Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, December 09, 1904, Zweiter Theil, Image 9

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    Unser-en Söhnen.
Wenn trii auch die Wellen branden
An einen illen, öden Strand,
Das schön e doch von allen Landen
Jst das geliebte Vaterland.
Ob du aus hätten aus Palästen
Dich wendest in die Welt hinaus,
Von allen Häusern doch am besten
Jst das geliebte Vaterhaus.
Und sehnst du dich im Jugendseuer
Dass Liebe trag’ dich himmelwärts,
Du findest nie ein Herz, das treuer,
Als das geliebte Vaterherz.
Jhr siebtingssohm
Stizze von Frieda Schanz.
»Mein bester Sohn! Mein bestes
Kind!«
Wie strahlten die thränentriiben
Augen der alten Frau in Wehmuths
glück. wenn sie so sprach!
Es war der Jüngste ihrer drei Jun
gen, der schon seit langer Zeit weit
entfernte, den sie so rühmte. Als Elf
jähriger war er nach ihrer brutalen
Mißhandlung seines trunkenen Vaters
aus und davon gegangen; des Vaters
Bruder, der Heizer war aus einem
Auswandererschisi, hatte ihn mit in
die serne Welt genommen.
Nicht müde wurde die alte Flickerin
zu erzählen, wie der Junge vor dem
Weggehen, von dem teiner etwas ge
ahnt, um sie herum geschlichen;’ aus
dem Schlaf erwachend habe sie ihn
schluchzen hören, und früh sei er ihr
nachgelaufen, als sie aus Arbeit ging,
udn habe dann-nicht gewußt was er
sagen sour, auser: »Du, Mutter —"
ach Mutter-—!««
Und dabei habe er sie geküßt·
Den Zettel, auf dem er ihr Lebe
wohl gesagt, hob sie sich wie ein Heilig
thum auf. Er wollte etwas Qrdentli
ches werden und später wiederkommen
und ihr aus aller Noth helfen, ver
sprach er darin
Das war nun zwanzig Jahre her·
Aber an die Einlösung dieses Verspre
« chens glaubte sie fest. Der ferne Sohn
hatte ihr wenig geschrieben in der lan
gen Zeit. Ein paar Karten, ein paar
bunte Neujahrsgriißr. Ja, wenig nur!
Aber es war alles so gut, was er
schrieb. Jhr armes Herz konnte sich
satt trinken daran. Und wie hatte es
sich vollgefogen an dem Gedanken, daß
da in weiter Ferne Einer sei, der sie
lieb habe, der gut mit ihr sei. Der
Muttersohn, der Herzenssohm war ihr
dieser Eine, der Trost über all das
große, schwere Mutterleidt
Sie hatte ihre Kinder so gern brav
erziehen wollen, die arme Frau, und
hatte so großen Kummer an ihnen er
lebt· Sie waren nicht gut zu ihr,
keines der drei, an keinem hatte sie
Freude erlebt, auf keines konnte sie
stolz sein. Ungeweinte Thriinen erstick
ten ihr immer fast die Stimme, wenn
sie von ihren Kindern sprach. Sie
hatte alles fiir sie gethan, hatte auf
geathmet nach ihres rohen. arbeits
scheuen Mannes Tod« weil sie meinte,
nun könne sie durch ihrer Hände Ar
beit die Kinder zu braven Menschen
erziehen ohne Zank und Streit, ohne
schlechtes Vorbild. Sie waren alle drei
noch klein« als der Vater starb, die bei
den Jungen, die ihr geblieben nachdem
der Anton ins Weite gegangen und ihr
kleines Mädel, das hübsche Ding·
Wie hat sie gearbeitet —- in unserem
Haus nud in vielen anderen, als rech
tes Faltotum mit der Nabel und am
Kochherd, mit der Scheuerbiirste und
dem Bügeleisent Frau Witte, das war
die Hülfe in allen Röthent Und sie
machte alles möglich. Als die Kinder
klein waren, lief sie sich fast die Füße
wund zwischen den fremden Häusern
und ihrem Inhaqu niemals haben die
Kinder Noth gelitten, sie waren sauber
und satt, so oft man sie sah.
Aber sie hatte es schwer mit ihnen.
