Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, October 06, 1905, Sweiter Theil., Image 14

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    Die Spielgefährten.
Roman von V. Wiesen.
(5. Fortsehungd
Wenn Licy mit ihrer Mutter zur
Jahrmarktzeit oder um Weihnachten,
wo die nöthigen Eintäufe besorgt
wurden, nach der eine Meile entfern
ten Kreisstadt fuhr, war sie immer an
dem diistergrauen Herrenhause vorbei
gekommen, das, hinter den uralten
Rüstern versteckt, einem verwunsche
nen Schlosse glich. Sie hatte es wenig
beachtet. Jetzt dünttees sie ein ver
schlossenes Märchenreich und der bren
tende Wunsch regte sich in ihr,nur ein
einziges Mal einen Blick über den
rnoosbetvachsenen, von morschen
Mauerpseilern gehaltenen Zaun zu
thun.
Und was hindert sie daran? —- Herr
von Waszczewsti ist nicht daheim,
warum soll sie nicht, statt geradeaus
nach dem Walde, heute den Weg links
zum Spaziergang wählen?
Schon hat ihr Fuß die Richtung
eingeschlagen etwas unwiderstehlich
Zwingendes treibt sie vorwärts.
Die hohen Rüstern nicken ihr ent
gegen. Ein leichter Wind, der sich
plötlich erhoben hat, bewegte die Wi
pfeL Immer hastiger geht das Mäd
chen vorwärts, so schnell, daß sie ihren
verstärkten Herzschlag deutlich fühlt.
Nun liegt Dobrawitz vor ihr, das
Schloß, abseits der Landstraße, irn
Hintergrunde des Paris, der mit sei
nen düsteren Laubgiingen und versieg
ten Sandsteinfontänen ein Bild längst
vergangene-e Zeiten bietet.
Alice hat sich, einen schmalen, aus
getrockneten Graben überspringend,
durch Unkraut und wildes Brombeer
gerank den Weg gebalynt und späht,
aus den Fußspiszen stehend, über die
Garteninauer.
Neugierig, mit süßem Erschauern
blickt das Mädchen aus diese fremde
Welt, die Herrlichkeit früherer Tage.
—Wunderbar schön erscheint ihr hier
alles; geheimnißvoll und poetisch, wie
es Dichter schildern. Diese vielfach
verschlungenen Wege, diese dunklen
Bosketts, hinter denen steinerne Bild
werke vorschauen, und am Ende des
Laubenganges das-— bunte Tempelchen,
vor dem ein kleine-r, nackter Junge
Wache steht. der Flügel an den Schul
tern trägt und einen Bogen spannt.
Das ist alles so ganz anders als
daheim in Tanninten, wo die Sonne
ungehindert aus lange, gleichmäßige
Gemüsebeete scheint, die, als das ein
zig Nuybringende, den größten Theil
des Gartens einnehmen.
Licy zuckte zusammen, es ist ihr
plötzlich, als stände jemand dicht hinter
ihr. Schnell wendet sie sich um. Das
lose Mauer-gestein, an dem sie sich fest
hält, Um in den Garten sehen zu kön
nen, dröckelt unter ihrer hand.
.Borsichtig, mein Fräulein, nicht
fallen!«
« Von glühender Röthe übergossen,
sieht Alice in Wasils schönes, lächeln
des Gesicht.
»O »Herr von Waszczewsii. ich . ..
ich wußte nicht, daß Sie zu Hause —«
Wie ein ertapptes Schulmädchen,
aber doppelt reizend in ihrer hülflosen
Verwirruna, steht sie vor ihm, der sich
an ihrer Berlegenheit weidet·
»Jch... wirtlich... ich bin-Hi
ganz zufällig hier spazeren gegangen,«
versicherte sie mt ungeschicktem Eifer.
Es wäre dem gewandten Weltmann
ein leichtes gewesen, ihr zu Hülfe zu
kommen, indem er ihre Neugier igno
tirte: aber er thut es nicht, ihre hülf
lvse Verlegenheit macht ihm Spaß.
,,Meinem Pakt konnte keine größere
iEhre zutheil werden alg Jhr freunds
liches Interesse. Darf ich bitten, gnä
diges Fräulein, daß Sie ihn sich auf
etwas bequemerem Wege ansehen?«
»Nein. nein, danke, ich mache mir
gar nichts daraus,« versichert Licn
eifrig.
»Schade. Aber dann geben Sie mir
wenigstens die Hand, damit ich Ihnen
durch dies verwünschte Klettengestriipp
hindurchhelse."
Alice gehorcht und läßt sich die
Böschung hinunterleiten.
