Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, January 06, 1905, Sweiter Theil., Image 9

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    Yeöraska
ItaUtIsZtUnger UUU THUUUW
J. P. Windolph, Herausgeber. Grund Island. Nebr« (;. Januar 1905 Hweitcr Tlieil.) Jahrgang 25 No 19.
Krieg- und kinienschiff
Fehden der Fachleute, Interesse des
Laien. Das englische Programm.
Lehren des gegenwärtigen
Krieges.
ein»Jahr vergeht, ohne daß die
fuhr-enden Geister in den
« Kriegsmarinen sich mit neunt
tigen Problemen zu beschäftian ha
ben. Eine Fehde zwischen den An
sichten der Fachleute folgt der anderen:
bald handelt es sich um eine neue Kes
selart oder die Turdinenmaschine, bald
um das Kaliber der Geschütze oder
eine oeränderte Anbringung des Pan
rschn es, dann wieder um die Schaf
ung e neö Kreuzertyps von extremer
Geschwindigkeit So wichtig nun alle
diese und ungezählte ähnliche, in je
dem Jahr neu auftretenden Punkte für
die Entwicklung der Kriegsmarine
und die Vervollkomninunq der einzel
nen Schiffstypen sind, so läßt sich doch
keiner unter ihnen an prinzipieller Be
deutung mit der sehr viel älteren
Streitfrage vergleichen: »Ok) das Li
nienschiff nach wie vor den Kern der
Flotten und Geschwader bilden soll,
oder ob es nicht durch andere, minder
kostspielige und schwerfällige Typen
ersetzt werden tann.«
Fiir dieses Thema pflegt auch der
Laie, der sich auf den übrigen strittigen
Gebieten einer vorsichtigen Zurückhal
tung des Urtheils befleißigt, das aller-s
lebhafteste Interesse an den Tag zu
legen, und zwar aus dem naheliegen
den Grund, weil an ihr sein Geldwe
tel aus das unmittelbarste betheiligt
ist. Ein Linienschiff kostet heutzutage
an 7 Millionen Dollarc3, bedeutend
mehr als jedes andere Krieagschifi.
und da ist es selbstvexständlich daß
dck Pattlollsmsle Steuerzahler
gern wissen möchte, ob es denn durch
aus nicht möglich ser, mit billigeren
Schiffstypen den Aufgaben des See
triegs gerecht zu werden. Um so be
rechtigter erscheint dieser Wissensdursi,
da bekanntlich bei den Franzosen eine
Reihe von angesehenen Fachleuten den
Kampf gegen »die Mastodonten des
Meeres« schon seit Jahrzehnten mit
hartnäckiger Heftialeit und zeitweilig
nicht ohne Erfolg bei ihren Landsleu
ten betreibt. Die Anhänger der jesunc
ecolc stellen der Konzentration der
Kraft. wie sie das Linienschiff in höch
ster Potenz darstellt, das Prinzip der
»Geschwindigleit und Schissszahl« ge
genüber; der Umstand, daß sie sich da
mit in einen ausgeprägten Gegensatz
u den Lehren der Seelriegsgeschichte
fowie zu den Anschauungen der füh
renden Seemachi, England, stellen, hat
nicht verhindert, daß sie zahlreiche An
hänger für ihre Ideen gesunden haben,
die momentan unter dem Ministerium
Pelletan sogar von beherrschendem
Einfluss auf die Schiffbaupolitil
Frankreichs geworden zu sein scheinen.
Auch in Italien besteht zur Ideit die
Neigung, bei den LinienMiisfen auf
Offensiv- und Defensivkrast bis zu ei
nem gewissen Grad zu verzichten zu
Gunsten einer größeren Geschwindig
teit und eines größeren Attionsra
dius, während man in Deutschland, in
den Vereinigten Staaten von Ame
rika, in Ruleand und Japan sich offi
ziell zu dem englischen Programm be
iennt. Nur vereinzelte Stimmen wer
den in diesen Ländern gelegentlich da
gegen laut, darunter kaum eine einzige
von Seeossizieren, die in der Lage ge
wesen wären, sich durch eigene An
schauung ein zutreffendes Bild von
der rapiden Entwicklung der taltischen
steen in den Manövern und Gesichts
ühungen der letzten Jahre zu machen.
