöhn
lichen Kleide den geputzten Schwestern
gegenüber sierbensungliicklich vor.
Sie lag in nachlässiger Stellung
auf einem Sessel und sah zu, wie
Rose sich die Veilchen ansteckte und
Haan an ihren dunklen Löckchen
zupfte.
»Und ich muß zu Hause bleiben!«
klagte die Jüngste.
»Wirst noch früh genug zu der Hop
serei tommen,« meinte Hamm, die
nicht gern tanzte. Lenchen fand aber,
es wäre eine große Ungerechtigkeit; sie
drehte und riß unbarmherzig an der
Quasie des Sti.1hles, bis diese endlich
sich Herbste
»Geh- mir vaw zu Bett,« rieth
Rose, während sie unter ihren Fächern
den passenden hervorsuchte, »das Ge
scheiteste, was Du thun kanns .«
—,,Natiirlichs!« grollte Lenchen, »Ihr
dreht Euch nach den herrlichsten Wal- I
zerlliingen, und ich tann in’s Bett
kriechen. Nein, das schon lange nicht.
Jch bleibe auf,' bis Jhr wieder
tommt.« — Die Schwestern lachen.
»Da möchten Dir wohl die Aeug
lein zugefallen sein, mein Kleines,«
sagte Rose ’
»Wenn Ihr mich doch nicht immer ?
Kind und Kleines nennen wolltet! s
Das finde ich nachgerade empörend.
Ich bin doch schon ebenso erwachsenl
i wie Ihr. Ich kann Euch gar nicht sa- ;
) gen, wie ich mich darüber ärgere« !
: »Wenn ich nur beiin Blumenwalzer
nicht sitzen bliebe!« seufzt Rose. j
i »Ach holt· natürlich Referendar
s Seller. Aber ob ich —« Hanna zuckt ’
! vie Achseln i
T , Lenchen wünscht in diesem Augen- «
sblich Hanna und Rose blieben alles
; beide beim Blumenwalzer sitzen
s Warum sollte sie sich gerade allein
in s neue Jahr hinüber ärgern — das
stonnte sie nicht recht einsehen
s »Wie das hier abscheulich aussieht!"
s begann sie nach einer Weile wieder die
Unterhaltung, während sie sich in dem
start unordentlichen Zimmer umsah
Hier lagen Röcke, dort Ballblumen,
Handschuhe, Taschentiicher; der Klei
derschrant stand offen, die Kommoden
schübe waren halb herborgezogen.
»Emma wird dann hereintotnmen
und ausriiumeu, « beschwichtiate Rose,
aber Lenchen wiederholte mit Nach
druet ihre Behauptung —— irgendwie
mußte iie ihrem Aerger doch Lust
» machen.
s Die Schwestern legen sich- die Mein
’ tel um vor der Thüre stehen schon die
JEltern Regierungs- Rath Weber ist
ein ungeduldiger Herr Er tlopst laut
san die Thiir und ruft: »Na, wird-cis
s bale« -
J Dann gehen sie alle die Treppe hin
;unter, ohne Mitleid siir die Zuriiets
: bleibende. Lenchen treten Thriinen in
die Augen sie tonimt sich namenlos
verlassen bor· Sie vergleicht sich mit
Asasenputteh die auch allein zu Hause
bleiben mußte aber da tam der
Prin,! -.
Und die ganzen nächsten Tage wür
den Nose und Hanna von dem Balle
erzahlen, ihr immer wieder zeigen,
wag sie versäumt hatte. Jetzt wiirde
bald Doctor Ariiger mit den Schwe
stern tanzen —---— er würde sie gewiß
reizend finden und an das kleine,
dumme Ding, die Leue, gar nicht den-:
ten Ein schöner Mann, dieser Doc
tor Krügen und so liebenswürdig und
gut!
i
Lenchen weinte jetzt ganz leise in
ihr Taschentuch hinein.
Regierungsrath Weber war ein
strenger Vater, obwohl er seine Töch
ter iiber alles liebte.
Er freute sich, als er niit Hanna
und Rose die Treppe hinabschritt, wie
reizend sie aussahem aber er hätte eg
sür unter seiner Würde gehalten, et
was Davon zu sagen. Er hatte auch
bestimmt, daß Lenchen in diesem
Jahre noch leinen Ball besuchen diirse,
und seine Angehörigen wußten sehr
wohl, daß ihn nichts bewegen lonnie,
diese Anordnung zu ändern.
Der große, ernste Mann hatte leine
Ahnung, wie schmerzlich sür Lenchen
dies Entsagen war.