Nun stehen sie nebeneinander am
Feldrain. Das Mädchen streicht die
zerzausten Haare glatt und löst ein
paar Kletten von ihrem leichten Som
mertleide. Den Hut hat sie abge
nommen. —- Es ist drückend schwül.
»Nicht wahr,« beginnt Wasil —- er
weiß genau, daß die Frage sie peinigt
—- ,,Der Dobrawitzer Pakt ist sehr
verwahtlosit Jch habe mich lange
nicht mehr darum getümmert. Was
Sie sahen, hat Jhnen wohl wenig ge
fallen?«
.Dvch-« gesteht Licy ehrlich. »Ich
finde Ihren Garten wunderschön, sehr
viel schöner als unsern. Der ist lang
weilig und gewöhnlich«
»Und ttosdern verlassen Sie ihn so
felten,« sagt Wasil im Ton des Vor
wurf-. Dann mit leiser, verschleier
ter Stimme: »Warum kamen Sie nie
W in den Wald? Warum vermei
den Sie es, mit zu begegnenlt Was
N ichs M Dosten Sie mir
nicht hu Mrlpiedtt das PM- Ihrer
ask-M - i- mmi sich W
j.- »Ist-, d ein sue-schreiten Land
. » fett-m Winters-:
Gesicht spiegelt sich freudiges Er
schrecken.
»Ach nicht doch,« murmelte sie ver
legen, .,warum reden Sie so was?
Das ist doch Unsinn·«
«Wieso? Jch versichere, daß ich
völlig entzückt . . . . Sehen Sie, nun
wenden Sie schon wieder den Kopf
weg und eilen so schnell, daß ich Ih
nen« kaum folgen kann.«
I »Ich musz nach Hause, Papa war
ktet. Mutter ist verreist zu Tante
jWengk nach Wentitten.«
! »Die Frau Baronin ist Jhre Tan
)te?" fragt Waszcetvsti interessirt.
Das junge Mädchen nickte flüchtig;
was kümmert sie in diesem Augenblick
Ue alte Verwandte.
Ein sausender Windstoß fährt plötz
lich durch die Luft. Jn der Ferne hört
man grollenden Donner.
»Aha, es geht los,« sagt Wasil und
deutet auf das schwarze, rasch heraus
ziebende Gewölb »Mir schien es schon
am Vormittag, als bekämen wir ein
Gewitter. Darum tam ich zeitiger
aus der Stadt zurück. Sie sollten an
geschützter Stelle die Entladung ab
warten, Fräulein Dittmer. sonst
überrascht Sie das Unwetter unter
wegs.«
»Ach, so schlimm ist’s noch nicht.
Der kurze Weg. Jn einer halben
Stunde bin ich zu Hause, und früher
giebt es sicher keinen Regen.«
Wie um die Worte des Mädchens
Lügen zu strafen, fallen in diesem
Augenblick die ersten großen Tropfen.
Immer schneller, immer dichter folgen
sie einander. Jn wenigen Augen
blicken ist der Himmel eine einzige
blaufchwarze Wolken-nasse.
Noch schreitet Alice tapfer vorwärts
und kämpft gegen den Wind. der sich
ihr entgegenstemmt und an ihren Klei
dern reißt. Den Stohhut bält sie fest
an sich gedrückt, um ihn einigermaßen
zu schützen. Auch Wasil muß seinen
Hut halten. Auf ein Haar wäre er ihm
vom Kopf geflogen.
»Publ, ist das ein Wetter! Gnii
diges Fräulein, Sie sehen, so geht es
nicht weiter; in fünf Minuten bleibt
lenen kein trockener Faden. Kommen
Sie, seien verständig, hier sind wir.
gleich unter Dach-«
Er hatte recht, es war unmöglich,
in diesem Gewitter bis Tanninten zu
gehen: der Hut, das gute Sonntags
tleid —- alles wärbe hin sein, und
Mutter war immer sehr böse über ver
dorbene Sachen.
»Ich möchte aber wirklich lieber nach
hause,« sagte sie trotzdem noch ein
mal.
»Kind, wie kann rnan nur so thö
richt sein. Es wird doch auf zehn Mi
nuten nicht ankommen, dann ist das
Gewitter bariibergezogen.«
Lucy widerspricht nicht mehr. Wil
lenlos läßt sie sich durch eine Seiten
pforte in den Pakt führen.
Wenige Schritte rechts, von dich
tem Holundergebiisch umwuchert, steht
das chinefifche Irnrpelchem vor wel
chem der kleine, geflügelte Bogenschütze
Wache hält.