Immerhin ist es für jedermann von
höchstem Interesse, die Ereignisse des
gegenwärtigen Seeiriegs daraufhin
zu untersuchen, inwieweit sie die Rich
tigkeit der bei uns vorherrschenden
Ansicht von der überragenden Bedeu
tung des Linienschifss für den Aus
gang eines Kampfes um die Seeherr
schaft bestätigen oder nicht, und bei
einer solchen Betrachtung tritt uns
denn sogleich die Thatsache mit brei
ter Deutlichkeit entgegen, daß die ja
panische Flotte, auf deren Schultern
die ganze Verantwortung für die Auf
nahme und Durchführung der Offen
sive lastet, auch nicht einen Moment
einenZwetfel darüber hat aufkommen
lassen, daß in ihren Augen das Schick
sal des Krieges als von dem Schicksal
der Linienschiffe abhängig angesehen
wird. «
Jn dem schon seit 1898 dauernden
Wettlauf mit Nußland um die Ge
winnung des maritimen Uebergewichts !
wählte das Jnselreich den Augenblick s
zum Losschlagem in dem das bis- T
lserige Gleichgewicht in Bezug auf die »
Linienschiffe sich zu seinen Ungunsten J
zu verschieben im Begriff stand. Ja- »
pan griff zuerst zum Schwert, aber
nicht Wladiwostol, dem reichen, da
mals noch ungenügend geschützten
Handelsplatz, dessen Ueberrumpelung
riesige Beute einzudringen versprach,
galt sein erster Schlag, sondern die
denltvürdige Nacht vom R. zum 9. Fe
bruar sah die auf der Aufzenreede von
Port Arthur liegenden Linienschiffe
dem wilden Austurm der japanischen
Torpedoboote ausgesetzt. Da das Er
gebniß des Ueberfalls nur unvolllom
men, nämlich nicht die Aufhebung,
sondern nur die Schwächung der
Krampflrast des russischen Geschma
derö war, so begann von diesem Mo
ment an die Reihe jener Unterneh
mungen gegen Port Arthur, deren
ssiel zunächst keineswegs die Ein
nahme der Festung, sondern aus
schließlich die vollständige Lahmlegung
des gegnerischen Gros war. Peschie
ßungen durch direktes und indirektes
Feuer, Torpedobootsangriffe, Ausle
gen von Streuminen und Versenken
von Schissen vor der Haseneinsahrt,
also alle nur erdenklichen Mittel wer
den angewendet, um dieses Ziel zu er
reichen. Während der ganzen Periode,
in der es noch nicht erreicht ist, solange
die Gefahr eines Ausfalls der raffi
schen Linienschisse die Verbindung
zwischen Japan und dem festländi
schen Kriegsschauplay bedroht, ver
harrt die vor Kampfesungeduld zit
ternde japanische Armee mit Gewehr
bei Fuß in den heimatlichen Häscnz
nur drei Divisionen werden nachKorea
hinübergeschasft, bis endlich am 37
Mai die langer-sehnte Kunde in Tolio
eintrifft: »Die Hafeneinfahrt von
Port Arthur ist gesperrt, die Linien
schisfe können den Hafen nicht mehr
verlassen!«
Mit einem Schlag bekommt jetzt der
Krieg ein anderes Gesicht; in rascher
Folge wird eine zweite, eine dritte
Armee nach dem Festland hinüberge
worsen, aber das Ziel ihrer ersten
Operationen ist nicht die nahe Haupt
macht Kuropatiins, sondern das
räumlich entfernte, siir die Durchfüh
runa des Landlriegs belanglose Port
Arthur, um durch dessen Einschlie
ßung und Beschießung von der Land
seite dar- Wert der Bernichtung der
russischen Linienschisse zu vollenden.