Er selbst wäre tausendmal lieber
zu Hause geblieben, er haßte alle diese
Vergnügungen von Herzen-erkunde,
aber er bezwang sich und brachte sei
ner Familie das Opfer.
- Sie gingen zu Fuß; Ivar doch das
HoteL in welchem der Ball stattfand,
»nur wenige Schritte von der Woh
nung des Regierungsratheö entfernt.
Lenchen hatte, diesen Umstand in
TErivägung ziehend, irn verflossenen
Winter einmal lange vor den Fen
stern des zu ebener Erde gelegenen
Ballsaales gestanden und den Wal
zertlängen gelauschi.
Durch irgend eine alte Klatschbase
war dies dem Vater zu Ohren gewin
rnen, und da —- doch nein —- sie sprach
nicht gern darüber. Jedenfalls war
ihr alle Lust, jemals wieder Zaungast
zu sein, gründlich vergangen.
Sie mußte fehl wieder daran den
len —- nicht einmal das lleine Ver
—
gniigen ließ man ihr.
Lenchen versuchte, im Zimmer et
was Ordnung zu schaffen; aber nach
kurzer Zeit gab sie es seufzend auf
Sie ergriff die kleine Lampe und
ging in das Zimmer ihrer Mutter
hinein.
Hier zog sie erst die Vorhänge an
den Fenstern zu, dann warf sie sich
seufzend auf den D«ivan.
· Sie hielt die Hände hinter dem
Kopfe verschränkt, ihre Augen starr
ten zur Decke hinauf.
Jn ihre Sinnen und Grübeln hin
ein erklang plötzlich die Flurglocke.
Lenchen fuhr auf und horchte.
Ah, es war Tilli! Das war nett
von der Freundin, gerade heute Abend
l zu kommen.
i Tilli stürmte schon zur Thür her
fein, ohne lange Umstände.
« »Mama und Toni sind aus dem
Balle, mir war’s zu Hause allein zu
langweilig, und ich bin schnell zu Dir
gelaufen.«
Lenchen half der Freundin seelen
vergnügt den Paletot ausziehen, ihre
schlechte Laune war fort, Tilli erschien
ihr wie ein guter Engel.
Bald saßen die beiden in eifrigem
Gespräch beisammen. Da sie sich zwei
Tage nicht gesehen, hatten sie sich eine
große Menge ungeheuer wichtiger Sa
chen zu erzählen.
»Richtig,« sagte plötzlich Tilli. »daß
wir’s nicht vergessen —- heute Abend
Füssen wir selbstverständlich Blei gie
en·« —«
Sie hatte eine Menge halbzerbro
chener Bleisoldaten aus der Tasche ge
nommen und auf den Tisch gelegt. —
»Die habe ich dem Heinzel wegstibitzt,
hoffentlich merkt er nich-t, daß ihm
Krieger fehlen.«
»Du, das ist eine samose Jede,« rief
Lenchen begeistert, ,,iarvohl, das- ma
chen wir!«
Sie gingen gleich an’s Werk, und
mit nachdenklichem Staunen betrach
teten sie dann die wunderbaren Blei
gebilde.
»Sieh ’mal, meinte Lenchen, »das
ist beinahe wie ein Strauß.«
»Ach nein, Leue, ich würde es eher
siir einen Berg oder so etwas halten«
»Na, wie Du hier einen Berg her
ausfindest, ist mir gerader schwier
-haft.«
»So ist’5 überhaupt nicht richtig,
eg tonnnt darauf an, was es fiir einen
Schatten wirst!«
Nun war es ganz unverkennbar ein
Helni«aber davon wollte Lenchen schon
gar nichts wissen.
»Heute Abend bin ich in einer
Stimmung, dasz ich am liebsten etwa-Z
recht Tolle-Z angeben möchte,« sagte
« Til1i.
»Du, ich weiß wag. Setz’ Dich her
zu mir es ist nämlich eine ganz
unheimliche Geschichte.« Lene er
zählte nun in geheimnifzvolleni flü
sternden Tone die Sage von dem
stummen Dritten, und Tilli erklärte
sofort:
»Du, das ist ultig, das machen
wir.«
»Es ist ja schrecklich dumm, weißt
Du,« meinte Lencheu, »und ein haar
striiubender Unsinn, aber ich weiß
nicht, Tilti, unheimlich finde ichs
doch«
Tillie lachte laut auf.
»Nun miissen toir’s erst recht probi
reu. Du mußt doch sehen, dasz abso
lut gar nichts geschehen wird. Jch
glaube, unheimlich ist e5 Dir nur des
halb, weil Du eine volle Stunde tein
Wort sprechen darfst.