Manchen Seufzer totteten sieihr schon
in jungen Jahren. Der eine ihrer
Jungen war ein unverbesserllcher He
rumtreiber; er schwönzie die Schule;
er log; bei einem Diebstahl in einem
Delikatessengeschäft haben sie ihn dann
einmal erwischt. Von da an war er
gebrandmartt vor den anderen. Wie
sie für ihn gezittert hat und um ihn
get-anat, ryn ermahnt. ihn angetteyn
—er schien zum Taugenichts geboren!
Das Mutterherz zuckte und blutete,
wenn die Rede auf ihn tam. Es waren
ern paar dunkle Puntte in seinem Le
ben, an die sie schaudernd dachte. Zu
letzt arbeitete er in einer Fabrit; «- —
aber er hatte des Vaters Neigung
zum Trunk geerbt; sie zitterte, wenn
fein Schritt auf der Treppe ihrer klei
nen sauberen Armenwohnung hörbar
ward.
Vor dem Kommen des Zweiten zit
terte sie nicht, er kam nicht zu ihr. Er
schämte sich der armen Mutter, hatte
ein Mädchen mit Geld geheirathet,
hatte ein tleines Weingeschöst in einem
seinen StadttbeiL sparte und schaffte
und tam vorwärts unter Drangen und
Sorgen und Klagen; siir die Mutter
wenigstens hatte er nur Klagen. wenn
die alte Frau ihm je einmal in den
Weg tarn oder er ihr. Von tiefer
Kränkung war das Herz der Armen
voll nach jedem Wiederseben
Ach- tvai können Kinder einem
herzeleid antbuni
Die Marthe-! Auch die! Das war
ihr wie ein Tode-stoß.
Das hübsche, aeweckte und anstellige
Töchterchen war ihr ganfer Stolz. Sie
iekt es so sauber, so bank, lehrte es
rdnung nnd Fleiß, predigte ihm
Einfachheit, Rechtlichteit nnd Anstand.
Und die Meine schien ihr Ebenbild zu
Yeöraslia
Staats- Anzeiger Und THEralIL
J. P. Windalph, Herausgehen Grund Island, Nebr« 9. Tk;. 1904 (Zweitcr Tlicil.) Jahrgang 2:) Na. 1.3.
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werden an Tüchtigkeit; freundlich und
lieb und bescheiden war sie dabei, —
der Mutter Hoffnung und Freude
Wie wichtig hatte es die Frau, als
die Martha ein esegnet wurde! Jeden
Sonntag ging te mit ihr zur Kirche
in der Vorbereitungszeit. Fürs ganze
Leben sollte diese Zeit Grund legen
zu Frömmigkeit und reinem Wandel.
Sie arbeitete sich die Finger wund in
diesen Wochen. Vom Anständigsten
und Besten sollte die Martha alles
haben, solide feste Sachen, guteWäsche,
ein schwarzes Kleid, das sie lange tra
gen tönnte, feine, schöne Schuhe, ein
gutes Gesangbuch, das fürs Leben
hielt.
Und noch etwas Extraes sollte es
sein. Sie hatte damals gerade so schwe
ren, tiefen Kummer um den Anton,
den Taugenichts. So recht tief und
fest wollte sie der Martha die Bedeu
tung ihres ChristenthumsGelübdes ins
Her prägen. Zu allen übrigen Gaben
kaufte sie ein schönes Silbertreuz, das
in getriebener Arbeit die Wortes ,,.Habe
Gott vor Augen und im Herzen!«
trug. Das gab sie ihr mit dem Ge
sangbuch am Einsegnungstag Die
occur-irrt Meutrer-volle Ipcullj Ilc Dust-L
Und das Marthchen hörte sie schlach
zend an, gelobte Bravheit und Tu
gend. Das Kreuzlein hat sie dabei
geküßt! —- ’
Ach, dieses Silberlreuz, zu welchem
Schmerzenstreuz ist es ber Mutter
geworden!
Kaum ein Jahr später s- -- !
Das Marthchen wuchs so rasch he
ran, bliihte aus wie eine Rose, ward
schön über Nacht —
Und so putzsitchtig und zerstreut
ward sie auf einmal. Sie war Lehr
niädchen in einern Geschäft; hatte einen
weiten Weg, war viel aus der Straße.