»So, da wären wir schon in Si
cherheit« sagt Wasil, driickt kräftig
gegen die in rostigen Angeln hängenbe
Thiir und läßt das Mädchen eintre
ten.
Der achteckige Raum ist sast leer,
nur im Hntergrunde steht ein malte-H
rerblaßtes Sosa, dessen von Zeit unb
Moderlust zermiirbter Seidenbezug in
Fetzen herunterhängt. An der Wand
lehnen Harten, Schauseln und meh
rer Gartenstühle, denen Die Füße seh
len. Wände und Plafonb bedeckt dich
teg Spinngewebe, die bunten Glas
scheiben der Fenster sind zum Theil her
aus-gefallen und liegen zersplittert am
Fußboden.
»Eintride sieht es hier gerade nicht
aus,« sagte Wasil spottend, »aber ich
hoffe, das Dach hält noch zusammen
und schützt Sie wenigstens vor dem
Unwetter.«
Er geht an eines der hohen, schma
len Bogensenster, um sie zu schließen,
da sie, vom Lustzng bewegt, rasselnb
hin und her schlagen.
Ein greller Blitz zuckt ihm entgegen
sast in demselben Augenblicksolgt laut
krachender, lang anhaltender Donner.
Licy schreit aus und bedeckt das Ge
sicht mit den Händen. Sosort ist Wa
sil an ihrer Seite.
»Haben Sie sich erschreckt? Aengsti
gen Sie sich vor dem Gewitter?«
»Ja seh-» gesteht sie zaghaft» Ach
Gut-, ob der Bliy wohl eingeschlagen
hat «
Uns jedenfalls hat er nicht getros
sen, nnd das ist die hauptsache,«
lchetzt Wasil
Ein neuer Donnerschlag til-ertönt
fein seine-les Laches
Btld toben fest Ue entfesselten
Naturgetvaltm
Versinken peitsch das Hollundw
»in-nd en vie »Heute-n
v sittliche AMMM M
Es ist plii lich ganz duntel gewor- J
Nur, hn und wieder zuckt einI
areller Blitz vom nachtschwarzen Dim- -
mel nieder und erleuchtet sekuuderp
lang den engen, dämmerigen Raum»
Das iunae Mädchen wagt sich nicht »
zu regen. es zittert am ganzen Körper.
Wasil hat ihre beiden Hände gefaßt
und beuat ich zu ihr. «
»Kind, ie brauchen teine Furcht
zu haben, das Gewitter geht schnell
vorüber.«
»Mir ist so beklommen, so schreck
lich banae.«
Er zieht sie näher zu sich heran.
»Auch wenn ich bei Ihnen bin?«
sraat er schmeichelnd. »
Wie ermuthiaend seine Stimme
klingt wie gut er ist. Dankbar will
Alire zu ihm aufsehen —- da, ein
neuer färchterlicher Blin. ——Sie stößt
einen Lauten Schrei aus und schließt«
jäh geblendet, dieAuaen. Wasils Arm
umschlingt sie. Schutz suchend, halb
bewußtlos vor Anast, läßt sie es ge
schehen, daß er ihr Köpfchen an seine
Schulter drückt.
»Siiße5 Liebchen!" Sein Mund be
rührt ihre Augenlider, ihre vollen,
zuckenden Lippen.
Jst das ein Traum-— ist es Wirt
lichteit? —Alice hört nicht mehr den
tobenden Sturm, den rollenden Don
ner, ihr Herz lauscht aus leise tasende
Worte.
»Siißes, holdes Liebchen,« sliistett
Wasil, und wieder küßt er sie. Da
wirst sie die Arme um seinen Hals,
zärtlich, leidenschaftlich
»O Gott« wie bin ich glücklich!«
Er streichelt ihr heißes Gesicht. »
»Kleiner. lieber Narr! Nun, lsahe
ich nicht recht gehabt? Wer wird lich
denn so kindisch fürchten. Possen Sie
aus« in ein paar Minuten iit das
Wetter vorüber: dort hinten im Westen i
wird es schon aanz hell."
»Ja, aanz hell,« faate Alice, ohne»
binauszuiehem Ihr Herz Pacht un-!
qestiim, sie ist wie berauscht von dem i
unaeahnten, unsaßbaren Glück, sich«l
von ihm aeliebt zu wissen. l
Der Regen hat aufgehört. Er träu
felt nur noch von den Bäumen und
rieselt aus der verhoaenen Dachrinne
in dünnem Zickiack den Gartenwea
hinunter. Das Gartenpförtchen. durch
welches Licn vor kurzem eingetreten
ist, hat sich wieder hinter ihr geschlos
sen. Drei-, viermal wendet sich das
Mädchen zurück und winkt und nickt;
dann rafft sie ihr Kleid auf, dessen
Saum die nasse Erde streift, und
läuft meh? als sie acht, den Feldweg
entlang, « anninten zu.