Wenn irgend noch ein Zweifel darüber
herrschen könnte, ob die Japaner hier- s
in oder in der Besiegnng der feind- s
lichen Heere und der Uroverung wei
teren Landgebietes den Schwerpunkt »
der Kriegfiihrung sehen, so ist er end
gültig gelöst durch die bekannte erstel
Aufforderung zur Kapitulation an
General ctössel, in der den Truppen l
freier Abzug zur Vereinigung mit den ;
Kameraden im Norden, angeboten,
dagegen die bedingungslose Uebergabe J
der im Hasen liegenden Schiffe ver-?
langt wurde. ,
Bir- zum heutigen Tag ist gegen die
zu Wladitoostol gehörenden russischen
Panzerlreuzer nur eine verhältniß
mäßig schwache Schiffsdivision zur
Beobachtung und Absperrung der
Straße von Korea entsendet und auch
dann nicht verstärkt worden, als diese
Kreuzer die in Japan sehr schmerzlich
empfundene Strasfahrt bis vor den
Hafen von Yokohama untermmmen
hatten. Die seestrategische Auffassung
der Japaner liegt also klar vor unsern
Augen, und eine einzige Abweichung
von ihr könnte nur darin gefunden
werden, daß sie bei dem mißgliictten
Ausfall der russischen Flotte aus Port
Arthur am 10. August nicht die Gele
genheit benutzt haben, um ihren Geg
nern auf den Leib zu rücken und ihnen
den Garaus zu machen, sondern sich
nur auf ein Ferngefecht einließen. Bei
der Beurtheilung des scheinbar über
vorsichtigen Verhaltens der Japaner
wird man indessen nicht übersehen
dürfen, daß der Erfolg ihnen recht ge
geben hat: sie haben die Gegner richtig
eingeschätzt, indem die Mehrzahl der
russischen Linienschiffe die Mausefalle
von Port Arthur von neuem wieder
ausgesucht hat. Wer weiß, ob im ent
gegengesetzten Fall Admiral Togo
nicht dennoch sogleich oder später zum
entscheidenden Nahkampf übergegan
gen wäre, sofern er es nicht seinen
zahlreichen Torpedobooten überlassen
wollte, die des Schutzes der leichten
Schiffe entbehrenden russischen Li
nienschtffe während der mehrtägigen
Fahrt nach Wladitvoftok abzuschießen.
Die Zurückhaltung des japanischen
Admirale in diesem Fall ist also
durchaus leine Widerlegung unserer
vorherigen Behauptung, sondern eher
eine Bestätigung, denn sie entsprang
ossensichtig allein der zwingenden
Notwendigkeit, die japanischen Linien
schisse so sparsam wie nur irgend
möglich einzusetzen, damit sie für den
Fall des Eintresfens der baltischen
Estadre in Ostasien dieser entgegen
treten können. Und warum wird diese
als eine ernste Drohung angesehen?
Doch lediglich deshalb, weil sie der
Hauptsache nach aus modernen Li
nienschisfen besteht. Wenn statt der
letzteren selbst die doppelte Anzahl von
Pauzertreuzern die« Auskeise angene
ten hätte, so würde das den Japanern
nur geringe Sorge bereiten, denn ihre
Linienschiffe, die jetzt vor Port Arthur
liegen und später vor Wladitvostot
liegen werden, können nur wieder
durch Linienschisfe von diesem Posten
vertrieben werden
Und hiermit sind wir bei dem Kern
puntt der Frage angelangt. Von der
Seeherrschaft über die Gewässer von
Niutschivang und Takt Arthur bis
hinaus nach Wladiwostol und Sache
ltn hängt für Japan wie siir Rußland
der Erfolg in dem Kampf um Port
Arthur und Korea ganz allein ab.
Wenn nun der Kampf um diese See
herrschaft auf dem weiten, freien
Meer entschieden würde, so wären al
lerdings Schiffe von großer Gesichts
lraft ziemlich überflüssig, und Kreu
zer von großer Geschwindigkeit und
Seeausdauer würden die Hauptrolle
im Seetrieg spielen. Beim Zusam
mentreffen mit den stärkeren Linien
schiffen würden sie einfach dem Kampf
ausweichen und einen andern Meeres
theil aufsuchen, wohin jene ihnen nicht
so leicht folgen könnten.
Jn Wirklichkeit liegen aber die
Dinge ganz anders, und dies pflegen
die Widersacher der Linienschiffe meist
zu übersehen: da nämlich die Schiffe
nicht dauernd die hohe See hatten
können, sondern immer wieder von
Zeit zu Zeit ihre Häfen auffuchen
müssen, so ergibt sich hieraus von
selbst und ist auch durch die Lehren
der Seetriegsgeschichte hundertfach be
stätigt, daß die Zufahrtsstraßen und
die Eingänge zu den Häfen des
Schwächeren zur See die Brennpunkte
fiir die Entscheidung im Seekrieg dar
stellen.