Die Dienstmädchen waren beide zu
Bett gegangen; es war schon nach 10
Uhr und ganz still im Hause.
« ,,Lange Zeit haben wir nicht mehr,«
sagte Tilli, »dann miissen wir anfan
gen -—— doch sicher mit dein Schlage
11 Uhr·«
Lenchen nickte, sie verfolgte ein
Weilchen den Zeiger au Mantos zier
ticher Standuht.
»Jetzt brauchen wir aber noch nicht
zu fchweigen.«
»Nein —- aber ich weiß nichts mehr
zu erzählen.«
»Ich habe gar nicht gedacht, daß
Du solch großer Hosenfufz bist, Leite«
»Ach, Du glaubst wohl, ich fürchte
mich? Na, das wäre doch noch schö
ner!«
Fiinf Minuten vor elf fragte sie
aber: »Wollen wiss denn wirklich
probireat Ich meine, wird es Dir
nicht zu langweilig sein?«
»Wenn Du Dich gar so grufelft,
lassen 1oir’s lieber.«
»Nein, nein, komm nur, wir wer
den immer hinüber in«s Eßzimmer
gehen, es muß ja gleich fchlagen·«
Eins —— zwei —---- drei --— vier
fünf sechs «-— sieben ——— acht —
neun —-«-— zehn —- elf. Die jungen
Mädchen zählten unwillkürlich rnit,
als die kleine BronzesUhr ihr silber
helles Glöckchen ertönen ließ. Dann
griff Lenchen energifch nach der Lam
pe und ging der Freundin voraus.
Das Eßzimmer war das größte
der Wohnung. Tilli fand die Lampe
viel zu tlein fiir den Raum; ihr Licht
leuchtete ja nicht einmal ordentlich
bis zur Thür, und dort drüben an der
Wand ver-schwamm alles in unsiche
rem Dunkel.
Sogar der muthigen Tilli wurde
ein wenig unbehaglich; fie trat zum
Tische und fchraubte die Lampe höher.
Diese that ihr Möglichstes, das
Vertrauen, das man in sie gefeta hat
te, zu rechtfertigen —- sre war felbft
erstaunt iiber die große Ehre, die ihr
heute wider-fuhr, daß sie auf dem Eß
tifch Prangen durfte — es war eben
eine sehr bescheidene lleine Lampe.
Lenchen hätte auch lieber eine grö
ßere angezündet, aber sie fürchtete
Tilli’s spöttischen Blick und unterließ
es deshalb.
Schweigend deckten sie den Tisch.
Nur von Zeit zu Zeit trafen sich
ihre Blicke und sprachen.
Die Lenchen’s sagten: »Ich niöchi’s
am liebsten lassen,« die Tilli’s: »Un
sinn, das wäre noch schöner.« «
Und doch fühlte Tilli mit Verwun
derung, wie auch sie sich eines ängstli
chen Gefühles nicht erwehren konnte.
Daran war das stumme Schweigen
Schuld. Es hat schließlich immer et
was Ungemüthliches, wenn zweiMen
schen so stumm um einander herum
gehen.
Der Tisch war bald gedeckt, es war
erst ein Viertel nach 11 Uhr. Schwei
gend setzen sie sich an den Tisch —- se
hen sich an —- lächeln ein wenig —
blicken nach der Thijr —- nach der
Uhr.
Wie der Zeiger schleicht —- und
doch klopft ihnen beiden das Herz,
wenn sie an das Ende der Stunde
denken! —
Jeht nur noch eine halbe Stunde
— dann würden sich die verschlosse
nen Thüren des Hauses von selbst
öffnen — dann würde auch dieseThiir
» sich austhun —- ——!
Lenthen’s Backen glühen wie im
" Fieber — Tilli ist nahe daran, ein er
lösendes Wort zu sprechen —— doch sie
schweigt weiter.
Jede bemüht sich krampfhast, der
» anderen die wachsende Furcht zu ver
bergen, jede wiederholt sich im Jn
nern immer wieder, daß alles Unsinn
ist und nichts Außergewöhnliches ge
schehen kann.
Vielleicht auch werden sie den Drit
ten nicht kommen hören, er wird
plötzlich in der Thiir stehen!
Tilli lächelt Lenchen an, und Len
chen lächelt als Antwort.
Zehn Minuten vor zwölf —— jetzt
musj sich-’s bald entscheiden.
Jm Eßzimmer fehlen noch drei Mi
nuten zu itternacht — da beginnen
plötzlich die Kirchenglocken anzuschla
gen und das neue Jahr einzuliiuten
Lenchen erschrickt bei den noch nicht
erwarteten Klängen so, daß i re Hän
de zittern, sie steckt sie schnell unter den
Tisch, damit es Tilli nicht sehen soll.