Ehe die Mutter sich’s versah war
die Martha eine andere, eine Fremde.
Wie hat die Mutter sie angefleht in
ihrer Todesangst! Aber das Mädchen
war nicht zu halten« Von Vergnüaung
zu Vergnügung ging's rnit lustigen
Freundinnen und Freunden.
Nun schalt die Mutter, schalt Stun
den lang, halbe Nächte lang, nachdem
sie sich miid und matt gewartet hatte,
aus ihr vergnügungssüchtiges, ausge
sloaenes Kind. Sie sagte nicht viel zu
ihrerVertbeidigun die Martha! Was
sie schließlich zu sagen hatte, trug sie
der-i silbernen Konsirrnationstreuze
au .
Dass lag, als die Mutter eines
Abends von der Arbeit lam, iiber dem
Gesangbuch, mitten auf dem großen
leeren Tisch. Und die Avmmobe, in der
Martha ihre Habseligleiten verwahrt,
stand offen und war leer. Der Klei
derschran«t, der die beiden guten Klei
der des Mädchens barg, war leer.
Welche Leere!
Fort! «- Verloren! — «
Das hat lange gedauert« bis die
Frau -— wenigstens scheinbar, äußer
lich -— das überwand, bis sie sich so
weit von dem Schlage erholte, daß sie
weiterleben mochte, weiterschassen. Die
Schande drückte sie so ties nieder. An
teinem seiner Kinder Freude und Ehre
zu erleben, wenn man so viel aus Ehre
hielt, so gern, so gern brave Men:
schen groß gezogen hättet
Tief, bis zu Boden war die Frau
gebeugt.
Aber ein Halt war in ihrer Seele.
Unter ihren Vieren war noch ein
gutes Kind! Der ferne Sohn, der
Weitentsernte, der, den der Vater un
gerecht geschlagen, der sie so weich und
zärtlich zum Abschied geruht, beriin
mer weich und zärtlich war, der ihr ein
paar Briese geschrieben aus ferner
Welt, die sie wie Heiligthiinier hielt
ihr guter Sohnspihrkbestes sindsz »der
...-4
sur-Un uuu Iqs Ost-Ist- Ivtu us uns-tu
Unaussprechlichen Herzeleid Sie wußte
nicht, wo er augenblicklich war; er hatte
vor Jahren geschrieben, daß er gute
Arbeit habe; wenn er reich sei, wolle er
heimkehren und ihr gute Tage bereiten.
Zu dem lintfernten sliichteten ihre
Gedanken nun. Jhr gebrochener Stolz
richtete sich an ihm aus.
Wehmiithig war g, wenn sie von den
anderen Kindern schweigend von die
sein erzählte, die frühesten Muttererin
nerungen ausgrub, sich jedes kleinen
Zugs erinnerte, der. dieses Kindes
Bravheit und Herzensgiite bewies. Ihr
bestes Kind, s-- welche Wohlthat war
der Gedanke iiir sie!
Und schließlich kam wirklich die
größte Wohlthat von diesem Weitents
sernten.
Keine Reichthümer, kein Erdenglück!
Aber das Beste, was man haben kann
in so abgrundtieseln Herzeleid, — ein
sehr rascher Tod«
Die Mutter starb an dem unerwar
teten Wiedersehen mit dein Abgott
ihrer Gedanken. An einein Herzschlag
starb sie still, in der Nacht.
Am Tage vorher war der heimge
kehrte plötzlich in ihre Stube getreten.
Sie war am Nachmittag des Tages
noch bei uns. uin eine versprochene Ar
beit abzusagen. So etwas Verstörtes,
Todttrauriges, Zeebrochenes hab« ich
nie gesehen! Sie erzählte uns, welche
Ueberraschung sie gehabt, aber als wir
nach Näher-ern fragten, brach sie in
Thränen aus, in so heißes, haltloses,
jammervolles Weinen.
»War er nicht gut zu Ihnen? Geht’s
ihm nicht gut?« srugen wir sie beküm
mert.
Sie schüttelte nur mit dem Kopf.
Ein Schauer iiberlief sie, ein Ent
setzen.