Jn ihrer Nähe stellt der Stärkere
seine Flotten auf, um dem Gegner den
Eintritt in das weitere umstrittene
Meeresgebiet zu verwehren oder ihm
den Rückweg von dort abzuschneiden,
und da hier die räumliche Beschränkt
heit der zu überwachenden Fläche und
die mehr oder minder bestimmt vorge
schriebene Anmarschrichtung denWerth
auch einer bedeutend überlegenen Ge
schwindigkeit des Feindes erheblich
heravsetzen, so wird dieser fruher ooer
später zum Kampf gezwungen werden.
Seine Niederlage ist besiegelt, wenn er
den Linienschiffen des Gegners keine
gleich tampfstarken Schiffsthpen ent
gegenstellen kann. Das Linienfchiff
hat eben eine zahlreichere und schwe
rere Artillerie und einen vollständige
ren und stärkeren Panzerschutz als der
modernsie Panzerlreuzer, es wird ihn
deshalb mit mathematischer Gewiß
heit in Grund und-Boden schießen,
wenn dieser seine überlegeneGeschwin
digleit nicht ausnutzen tann.«,
Die Kreuzerdivision von Wladiwo
stok hat somit ganz richtig gehandelt,
wenn sie bisher jeden Versuch unter
lassen hat, sich Port Arthur zu nä
hern; um so mehr aber drängt sich die
Frage auf, weshalb die russischen Li
nienschisfe in Port Arthnr sich so we
nig gerührt haben. Wenn sie, die den
Hasen mit seinen Reparaturmöglich
leiten und srohlenvorräthen in schü
tzender Nähe hinter sich wußten, nur
zwei-: oder dreimal in jeder Woche in
Schlachtordnung aus-gelaufen wären,
so würde dadurch die Ausgabe des
Blockadegeschwaders in ganz unüber
sehbarein Maß erschwert worden sein.
an der andauernden, unbestimmten
Erwartung eines ernstlichen Vorsto
ßes seitens der Belagerten hätten die
japanischen Linienschifse ihre Kessel
und Maschinen derartig strapaziren
müssen, daß sie heute zum großen
Theil nicht mehr voll gebrauche-fähig
»wären, von der aufreibenderen Thä
J tigkeit der Schiffsbesatzungen ganz zu
z schweigen.
; Jndem die russischen Admirale aus
I Furcht vor der Minengesahr oder aus
s andern unbekannten Gründen ihre
J Linienschifse nicht im Sinn einer
s thatlräftigen Offensive in der Verthei
s digung verwendeten, haben sie dem
Gegner verhältnißmäßig leichtesSpiel
gelassen; aus keinen Fall aber darf
man ihre schwer zu begreifende Unthä
tigkeit als einen Beweis dafür anse
hen, daß die Linienschifse nicht die
s Träger der Entscheidung im Seekrieg
s sind. Wer sich nach dem Vorstehenden
s hierüber etwa noch im Zweifel befin
den sollte, möge sieh die Frage vorle
gen: wie wäre wohl der gegenwärtige
Krieg verlaufen, wenn nur die Rus
sen, aber nicht die Japaner Linien
schiffe besäfzent Er wird sich sagen
» müssen, daß in diesem Fall die russi
schen Schiffe heute wahrscheinlich vor
Yokohama und in der Straße von
Korea lägen, und daß die auf irgend
L eine Weise nach dem Festland hinüber
geschafsten japanischen Truppen wegen
sder Unsicherheit oder vielmehr der
sUnmöglichkeit eines geregelten Nach
! fchubs schon längst von der russischen
»Uebermacht -in Korea erdrückt wären.
So zeigt uns der ostasiatische Krieg
auf das deutlichste, daß die Linien
schisssgeschwader unter allen Umstän
den den Kern jeder Flotte ausmachen
müssen. —- Kapitän zuriSee a. D. von
Pustau.
W-—
Commis: »Ich bitte um eine kleine
Gehaltserhöhung.«
Chef: ,,Unmöglich — das heißt:
Sie wissen doch, daß Zeit Geld ist?«
Commis: ,,Ja.«
Chef: »Dann dürfen· Sie also in
Zukunft eine Stunde länger atbeitenl«
Jn der Blindenweit.