--— Doch diese blickt nach der Thür mit
eineni.ganz blassen Gesicht. Dann se
hen sie sich wieder an —— fragend und
ernst.
Jetzt schlägt auch die Uhr im Eß
zimmer, während die Glocken draußen
weiter klingen. Jsts da nicht, als ob
die Hausthüre tnarrte, tonitnt es nicht
wie leise Schritte die Treppe heraus
« tastet es nicht an der Wand —
rauscht es nicht wie von einem langen
Gewand —-- und jetzt — heiliger Gott!
es ist also doch kein Aberglaube —
auch die Entreethiir öffnet sich, und
leise schleicht es näher nach der Thiir
des Eßzimmers.
Bebend vor Angst lauschten die bei
den jungen Mädchen, ——-- keine Spur
von Verstellung mehr — nackte Furcht
und Entsetzen liegt aus ihren Gesich
tern, nnd ohne Verabredung fahren
beide auf und tausen, sich fast über
rennend, zur Thür, die in Vaters Ar
beitszinimer siihrt, hinaus.
Dort stehen sie zitternd aneinander
geschniiegt am Fenster und lauschen.
»Den meinem ganzen Leben versuche
ich das nicht mehr!« betheuert Len
chen.
Tilli antwortet nicht.
Sie horcht nur und vermag es nicht
zu begreifen.
Der starke Sylvesterpunsch hatte·
den Regierungsrath in eine recht mun
tere Stimmung gebracht. Seine Töch
ter tanzten tüchtig, seine Frau freute
sich darüber, und er selbst sasz in ei
nein Nebenstübchen und ließ sich von
Doctor Krüger Gesellschaft leisten.
Der junge Mann hatte ihm eben
Vorwürfe gemacht, daß er seine
Jüngste zu Hause gelassen hatte, und
Weber war nahe daran, dies selbst zu
bedauern.
»So allein sitzt sie nun zu Hanse.«
bedauerte der Doctor, ,,solch’ junges,
frisches Blut will sich doch auch ver
gnügen.«
»Ganz allein wird sie nicht sein,
denn eine Freundin wollte sie besu
chen, wie ich eben von deren Eltern
hörte. Wahrscheinlich ist sie aber schon
längst zu Bett.«
»Wer weiß! Jch werde gleich mal
nachsehen, ob bei Jhnen noch-Licht is
Der Regierungsrath suchte seine
Frau.
»Hast Du denn der Lene wenigstens
ein Glas Punsch und einen Pfann
tuchen spendirt?«
Frau Weber zuclte die Achseln:
»Ob ihr das gerade Spaß macht,
sich allein dazu zu setzen?«
»Es ist Licht im Eßzimmer,« be
richtete Dsoctor Krügen
Regierungsrath Weber dachte ein
Weilchen nach, dann hielt er des Doc
,torg Arm fest und sagte:
j »Die Lene soll sehen, daß ich kein
’Rabenvater bin.Jcb werde selbst hin
über gehen und ihr Punsch und Ku
chen bringen«
Dsoctor Krüger schloß sich unter
dem Vorwande, den alten Herrn über
die vereiste Straße führen zu wollen,
sofort an.
Er nahm ihm auch dienstbeslissen die
Flasche mit dem Punsch und den Ku
chen ab. , «
So kamen sie in’s Hang, und «
gingen sie die Treppe hinausp «
Als der Regierungsrath nach der
Klinke greifen wollte, hörten sie im
Eßzimmer lautes Gepolter —»-—-dmm
wurde eine Thiir zugeschlagen —- der-T
ran Todtenstillr.
Im Scheine eines Wachsstreiche
hölzchens sahen sich die beiden Herren
verblüfft an. Ihr Erstaunen wuchs,
als sie drinnen den gedeckten Tisch ge
wahrten.
Ja, was sollt-e denn das heißen?
Kopfschüttelnd ging der Regie- «
rungsrath hin und her. »Es
,,Aha, nun fällt es mir eint« rief
der Doktor lachend, »die Geschichte
vom Dritten in der Shlvesternachst.
ein alter Abserglauhe unserer Heimaih.
Da wollen wiir den Spaß doch auch
richtig zu Ende führen.«
Er setzte sich an den Tisch, goß sich
ein Glas Punschs ein und legte einen
Pfannkuchen vor sich aus den Teller-.