Die abgetühltr. duftaetriintte Luft
umweht erquickend ihr alühendes Ge
sicht. Alice kann es taum erwarten,
bis sie daheim sein und dem Vater
alles erzählen wird. Jauchzen möchte
sie — himmelhoch jauchzen, wie es in
dem Gedicht heißt, das ihr stets als
das schönste von allen erschien. Wie
war es doch? »Himmelhoch jauchzend,
zum To ...« Nein, das nicht, das ist
arundfalsch. So ist die Liebe nicht«
sie kennt sie bessert Glückselia lacht
das ahnunaslose Kind in sich hinein,
und, als könnte sie es nicht ost genug
hören. flüstert sie immerzu vor sich
hin: »Er hat mich lieh! Er hat mich
liebt«
Als Lich athemlos zu Hause an
langt, steht der alte Dittmer auf der
obersten Stufe der Vortreppe. Erbat
sich sehr geänastiat und nach allen Sei
ten ausaeschaut. wo das Mädchen
stecken mag, das sonst beim erstenDon
neraroLlen, wie ein verschüchtertes
Häschem in Papas Nähe zu flüchten
und sich hinter ihn zu ducken pflegt.
Da endlich kommt sie gelaufen, quer
über den nassen Rasenplatz, gerade auf
den Alten zu.
»herrqott, Lieschen, wo warst Du?
Wir haben Dich überall arsucht.« Lie
devoll hetastet er ihr feuchtes Haar
und Kleid. »Bist Du bei dem Wetter
nicht etwa draußen gewesen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nur als die ersten Tropfen fielen,
nachher-Papa, komm, ich hah’ Dir
koas Wichtiaes zu erzählen, Du wirst
Dich sehr freuen. Mian
Ungestüm zieht sie ihn, der verwun
dert folgt, ins Zimmer, fällt ihm um
den Hals und jubelt: »Er liebt mich
--dent Dir nur, er liebt mich!«
«Wer?«
«Wasil!«
Dittmer hat sich losgemacht und
sieht gespannt in seines Kindes glü
hendes Gesicht.
.Wer ist Wasil?«
»Amt« von Wagzczewöti — Gott,
Papa. Du weißt doch, der jetzt wieder
in Dobkawitz wobnt.« Leichte Unge
duld und etwas wie Gelkänttsein
llinat aus den Worten. Wie ist es
möalich, Wasil nicht zu kennen!
Der Alte findet sich noch immer
nicht zurecht.
»Was ist das mit dem Herrn von
Wasmewsliii Erzähle mir mal ot
dentlich, Lim. ich verstehe teinWort.«
»Pabachen, ich sagte eg ja schon,
eben baben wir uns verlobt « «
»Was denn, verloth Du mit dem i
Dobrawetzer? Mädel, was redeit Du 1
da fiir unlluaes Zeug, Du kennst ihn
ia aar nicht «
»Doch, ich lenne Wasil lebt gut. i
Wir haben uns oit aettoffen, wenn ich
spazieren aina Du glaubst nicht, wie »
schön Und lan und vornebm er ist«
Und immer sah er mich so besonders ’
an, ich kann das nicht Geschreiben,;
aber das. Herz klopfte mir, wenn ich
nur an ihn dachte. Ali nun heute das
Gewitter plötzlich losbrach und ich
mich io iebt önaitiate, batee mich in
seine Arme genommen und geküßt und
mit aeiaat daß er mich liebt « !
»Gut Dir gesagt, das et Dich liebt
—- und LW Du liebst ihn
MI«
«Ueber alle Masen.« i
»So, so. —- Ra ja, dann sreiltch.«1
Der alte Mann läßt sich schwerfällig
aus sein Noßhäarlopha nieder; die
überraschende rt heilung ist ihm in
die Glieder gefahren. Daß er sein Lisel
ernst wird sortgeben müssen, daran hat
er bisher gar nicht gedacht. Und ge
rade dem Dobrawitzer. Hübsch und«
vornehm mag er sein, aber- «e sonst?
Wer»lennt seinen Choral er, seine
Verhaltnisse, wer weiß etwas von
ihm?
Dittmer reibt sich die kahle. feucht
gewordene Stirn. Ungewöhnliche Er
eignisse und angestrengtes Denken ver
wirren ihn immer. Licy läßt ihm
nicht lange Zeit. Sie hat sich, wie sie
als Kind zu thun pflegte, aus seine
Kniee gesetzt und schmiegt ihr blühen
tåes tGesicht zärtlich an seinen grauen
ar .