Die nichtsehenden Kleinen. Schule
und Berufsarten.· Glück und
Unglück der Blindenehen.
Lebenskämpfe.
er bekannte Grundsatz, daß der
im Kind liegende Thätigkeits
drang schon im Vorschulpslich
iigen Lebensalter befriedigt und im
planvollen Spiel der Entwicklung sei
ner geistigen und körperlichen Kräfte
dienstbar gemacht werden müsse, sollte
vor allem Anwendung finden auf die
nichtschenden Kleinen. Sie besonders
wenn sie sonst normal Veranlagt sind,
hungern nach Beschäftigung, weil
ihnen die sichtbare Welt, die dem
gieichaltrigen, vollsinnigen Kind tau
send bunte Bilder und Eindrücke auf
drängt, verschlossen ist. Den engen
Kreis der nächsten Umgebung haben
die lauschenden Ohren und tastenden
Finger nur zu bald durchforscht, zu
mal den Fingern, weil sie im Gegen
satz zu den aus der Ferne erlennenden
Augen auf ihren Entdeckung-steifen
leicht allerhand Schaden und Verwir
rung anrichten können, oft genug ein
gebieterisches Halt zugerufen zu wer
den pflegt. Die Welt außer dem Haus
aber, die das« blinde Kind wiederum
nicht nach Herzenslust ergründen darf,
weil es es sie fast nur an des Führers
Hand betreten muß, bietet ihm fiir ge
wöhnlich nicht viel mehr als ein bun
tes Gemisch schwer entwirrbarer Ge
hörseinpsindungem die zwar seine
Phantasie anregen, feinen Erkennt
niß- und Thätigkeitstrieb jedoch nur
ungenügend befriedigen.
Jch selbst, die seit ihrem dritten
Lebensjahr erblindete Schreiberin
dieser Zeilen, kann darüber aus eige
ner Erfahrung berichten. Obwohl ich
das Glück hatte, in einer Umgebung
amzuwachsem die mir die Außenwelt
nach Möglichkeit aufzuschließen suchte,
entsinne ich mich doch, mit vier und
fünf Jahren oft höchst unglücklich ge
wesen zu sein, weil ich nicht wußte,
wag mit mir anfangen. Hätte ich
nicht einen klugen Hund besessen, der
mich zerstreute und als treuer Spiel
gefährte bei mir"augharrte, wenn die
zweibeinigen Gefährten davonlieer
oder mich neckten, ich müßte jene Zeit,
die den meisten Menschen die glück
lichste, unberührteste bedeutet, als die
trübseligfte meines Lebens bezeichnen.
Um nun ein VorschulpflichtigeH
blindes Kind vor schlimmen Erfah
rungen zu bewahren, sollte man da
rauf bedacht sein, seinen Geist und
seine Hände nach Kräften zu beschäf
tigen, es zu möglichster Selbstbedie
thing zu gewöhnen und, wo es irgend
angeht, die kleinen Finger durch Frö
vels Spiel- und Beschäftigungsme
tbode zu üben. Diese ist es nun auch,
durch die man heutzutage in jeder gut
organisirten Blindenanstalt die Hand
geschicklichkeit der neu eintretenden
slleinen zu entwickeln versucht. Das
geschieht in der Regel in einer Art
Vorschulabtheilung, an die sich dann
der eigentliche Unterricht angliedert.
Dieser hat so ziemlich alle Elementar
fächer für den blinden Schüler
erobert, manche freilich, z. B. Physik,
nur in sehr beschränktem Maß und
unter Anwendung eigens ersonnener,
zweckvoller Einrichtungen. Zweckvoll
vor allem ist die mit den Fingerspitzen
taststabre Punktschrift. Ein normal
veranlagtes blindes Kind lernt diese
einfachen, aus höchstens sechs Punkten
bestehenden Schriftzeichen verhältniß
mäßig sehr rasch lesen und schreiben,
und dank der unausgesetzten Bemüh
ungen der verschiedenen Blindenan
stalten ist es jetzt auch gelungen, ge
nügendes Material an Unterricht-Wü
chern für die einzelnen Altersstufen
zu beschaffen.