Welch ein Wiedersehen mag das ge
wesen sein! —
Es hat ihr so rasch das Herz gebro
chen, das war noch ein großes Glück,
eine große Wohlthati
Wie hätte sie leben sollen, ganz ver
armt, ganz entiiiuscht, mit dem Wis
sen .das3 auch ihr Bester kein Guter
war.
Heinrichs Pech.
Humoresle von Reinhold Ort
mann
Als Herr Heinrich Waltemath sichs
aus einem Eckplatz des Schnellzuges,
der ihn der Reichshauptstadt zuführen
sollte, nach Möglichleii bequem ge
macht hatte, zog er still lächelnd eine
Fnbnhvssknhßss «IIR Zin- qdcb ZU III-n
a77W -l-,-, ---------
Betrachtung er sich mit innigem Beha
gen vertiefte. Es war gewissermaßen
ein Vorgeschmack des ihn erwartenden
Glückes, den er damit genoß. Denn
nur, um das auf diesem Bilde dar e
stellte weibliche Wesen endlich von OF
gesicht zu Angesicht zu sehen, fuhr er
ja nach Berlin. Jhr Jnneres, das
heißt ihren Charakter und ihr Seelen
lehen, tannte er bereits ganz genau.
Jn einem halben Dutzend sehr aus
führlicher nnd sehr gefühlvoller Briefe
hatte sie ihn darüber so eingehend
unterrichtet als es auf dem Wege
postlagernder Korrespondenz nur im
mer möglich ist.
Das gegenseitige Wohlgefallen hatte
sich mit jedem weiteren Briefe gestei
gert, Und vor acht Tagen war es zum
Austausch der Photographien gekom
men, wobei Heinrich Waltemath selbst
seine tiihnsten Erwartungen weit liber
troffen sah. Denn wenn auch seine
Korrespondentim die ihm ihren Namen
noch immer nicht verrathen hatte des
Lebens erste Maienbliithe bereits hin
ter sich haben mochte, so war sie doch
mit ihrem feingeschnittenen Gesicht
und ihren träumerischen dunklen Au- ·
gen gerader eine Schönheit. Und die
Vorstellung, den Rest seines Lebens-—
weges an der Seite dieses holden We
sens zurücklegen zu dürfen, gewann
fiir Heinrich Waltemuth bei der Be
trachtung des -- nach der Versicherung
der Dargestellten »sehr unvortheilhaf
ten« -—- Porträts einen so unwider
stehlichen Reiz, daß er seine schöne
Unbekannte mit wendender Post be
schwor, ihm endlich eine persönliche
Zusammentnnft zu bewilligen· Und
die hochsinnige Dame war nicht uner
bittlich gewesen. Zwar hatte sie noch
immer den Schleier nicht geliiftet, der
ihm ihren Namen und ihren Stand
verhüllte; aber sie hatte ihm fiir den
iibernächsten Abend Punkt 9 Uhr ein
Rendezvous in einer genau bezeichneten
kleinen Berliner Konditorei zugestan
den.
Vermuthlich hätte Heinrich die ganze
Fahrt mit der Betrachtung des Bilde-J
zugebracht, wenn nicht auf der nächsten
Station ein dicker, ältlieher Herr zn
ihm ins Coupe gestiegen wäre, der ihn
sofort in der neugierig zudringlichen
Art jener Leute fixirte, die nothwendig
mit jedem Reisegenossen sofort ein
Gespräch anknüpfen müssen. Heinrich
tmnltomntb schob »Ur-s ssin thun-a No:
sitzthum hastig wieder in die Tasche und
ergab sich in sein Geschick. Der Conne
gefährte erwies sich übrigens bald als
ein gar nicht so übler Gesellschaften
Er stellte sich als der Rentier Wilhelm
Pining aus Neuenhagen vor und er
zählte offenherzig, daß er in einer Pro
zeßangelegenheit nach Berlin fahle,
wo er seit mehr als dreißig Jahren
nicht mehr gewesen sei.
»Man wird am Ende seine liebe
Noth haben, sich zu orientiren. Wissen
Sie in Berlin Bescheid mein Herr?«
fragte er.