»Papachen. was hast Du denniDu
bist heute gar nicht nett. Jch dachte,!
Du würdest Dich freuen, daß ich so;
unmenschlich glücklich bin, und nuns
sagst Du gar nichts dazu.« Erregt
spielen ihre Finger an dem obersten;
Knon seines alten Wirthschastsrocles, i
dievrothen Lippen schützen sich schmol- ;
en .
Den Alten trifft der Vorwurf sei
nes Lieblings tief· Er kommt sich
selbst sehr hartherzig vor.
»Aber nein, Kind, Du brauchst Dich
nicht zu tränken. So war es nicht ge
meint. Bloß die Ueberraschung — wie
lonnt’ ich denn wissen.v —Jch will
doch gewiß nichts anderes als Dein
Glück.«
Schnell versöhnt lacht sie ihn an.
.Mein Glück ist Wasil, Papa. Wir
lieben uns, und nicht wahr, ihr werdet
ihn auch lieb haben und mich ihm ge
ben, nicht wahr. Papa-«m drängt Lich·
Sanft läßt Dittmer sein stiirmi
sches Töchterchen vom Schoß gleiten.
Sie will Antwort haben, wo er selber
rathlos, verwirrt und unentschlossen
ist. Unmöglich lanner es übers Herz
bringen, ihr wehe zu thun, ibre Freude
zu stören.
Soll er sagen, daß etwas in ihm
»Nein« ruft? Und warum eigentlich?
Weil Waszczewsli ein vornehmer
Herr ist, weil er lange im Ausland
lebte, das Gut in fremden Händen
ließ. Das sind keine Gründe, die
aeaen feinen Charakter sprechen.
Dittrner wirft sich im Stillen
Selbstsucht vor, die Selbstsucht des
Vaters, der sein Kind, seine höchste
Lebensfreude, den Sonnenschein sei
ner mühe- und soraenvollen Tage,
nicht missen will. —Ja, das ist es.
—Es beruhigt ihn förmlich. die
Schuld sich selbst beimessen zu können.
Nachdenllich gebt er im Zimmer
auf und ab, nimmt die Tabakspfeife
vom Tisch nnd legt sie wieder hin,
tritt ans Fenster und wirft qewolin
beitsrnsißia einen Blick auf den Wirth
fchaftsliof. wo eben die Pferde mit
lautem Peitschenlnallen zur Tränle
aetrieben werden. Dort, weit hinten,
das große Brachfeld, das wie ein
arauer Abendicksatten sich in der Ferne
abreichnet, das ist Dobrawitzer Gebiet.
Ditt wendet sich wieder zu Lim.
»O ttest es mit nur friiber ereiiblen
sollen das mit dem Herrn von Was
zczewskif
Aber Papa, wie konnte ich denn?
Es tam ia so plötzlich Pech weiß es
erst seit heute. dasi er mich liebt. «
»Saate er das?"
Sie nickt verichiimt in den Augen
ein Leuchten feliaen Erinnerns.
Und was nun weiter. LicniF
Verwundert srebt sie ihn an. »Ja,
nun gebt ihr einfach eure Ginwillii
auna. und dann verloben wir uns.«
Es ist lanae ber, seit Dittmer auf
Freiersfiißen nim. Wie es bei einer
Werbuna ruaebt wein er überhaupt
nicht nennt-: nur daß seine eiaene Ver
lobuna auch plötzlich und iiberraschend
erfolate, ist idrn erinnerlich.
Zum ersten Mal ersehnt er die Rück
lehr seiner Frau. Sie wird wohl Rath
wissen, wird ek- ftch nicht nehmen las
sen, in diesem Punkt die Entschei
duna zu treffen, und Dittrner sich
ilrrer Ansicht fiiaen, wie er es von
jeher zu thun gewohnt ist. -
Noch ein nnterdriiclter Seufzer —
der Gedanke ist doch aar zu schwer,
sein liebes Kind fortzugehen —- dann
nickt er ihr. die ihn erwartungsvoll
ansieht, derudiaend zu. ·
nHabe nur Geduld bis morgen, bis
Mutter kommt, Lischm die rniissen
»wir doch zuerst fragen. Wenn sie nichts
dagegen hat . . .«'
»Sie wird nicht« sie lann nicht,
Papa! Wenn ihr Waiil sehen werdet
—er ist so lied, so schön!«
«Glaub’s fchon,« stimmte der Alte
bei. Sein rauhes Organ klingt doch
spröde-r als sonst, und jedes Wort
lomrnt langsam über die Lippen, als
thäte es ihm weh. —,,Jet3i ach’ aber,
Kind, aeh’ zu Bett, es ist spät gewor
den. Gute Nacht'
»Gute Nacht, Papachen. Also,dörst
Du —moraen.« Sie küßt ihn flüch
tig auf die eingesunlenen Schläfe und
buscht aus dem Zimmer. Auf der
Treppe hört er sie mit leisem Jubelton
ein ziirtliches Vollstiedchen fingen.