Die Zeit, während der sich ver
Blinde die Elementaraugbildung an
eignet, ist in der Regel wohl die har
Inonischfte seines Lebens-. Im Kreis
gleichstrebender Schicksals-genossen, in
einer Umgebung, die völlig auf feinen
Zustand berechnet ist, vergißt er ganz,
daß es da draußen noch eine Welt des
Sehens und der Sehenden gibt, die
mannigfaltiger, leistungsfähiger ist
als die seine. Daher ist es eine durch
Aus irrige Vorstellung, der man aber
noch oft genug begegnen kann, daß in
einer Blindenanftalt alles von friih
bis Abend auf Moll gestimmt fein
müsse, daf-, hier Frohsinn und kindliche
Ausgelassenheii keine Stätte finden
könnten.
Die Blindenfchulen haben die Auf
gabe, nicht nur für die Erziehung und
den Unterricht, sondern auch für die
gewerbliche Ausbildung ihrer Zög
linge zu sorgen. Die Handwerke, die
in Betracht kommen, sind Klavierftim
men, Korbmacherei. Seilerei, Bürsten
macherei und Rohrstuhlflechten; in den
letzten beiden Fächern pflegen behufs
späteren Broterwerbs meist auch die
weiblichen Nichtsehenden unterwiesen
zu werden. Ferner ist man neuerdings
«mit Erfolg bensiiht gewesen, blinde
Masseure und Masseurinnen auszu
bilden.
Es ist-Prinzip, nur jene Berufsw
ten in den Lehrplan der Anstalten
aufzunehmen, die von den Lichtlosen
mit möglichster Selbständigkeit ausge
übt werden können.
Was diese Selbständigkeit dem
Blinden wesentlich erschwert, ist, daß
nicht nur er der Welt, sondern die
Welt auch ihm völlig fremd gegen
übersteht. Bei dem Nichtsehenden
tritt dabei eins recht verschärfend hin
zu: meist in einem Institut, also
»außerhalb seiner Familie erzogen,
? wird er, wenn er nach erlangter Aus
« bildung wieder nach Haus zurückkehrt,
sich in seinem ganzen Empfinden oft
weit von dem der Seinigen entfernt
fühlen. Jn engen Verhältnissen wird
er, der während seiner Schulzeit einen
besseren Ton kennen lernte, zuweilen
seelisch schwer leiden, namentlich wenn
er, was in der Regel nicht ausbleibt,
aus gewisse Hilfeleistungen und Gefäl
ligkeiten seiner Umgebung angewiesen
ist. Aber auch der aus reichem Haus
stammende Blinde ist nicht selten ein
Fremdling unter den Seinen. Die in
guten Kreisen vielfach herrschende
Scheu, Irgendwie aufzufallen oder
Mitleid zu erregen, führt leicht dazu,
daß das blinde Familienmitglied
möglichst im Hintergrund gehalten
wird. Eltern und Geschwister vermei
den z. B. thunlichst, sich mit ihm auf
der Straße sehen zu lassen, und süh
ren dadurch eine seinem Charakter
eben nicht immer zuträgliche Isoli
rung herbei.
Um das Verhältniß des Nichtsehen
den zur Familie, das hier einmal of
fen berührt werden soll, zu kennzeich
nen, mag seine Stellung zur Ehe
charakterisirt werden. Das; er aus
den verschiedensten Gründen bedeu
tend seltener als der Bollsinnige dazu
gelangt, einen eigenen Herd zu grün
den, liegt tlar auf der Hand, dennoch
haben in neuester Zeit innerhalb der
Blindenwelt die Eheschließungen ent
schieden zugenommen.
Verhältniszmäßig am wenigsten
einwandfrei. besonders wenn die ma
terielle Seite geordnet ist, sind jene
Ehen, die zwischen nichtsehendenMän
nern und oollsinnigen Frauen einge
gangen werden. Das sehende Mäd
chen, das einem blinden Mann die
Hand fürs Leben reicht, muß über
eine gewisse Selbstlosigteit und Reife
des Charakters Verfügen. Man tann
darum die Beobachtung machen, daß
in derartigen Eben der weibliche Theil
oft älter ist als der männliche. Na
mentlich für Blinde, die sich einem
wissenschaftlichen oder künstlerischen
Beruf widmen, sind solch hingebungs
volle, mit Feingefühl und gesundem
Verstand ausgerüstete Frauen schon
oft ein großer Segen geworden.