,,Einigermaszen. Und wenn ich Ih
nen mit irgend einer Auskunft dienen
tann - -———-"
»Man hat mir da ein Hotel Garni
empfohlen ---- in der s- s ja, wie hiesz
doch die Straße gleich? »- Warten Sie
— ich habe die Adresse in meinem Por
teseuille.«
Etwas umständlich brachte er seine
Briestasche »zum Vorschein. Und als er
sie öffnete, sah Heinrich Waltennth die
iZipfel einiger bräunlichen Papiere
rauslugen, die sein geübtes Auge
sogleich als Tausendmarkscheine er
kannte.
»Nehmen Sie sich nur in acht, daß
Jhnen Jhr Portefeuille nicht gestohlen
wird,« sagte er wohlmeinend, »die
Berliner Taschendiebe sind sehr ge
schickt.«
Er hatte inzwischen die gesuchte
Adresse gefunden, und an die Aus
kunft, die ihm sein Reisegefährte be
reitwillig ertheilt-, knüpfte sich eine
lebhafte Unterhaltung, in deren Ver
lan die beiden Herren recht gut mit
einander bekannt wurden.
»Wenn es Jhnen recht ist, werden
wir nach der Ankunft zunächst irgend
wo zusammen speisen,« schlug Herr
Pining vor. »Wenn ich jemandem be
gegne, der mir gefällt, habe ich immer
das Bedürfniß, die neue Bekanntschaft
mit einem Glase Wein zu begiefzen.«
Da Heinrich Waltemath auch lieber
zu zweien als allein speiste, und da
ihm nach der um 6 Uhr erfolgenden
Ankunft immer noch volle drei Stun
,den bis zu seinem Rendezvous blieben,
willigte er ohne Bedenken ein.
Heinrich Waltemath war überrascht,
als ein Blick auf die Uhr ihn belehrte,
daß es bereits acht vorüber war und
er begann, sich zum Aufbruch vorzube
reiten. Da ihm Herr Pining vorher
eine von seinen importirten Cigarren
angeboten hatte, wollte er sich revan
chiren und griff in die Tasche seines
neben ihm hängenden Ueberziehers.
Aber was er daraus zum Vorschein
brachte, war nicht sein Cigarrenetui,
sondern eine Brieftasche, deren Dasein
ihn um so mehr überraschen mußte
als er sich nicht erinnerte, sie je zuvor
gesehen zu haben. Er wollte seiner Ver
wunderung Ausdruct geben; doch ehe
ck auch lllll clll clllzlgcs Moll yallc
vorbringen können, fuhr sein Gegen
über wie eleltrisirt vom Stuhle empor
und streckte iiber den Tisch hinweg die
Hand nach der Brieftasche aus.
»Er-haben Sie, mein Herr —— das
ist ein verdammt schlechter Witz. Wie
kommen Sie zu meinem Portefeuille?«
»Ja, das möchte ich Sie fragen.
Wenn dies wirllich Jhr Portefeuille
ist, so miissen Sie selbst es in meinen
Ueberzieher gesteckt haben.«
»Jch?— das ist doch nicht Jhr
Ernst. Und da der Spaß nun wohl
ein Ende hat, geben Sie mir vielleicht
auch die drei Tausendmartscheine zu
rück, die sich vorhin in der Briestasche
besanden.«
»Herr ——das ist eine Unverschämt
heit! Jch wiederhole, daß ich nichts mit
Ihrem Portefeuille zu schaffen hatte,
und daß ich nicht weiß, wie es in mei
sen Ueberroct gelommen ist. «
s »So? ——— Sie wissen es nicht? s
Und Sie haben also auch keine Ah
nung, wo meine dreitausend Mart ge
blieben sind? — Nun, dann werden
wir wohl aus einer anderen Tonart
mit einander reden müssen. Kellner —
einen SchutzmannL Dieser Herr ist ein
Taschendieb und hat mich bestohlen.«
Heinrich Waltemath sprang auf und
wiirde seinem Reisegefährten zu Leibe
gegangen sein, wenn er nicht durch die
herzuspringenden Kellner daran ver
hindert worden wäre. Es gab einen
gewaltigen Tumult, bis der von Herrn
Pining stürtnisch verlangte Schutz
mann erschien und die Streitenden
aussorderte ihm behqu Feststellung
des Thatbestandes zur Polizeiwache zu
folgen.