Das ailt dem andern, dem Frem
den. -—-Ja, an dem hängt ihr Herz
nunviel mehr als an dem alten
Vater.
Der so bescheidene, selbstlase Maan
stihlt etwas wieM«szgunst in sich aus
steigen. Er schamt ch dieser Reaun ,
und. die Hände ineinander leaeng,
murmelt er: «Lieber,s guter Herrgott,
ich alter Kerl brauch« sein Glück mehr
aus der Welt, meinetwegen wert-' ich
Dich um nichts mehr angeben, aber
ssra blos dafür- dass der Lisel aller
mer Guten ansschtäat.«
·- i i
s nur stprkwii W ve
haushrrr erst um die zehnte Morgen
stunde aufzustehen; dat war eine Ge
wohnheit aus dem Großitadtleben, die
er auf dem Lande beibehalten hatte.
Nach dem Frühstück ließ er gewöhnlich
fein Pferd satteln und ritt durch die
Felder. um sich in seinem Eigenthum,
um das er«sich jahrelang nicht gekäm
mert hatte, einigermaßen zu orienti
ren.
Schon bei Lebzeiten deg vorigen
»Besihers. seines Großvaters —feine
Eltern hatte er früh verloren —- war
die Wirthschaft schlecht imstande ge
wesen. Der alte Herr. jeder Neuerung
feind, verharrte in hochmüthigem
Starrsinn bei einer längst überwun
denen Wirthschaftsmethodr. Da er den
vrattiichen Vortheil der modernen
Maschinen und Ackeraeriithe nicht ein
sehen wollte, menschliche Arbeitskräfte
aber nur zu sehr hohem Tagelohn
und auch dann nicht einmal in genü
gender Menge zu haben waren, ließ er
lieber einen Theil der Felder liegen,
als daß er sich zu einer Abweichung
von feinen unzeitgemäßen Ansichten
entschloß.
Je mehr aber das Gut auf diese Art
von Jahr zu Jahr zurückging, desto
grämlicher, mißgünstiger und verbit
terter wurde sein Besitzer. JedenBauer.
auf dessen bescheidenerAclerparzelle die
Saaten üppig grünten, betrachtete der
alte Herr als persönlichen Feind. Mit
den wenigen Gutsnachbarn hatte er
schon längst jeden Verkehr abgebro
chen. Völlig menschenscheu lebte er in
zwei Hinterzimmern seines Schlosses,
und wer sich in dessen Niibe wagte,
lonnte sicher sein, von ein paar großen
Hofhunden scharf angefallen zu wet
den. In der Umgegend hieß er nur
»der verrückte Alie«: aber als ihm
dies einmal zufällig zu Ohren kam,
hatte er, trotz seiner 82 Jahre, wü
tbend darauf bestanden. die Wehrer
bietiae Aeußeruna mit der Pistole in
der Hand zu rächen, und nur eine
schriftliche Abbitte von seiten des
Schuldigen ließ ihn von der Heraus
forderung abstehen.
lFoitseßung folgi.) -
Die Sprache der Urttfrem
Das ist ein ganz sonderbareo
Deutsch, in der sich das Bolt der Ar- l
tisten gefällt. Sie sprechen eines
Sprache, die sonst Niemand versteht,
und der Laie, der ein artistiiches Fach
blatt durchblättert, wird erstaunt aus
Ausdrücke stoßen, die seinem be
Untertdanenverstand so fremd sind wie
Worte des Rothwelsch Sie haben sich
eben ihren eigenen Jargon gebildet
und nur der Berussgenosse weiß, was
sie meinen. Da sagt der Eine bei
spielsweise, daß er gut »Spogat
machi«, der Andere ist »tip top in
Flic-Flor« und der dritte in »Casca
den«.
Da sich diese Fachausdriicke nur sel
ten in die Programme verirren, sind
sie eigentlich von geringerem Interesse
für das große Publikum. Weit inte
ressanter sind die Bezeichnungen arti
srischer Fächer. die im Bariete gang
und gäbe sind und schon aus dem
Grunde von Niemandem verstanden
werden, weil sie eben unverständlich
sind. Die Unintelligenz einzelner in
ihrem Fach ganz tüchtiger Artisten
kommt da zum trassen Durchbruch.