Ferner kommen Berheirathungen
vor, wo der eine Theil blind, der an
dere schwachsehend ist, oder es werden
auch Ehen zwischen zwei vollständig
Nichtsehenden geschlossen. Von rein
menschlichem Standpunkt aus ist das
durchaus begreiflich. Durch ähnliches
oder gleiches Schicksal, oft noch durch
gemeinsame Jugenderinnerungen süh
len sich derartige Menschen zueinander
hingezogen.
Dazu mag häufig die instinktive,
Befürchtung treten, den Hafen der
Ehe sonst wohl ganz zu verfehlen, und
so wird der verhängnißvolle Schritt
gewagt, der in vielen Fällen aus
praktischen Gründen besser nicht ge
than werden sollte.
Die Existenzfrage ist es, an der nur
zu leicht das Glück der Blindenehen
scheitert; die solcher Ehe entstammen
den Kinder sind in der Regel sehend,
denn die Blindheit pflegt nur dann
fortzuerbem wenn sie bereits den El
Iern angeboren war, nicht aber, wenn
sie von ihnen erst im späteren Leben
erworben wurde. Den geringsten
Prozentsatz der Blindenehen bildet
eine Verbindung zwischen einem se
henden Mann und einem blinden
Mädchen
Wie oben gesagt, wird dein Nicht
sehenden der Lebenslainpf oft dadurch
sehr erschwert, daß die Menschen, mit
denen er zu thun hat, häufig nicht
wissen, wie sie ihm begegnen, wofiir sie
ihn Und seine Leistungen nehmen sol
len.
So erkundigte sich beispielsweise
einst eine Dame, als sie mich zum
Sofa geführt hatte, im Ton ernstefter
Besorgniß, ob ich auch bestimmt nicht
herunterfallen würde, oder ob sie mich
lieber festhalten solle. Andere Fra
gen, wie die, ob der Blinde wirklich
imstande fei, sich selbständig an- Und
auszukleidem sich mit irgendetwas
Nützlichem zu beschäftigen, sind so all
W
täglich, daß man schon gar nicht mehr
darüber erstaunt, sondern sich eher
wundert, wenn sie einmal ganz ans
bleiben.
Ein weiterer Umstand,X der ,.-dazu
beträgt, das Urtheil über den Blinden
zu trüben,-ist der, daß viele Vollsin
nige geneigt sind, von einem Nicht
sehenden, den sie zufällig kennen lern
»ten, unbedingt auf alle andern zu
schließen. War dieser eine nun un
glücklicherweise schwachsmnig, so hal
ten sie unwillkürlich jeden dafür; war
er nach irgend einer Richtung hin un
gewöhnlich begabt, so ist man höchlich
erstaunt, wenn seine Schicksalsgenos
sen es nicht in gleichem Maß sind.
Jn dankenswerthester Weise suchen
die Anstalten dem blinden Handwer
ker die mannigfachen Schwierigkeiten
dadurch zu erleichtern, dadß sie für den
Vertrieb seiner Arbeiten Sorge tra
gen, also gleichsam die Vermittlung
zwischen ihm und dem laufenden Pu
blium übernehmen. Jn verschiedenen
größeren Städten Deutschlands sind
zudiesem Zweck Werkstätten und Ver
kaufsftellen errichtet, wo der einzelne
Arbeit und Arbeitsmaterial findet.
Doch gelingt es auch vielen blinden
.Handwerkern, sich selbstständig einen
Kundenkreis zu verschaffen und ihn
durch eatte Bedienung festzuhalten.
Auf dem Gebiet der Kunst ist es fast
ausschließlich die Musik, die bier in
Frage kommt. Bei der großen Liebe
zur Musik, die in den Reihen Nicht
sehender herrscht, ist es begreiflich, daß
jene, die ein großes Talent in sich füh
len oder zu fühlen glauben, deannsch
hegen, sich kiinstlerifch auszubilden und
mit ihrem Können an die Oeffentlich
leit zu treten.