Und all« seines Sträubens und
Wetterns ungeachte wurde der bedau
erngwerthe Herr Waltemath nacy der
Polizeiwache geschleppt Da erst tam
ihm mit voller zilarheit zum Bewußt
sein, in eine wie trittsche Situation
er ohne alles Verschulden gerathen
war. Daß die Briestasche wirklich das
Eigenthum des Herrn Wilhelm Pining
sei, tonnte ebensowenig einem Zweifel
unterliegen, als er die Thatsache in
Abrede zu stellen vermochte, daß sie
sich in seinen lleberrocl verirrt habe.
Auch gestand er unumwunden zu, vor
hin etwds von dem Vorhandensein
oinimsr Janiendnmrlsrfwine mahmex
nommen zu haben. Und darüber, daß
er unter diesen Umständen einiger
maßen verdächtig erscheinen mußte,
durfte er selber sich keiner Täuschung
hingeben. Es half ihm nichts, daß er
sich durch allerlei Briefschaften nnd
Papiere zu legitimiren versuchte,
zähnelnirschend mußte er es geschehen
lassen, dafz man ihn einer sehr ein
gehenden Leibesvisitation unterzog
und dafz man ihn auch dann noch
nicht siir gerechtfertigt ansah, als tei
ner der gesuchten Tausendmartfcheine
gefunden wurde.
«Vielleicht hat er sie verschluckt!«
schrie Herr Pining. »Man muß ihm
etwas eingehen. Und man darf ihn
keinen Moment aus den Augen lassen.
Wo und wie auch immer die Bantno:
ten zum Vorschein lommen mögen, ihre
Jdentität wird sich immer feststellen
lassen. Jch habe die Nummern hier in
meinem Notizbuche.«
Zwar unterblieb einstweilen die An
wendung des von Herrn Pining vor
geschlagenen Mittels; aber von einer
Entlassung des Verdachtigen war teine
Rede. Und als der anwesende Krimi
naltommissär noch einmal die bei ihm
vorgefundenen Gegenstände durch
mufterte, tam plötzlich ein Ausruf der
Ueberraschung von seinen Lippen.
«Wollen Sie mir nicht gefälligst
sagen, mein Bester in welchen Bezieh
ungen Sie zu dieser Dame stehen und
wo?sich dieselbe augenblicklich besik
det « «
Es war die Photographie der schö
nen Unbekannten, die ihn zu dieser
Frage veranlaßt hatte. Und als Hein
rich Waltemath in flammender Ent
riistung erwiderte, das Eine ginge die
Polizei ebensowenig an wie das An
dere, meinte der Beamte gelassen:
»Nun, wir werden es auch ohne Jhr
Geständnis; erfahren. Aber Sie werden
sich nicht wundern dürfen, wenn wir
jetzt keinerlei Umstände mehr mit Ih
nen machen· Jch kenne nämlich diese
Photographie sehr genau. Sie nimmt
unter der Rubrik »Hochstaplerinnen«
einen bevorzugten Platz im Verbrecherk
album ein, und wir sind eben jetzt aus
der Suche nach dem Original.«
»Das ist ein Jrrthum!« protestirte
der in seinen heiligsten Empfindungen
Verletzte »Ich kenne den Namen der
Dame nicht; aber ich weiß, daß sie eine
sehr distinguirte Persönlichkeit ist. Sie
können sich selbst davon überzeugen;
denn das Original dieses Bildes be
findet sich augenblicklich in der F...
schen Konditorei am S.-Platz, um
mich zu erwarten.«
Es war ihm halb gegen seinen Wil
len entfahren. under hätte das rasche
Wort gerne zurückgenommen, wenn es
noch möglich gewesen wäre. Das eigen
thiiinliche Lächeln des Commissärs
wollte ith gar nicht gefallen. Noch
wenige-« stunk-» HIHU IV U,«1, UUU cl
bie ganze Nacht als Polizeigefangener
verbringen mußte. Er hatte sich diesen
Abend in Berlin wahrlich ganz anders
vorgestellt. Und wenn Verwünschun
gen die Kraft hätten zu tödten, würde
Herr Pining den kommenden Morgen
schwerlich erlebt haben.