Was soll es heißen, wenn beispiels
weise ein »Contorsionist der hohen
Schule der Athletit« sich in einem
ziemlich bedeutenden Etablissement
vorstellte? Muß das Jeder wissen, daß
dieser brave Artist ein tüchtiger
Schlangenmensch, aber sonst ein ton
suser Kopf ist?
Manche Benennungen von Num
mern sind so absurd, daß sie dem ge
bildeten Menschen nur ein Lächeln ab
zloingen können; so machte tiirzlich ein
Jtnpresario Retlame für eine Num
mer, die eine »Scene aus dem Leben
der Berg (!) bewohner in Teva (!)«
darstellen sollte. Man könnte ebenso
gut von den Bergbetvohnern der Lüm
burget Heide reden.
Und ebenso lächerlich ist die Sucht
der Ariisten nach sremdsprachiaen Be
zeichnungen. Da haben wir die
»Schulze Brothers", die »Kol)n
Sisters« und dann die gemischten Na
men, die, wie beispielsweise »Frievrich
Rome, Knockabout ei Dies-Gesell
schaft«, gleich ein Vierteldutzend Spra
chen zu vereinigen suchen.
Mit der Ortbograpbie sieht es be
sonders schlimm. Die --Nouvaute«
kommt genau so häufig vor wie »Ehe
world allerbeit attrattion« und wie
die »Musicai Comedy Troupe«. ’
Der auch im aroßen Publikum be
tannteste Artiitenausdruct iit »die:
Nummer«. Von dieser Bezeichnung
stammt die geläufige »seine Nummer«
ab, und was Lustnummer, New-ne
nummer ,Gesangs- und ieriöse Num
mer ist, das weiß wohl Jeder. Weni
ger bekannt ist die »Bandtvurm«. Die
Fachleuie bezeichnen mit diesem Aus
druct eine alltägliche, langweilige Dar
bietung, die der Artist ink- Endloses
auszudehnen sucht.
Ausdrücke wie »sich-s auf Kaps«
und Haut-stand Zabnstand und Kopf
ftand ergeben sich aus der Arbeit, aber«
keinesfalls muß der Zuschauer wissen,l
was »Obermann«, »Untermann«,x
»Flieger« und »Ja-mer« beißt. Und
ebensowenig tlerstebt er, warum ders
Untermann (der bei Parterrearbeit die ?
Anderen trägt) viel schwerer sein mußt
als der Obermann (der aus ihm steht)
und deshalb in Artiftenbliittern mit
den Worten: »Untermann, der auch
Lust arbeitet und Dank-stand versieht,
siir Mittel-traun mutetljt fitufundfiebzig
k
au- s , so .
Musik« muß Last ist-, set
» lieger« muß nur gewandt und ein
st sch sein. Auch Fachleuten wird es
ost schwer, sich in dem Oewtrr von
Namen zur tzustndew Nur die
Iwenigsten wer n einen wirklichen
Ihumortsten«, einen «modetnen Humo
risten«, einen »Originalhu1noristen«,
einen «selbstoersaßten Dumoristen«
von einander unterscheiden können.
Oder —- um aus das modernste Gent-e
zu tommen —- wer wüßte die Unter
schiede zwischen »Schlas«-, »Tristan«-,
»Nebel'«-, »Sugaestoins«- und »Tum
tionö"-Tönzerin zu nennen?
Zur Illustration dafür, daß es bäu
sig vorkommt, daß man die Artisten
in ihrem Jargon gar nicht versteht, er
«äblt das »Programm« folgende Ge
lizctpichtu
s Vor längeren Jahren war in einer
Jaröszeren Prodinzstadt Preußenö ein
IPolizeiverbot ergangen, daß in kleine
Jren Varietes nicht im Kostiim gearbei
itet werden dürfe. Die angestellten
sArtisten unternabmen es, da die Po
xlizei teine Einsicht haben wollte, eine
jDeputation zu senden. Nach länge
Jtem Warten wurden die drei Deputirs
ten vorgelassen und der erwählteSprei
Hcher derselben begann, als ihn der
Rath mit einem latonischen »Sie
.wiinschen?« dazu aufgefordert hatte,
Tsolgende Rede:
i )
; »Der Regierungsrath, wir sind in
Zeigener Angelegenheit zu Jhnen ge
’tommen. Jch heiße Constantinio
Bambardini und bin Klischnigger,
» mein Kollege ist Herr James D’Entre
conte, arbeitet Lawinensturz und
Trampolin, und ist nebenbei Knau
about, und die Dame ist Fräulein
Bianca Schneider, Kanonenlöniain.«
Weiter tam er nichts der Regie
rungsratb, der schon bei den fremd
llingenden Namen und den Worten
Lawinensturz und Knockabout die
Brauen zusammengezogen hatte, schien
bei dem Worte Kanonentönigin zu
glauben, er müsse es mit einem Ver
rückten zu thun haben, denn er wandte
sich nach seinem Pulte um und sagte:
»Bitte, meine Herren, wenn Sie mir
etwas vorzutragen haben, dann kom
men Sie gesälligst wieder, wenn Sie
nüchtern sind-«
Nun sollen einige Jnserate aus ar
tistischen Fachsbliittern folgen, die ge
wiß nur von den wenigsten unserer
Leser verstanden werden.