»Nun bitte, Herr Regierungsrath,
ziehen Sie sich ein Weilchen dort in
die dunkle Ecke hinter der Thüre zu
rück. Bei Fri. Helene wird gewiß die »
Neugier über die Furcht siegen, unds
sie wird einen Blick durch-Z Schiüsse1
Ioch wagen. Da soll sie den Dritten
am Tische sehen. Zwar, ob sie gerade
diesen Gast erwartet hat —?«
Der Rsegierunasrath kam vorerst
aus der Verwunderung und dem
siopfschiitteln nicht heraus-, aber er
gehorchte schweigend. Inzwischen hat
ten Lenchen und Tilli leise detach
schlaat, wag zu thun sei. Es konnten
am Ende Einbrecher sein. Wie schreck
lich! Da müßten sie doch- Lärm schla
gen.
Aber wie sich Gewißheit verschaf
sen?
»Du, Lene,« sagte Tilli, »der
Schliissel in der Thür zum Eßzimmers
»steckt nicht, komm, wir sehen mal
Hschnell hindurch. — Du wagst es
; nicht? ——- Gut, dann thue ich es, bleib'
HDu hier stehen, damit Du im Noth-v
sfalle die Mädchen wecken kannst."
» Tilli schlich leise wieder nach vorn,
wo es ganz still geworden war, und
blickte durchs Schlüsselloch. Richtig!
Da saß einer am Tische, aber wie ein
Geist oder ein Einbrecher sah er nicht
» ang. Er hatte sogar einen Frack an!
Sie sah schärfer hin; jetzt beugte
der räthselhafte Eindringling siehet
was vor und hielt ein mit einer dun
kelrothen Flüssigkeit gestilltes Glas
gegen das Licht ——-- das war ja Dr.
Krügerl
Mit Windeseile lief Tilli zu der
noch immer vor Angst zitternden
Freundin, ergriff ihre Hand und zog
die Widerstrebende mit sich fort:
»So tomm’ doch —— na, Du wirst
« Dich wundern!«
Als Tilli die Thür öffnete, hob Dr.
striiger das Glas empor-und rief-,
ihnen lachend zu: »Prosit Neujahr,
meine Damen! Jch sei, gewährt mir
die Bitte, in Eurem Bunde der
»Dritte!«
J Jetzt trat auch der Vater aus dene
Dunkel hervor. »Aber Kinder, sagt
Jmir doch in aller Welt, was hat das
»Hu bedenten?- Mir ist von alledem so
i dumm, alg ging’ mir ein Mühlrad im
Kopfe herum. Heraus mit der Spra
a:e! Leite, jetzt beichte inal!«
Stockend, glühendroth vor Verke
sgenheit, sing sie an zu erzählen« doch
mußte sie mehrmals innehalten, denn
Idic Herren brachen immer aufs Neue
iHi schallendeg Gelächter aus. — «
» »Du Närrchen « saate der Vater
und strich Lenchen über den Kopf,
’ .und das will eine Dame sein und
Bälle besuchen! Doch jetzt wollen wir
anstoßen auf ein recht glückliches neues
Jahr.«
Die Gläser klangen zusammen, auch
von der Straße herauf tönten Neu-—
jahrsariiße.
Und während Tilli zum Fenster tief
nnd cg öffnete und neben dem Regie
rnngsratb h-inabblieite, faßte der Doc
tor nach Lenchens band und sliistertet
»Es ist doch ein stummer Dritter
einaetrcteu, aber nicht alle sehen ihn.
Jcb aber weiß, wer es ist und trie er
beißt. Es ist Gott Amor — Heime .
sehen auch Sie den lieben Gast oder
s bin ich nur allein, der von ihm Iveiß?·
Lenchen sieht unter anänen la
crelnd zu dem Manne auf und nickt
mit dem blonden Kopfe, und am Fen
ster steht der Vater und rust einen
auten Bekannten ein ,,Prosit Neu
jahr!« hinunter.
«
Neuinhrstarten.
Neues Jahr unl; neues Hoffen,
Neuer Wandel im Geschick,
Neuer Bund der alten Freundschaft,
Neue Lust und neues Glück!
NeujahrssestgeläuteL
Sag, was wünsch’ ich heute?
Wenig dars ich schreiben:
Woll’n die Alten bleiben!
Die Neujahrsglocken schwingen sich,
Mein Herz, das schwingt sich mit!
Mein Herz, das jubelt heiter:
Zieh’n auch die Jahre weiter,
Wir halten fröhlich Schritt.
Ein neues Jahr, was will das sagen?
Im Lebensbuch ein neues Blatt.
Hab’ stets viel frohes einzutragen.
Und nichts, was Schuld und Fehle hat
Jm neuen Jahr:
Die Augen klar,
Die Worte wahr,
Und schätze Gott dich immerdar.