Jst dieser Weg schon unter norma
len Verhältnissen öfter eher ein Dor
nen- als ein Triumphweg, so ist er
fur den feinfühligen Nichtsehenden vol
lends in der Regel mit de mannig
fachsten Enttäuschungen Erniedri
gungen verbunden. Au ier sind wie
der die am glücklichsten, denen es ge
lingt, eine feste Anstellung, z. B. als
Organisten, zu erhalten, oder noch bes
ser, denen es vergönnt ist, die Musik
nur als hole Freundin, als schönen
Schmuck ihres Lebens zu betrachten.
Es muß nun noch die Frage erörtert
werden, ob nnd inwieweit den Blinden
die wissenschaftliche Laufbahn offen
steht. Die Ausbildung auf diesem Ge
biet ist für den des Augenlichtes Be
raubten mit wesentlichen Hindernissen
verknüpft, und was das wissenschaft
liche Studium Lichtloser besonders er
schwert und vertbeuert, ist die That
sache, daß fast noch keine Lehrbiicher
und wissenschaftliche Werke in der
Punktschrift im Druck erschienen sind.
Der studirende Blinde muß also viel
Geld für Vorlesen ausgeben und sich
eine erschreckende Anzahl von Büchern
in sein Punltshstetn handschriftlich
übertragen lassen.
Wenn dennoch all diese Schwierig
keiten sowohl von bemittelten wie un
bemittelten Nichtsehenden mehr als
einmal überwunden worden sind, so
zeigt dies, über welche Energie, über
welche Liebe zur « Sache sie verfügen
müssen.
Leider nur genügen diese anerken
nenswerthen Faktoren meist nicht, das
mühsam Erlernte praktisch zu verwer
then. Meines Wissen-:- ist es in
Deutschland noch keinem wissenschaft
lich geblideten Nichtsehenden gelungen,
eine angemessene feste Anstellung zu
erhalten. Jene Blinden, die darauf
angewiesen sind, ihre wissenschaftlichen
Kenntnisse in Erwerb umzusetzen, ha
ben dies bisher immer noch am besten
vrmocht, indem sie als Schriftsteller
thätig waren, Vorträge hielten oder
Privatstunden ertheilen
Noch sind die meisten geneigt, das
Hauptunglück des Blinden darin zu
erblicken, daß es ihm versagt ist, die
vielen Herrlichkeiten der Welt durch
den Gesichtssinn wahrzunehmen. Sie
empfinden unbewußt im Sinn jener
ergreifenden Klage, die Schiller im
»Tell« seinem Melchthal in den Mund
legt:
»L, eine edle Hitnmelsgabe ist
Tag- Licht des Auge-J --—— Alle Wesen leben
Vom Lichte, jedes glückliche Geschöpf —
Tie Pflanze selbst kehrt freudig sich zum
Lichte. —--- —— —
Sterben ist nichts —- doch leben nnd nicht
selten
Das- isr ein lingliickIY «
Nun, dieses Todtsein fiir das
,,Gd·ttlichfte«, dieer Aus-geschlossen
sein vom Licht ist nicht das Schwerste
im Leben des von Jugend auf Blin
den; für manches aus dieser glänzen
den Licht- und Farbenwelt da drau
ßen schafft er sich mit Hilfe feiner ge
sunden Sinne Surrogatvorftellungen
nach anderm ergreift ihn wohl gele
gentlich eine leife, aber bald wieder
verschwebende Sehnsucht, wie man sie
etwa nach Märchenwundern empfin
det. Er wird also die Welt des Lich
tes und der Farben wenig entbehren,
weil er sie nie besessen hat. Dagegen
werden sich ihm sein ganzes Leben
hindurch die Konsequenzen, die-Hemm
nissse schmerzlich fühlbar machen, die
sich aus seinem Nichtsehen ergeben: es
wird ihm schwerer als andern gelin
gen, Fuß zu fassen im biirgerlichen
Leben, weil ihm eine beschränkte An
zahl von Berufsarten und darunter
nicht eben die lohnendsten offen stehen,
weil er manche davon nur mit Hilfe
fremder Augen ausführen kann, weil
er, mit einem Wort, stets mehr oder
minder abhängig bleibt von seinen
fehenden Mitmenschen. Hier also liegt
der Punkt, an dem jene einsetzen müs
sen. denen es ernstlich darum zu thun
ist, das Los der Blindenwelt zu er
leichtern. Anna Pötfch.