sGesucht Dame als Obmonn für
Hand auf hand und Kopf aus Kopf.
Muß einarmig drücken können nnd
frei Kon sicher sein." -
»Flieger mit eigenem Netz für Luft
nunnner verlangi.«
»Bäreniutscher mit Auslandspoß
gesucht.«
»Nun-let Mann, gut komisch, sucht
Anschluß bei Jonalitnummer. Jst per
fett bis zu füns Willen, Kaslade mit
vier Tellern, vier Keulen vorwärts,
drei tückwsri.«
»Leichter Obermann, welcher dot
und rückwärts Solto nach Schulter
drei-U
»Driicke eine-einig- bin out Hund«
aus hand, verstehe eventuell Klischs
nma.«
Diese Auslese tönnte nach Belieben
fortgesetzt werden, aber sie genügt, um
das ArtistemNothwelsch zu kennzeich
nen. Was kann sich der gewöhnliche
Leser auch unter einem »Sprechstoll
meister« vorstellen. Wohl ebensowenig,
wie sich der herr Regierungsratb un
ter einem »Klifchnigaer«, einein
«Knockabout«. einem »Latvinensturz
arbeiter« oder gar einer Ranuncu
iöniain« etwas vorstellen konnte. Ge
linat es doch selbst nicht einmal jedem
Artisten. sein Geschäft so zu beschrei
ben, daß es seinen Kollegen verständ
lich ist. So annoncirte Jemand Hitz
lich, er sei »Gelentpbantast«, ein An
derer nannte sich »Stegreisendenk
tünstler". Daß Jemand aelenlia ist«
kann man ja beareifen, daß er aber
mit den Gelenken phantasirt, lann
man sich schon etwas schwerer vorstel
len, daß ein Künstler aus dem Steg
reif dichtet oder detlamirt, versteht
man, daß aber Jemand sich riihmt,
daß er aus dem Steareii denti?
Sollten das nicht alle Menschen thun?
Wunderbar tlinai auch die schön
gewählte, etw " lange Bezeichnung
»Musik«-Ueber reitl-Niaaer«l Den
Preis für die längste Platatbezeichs
nung in einem Worte verdienen aber
wohl zwei Schwestern, die sich »Mut
meiitekichaitsrollschlittichuhläuserin
nen« nennen.
Aber selbst Genus. die den Artiiten
heute geläufig lind, waren wohl auch
ursprünglich gerade lo unverständliche
Wottiambinationen, zum B «spiel die
Zulammenietzungen »Sch eiieniah
rek«, »Reifenkollee«, ,,Kovsliiuier«,
»Ausbrecheriönig'«, ,,Keulenschwin
ger«, «Kicaelläitser'«, »Rauchmalet«.
»Münzenbeichwörer« und dergleichen
mehr. Das große Publikum wird sich
vielfach auch heute noch nichts bei der
gleichen Bezeichnunaen denken können,
ebensowenig wie es lich ein klares Bild
machen tann, was es zu sehen be
kommt, wenn auf dem Programm oder
den Plalaten von »Pattichen Spie
len«, »antnviick-en Suielen'«, »Ma
labatiiten«, »Petche-Alten«, »Revrii
ienelowns« u. i. w. die Rede ist. Es
iit durchaus nicht zu verwundern,
wenn das Publikum« das von einer
iamolen »Svidentänzerin« erfährt. an
Svißenileidey Kostiime mit Spitzen
belat denkt. anstatt an die Zehensvihen
der Attiiiin.
Aber Dttbvaroviiie und lattee
Stil sind nicht Alles. Und geräde die
unoeioarapbischen Aettsten sind et,
die dvtch ihre Leistungen den Man ei
jeglicher Intelligenz dem große- « g
lituns ver-eilen matten