Dieser Morgen aber zeigte dem be
dauernswerthen Opfer ein ganz ande
res Gesicht. Er wurde demselben Com
missär vorgefiihrt, der ihn gestern
Abend so schlecht behandelt hatte, und
er wurde von dem Beamten mit aus
gesuchter Höflichteit empfangen.
»Der glücklichste Zufall von der
Welt hat Ihre Schuldlosigteit noch in
der verwichenen Nacht erwiesen, mein
Herr! Jm Besitz eines beriichtiaten
Taschendiebe5, den man auf frischer
That am Bahnhofe verbastete, wurden
unter Anderem drei Tausendmari
scheine vorgefunden, deren Nummern
mit den von Jhrem bestohlenen Reife
gefiihrten ausgezeichneten überein
stimmten. Und der Spitzbube bequemte
sich zu dem Geständniß, daß er die
entwendete Briestasche, nachdem er sie
ihres Geldinhaltg beraubt, dem er:
sten besten Reifenden in den Ueber-—
zieher Maltizirt habe, um sich des ge:
fährlichen Corpus delicti zu entledigen.
Jhr Mißgeschiick ist in hohem Maße be
dauerlich, aber Sie dürfen nicht uns
dasiir verantwortlich machen.«
»Und die Dame in der F...schen
ConditoreiZ Man hat sie doch hoffent
lich nicht ebenfalls belästigt?«
»Sie sitzt seit gestern Abend hinter
Schloß und Riegel, und wir sind Ih
nen siir den freundlichen Fingerzeig zu
besonderem Dante verpflichtet. Es war
wirklich die, welche wir seit Wochen
suchten. Eine abgefeiinte Hochstapleg
rin die eS besonders aus reiche Eim
bel auc- ber Provinz abgesehen hatte.«
Heinrich Waltematls sagte kein Wort
mehr. Alser er drückte dem Polizei
tFomniissijr mit einer fiir diesen sehr
iilserraschenden Wärme die Hand. llnd
als er eine Stunde später den heimath
lichen Gefilden wieder entgegenfuhr,
sagte er sich in feines Herzens Stille,
dafz er bei allem Pech doch eigentlich
noch recht viel Glück gehabt habe.
Anonhme Correspondenzen mit ein
samcn, distinguirten Damen aber hat
er seitdem nie mehr geführt.
»Oh
Cin Panzerschiss von Ietzt-.
Von einem Vorläufer unserer jetzi
gen Panzertolossr. die demnach keines:
tvegg eine moderne Erfindung sind,
wird man mit Interesse lesen, wenn
man hört, daß die Johanniterritter die
Erbauer des ersten Panzerfchiffes wa
ren. Boin, der Historiograph des Or
dens, hat darüber folgende Aufzeieh
nungen hinterlassen: Karl der Fünfte
armirte 15520 ein Geschwader, welches,
unter dem Kommando des berühmten
Andreas Doria stehend, zu einer Erde
dition gegen Tunig ausgesandt wurde
Dafz die Erpedition mit der Eroberung
von Tunis endete«, dazu hat nicht wenig
das von den Johanniterrittern in
Nizza erbaute und demannte Schiff
,,Santa Anna« teigetragen ngiihrte
acht Kanonen, hatte 300 Mann Bei
satzung und war nach damaligen Bei
griffen wahrhaft prachtvoll ausgestat
tet. So war unter den Schiffsräumen
eine Kapelle zur allgemeinen Andacht,
ein Salon fiir fremde Besucher und
auch für die Magenfrage war ausrei
chend gesorgt, denn eine eigene Bäckerei
an Bord lieferte täglich frisches Brod.
Das Merkwürdigste aber war der mit
mächtigen kupfernen Nägeln befestigte
starke Bleipanzer, der das Schiff, das
ost in der heissesten Aktion war, er
solgretch gegen die setndltchen Unget
schuhte Eine Abbildung des meis
wiirdtgen Fahrzeuges befindet sich
unter den Fressen des Palastes der
Johanniterritter in Rom.
NO—
Mittelpunkte.
Als Till Eulenspiegel sein Doktor
exarnen an der Prager Universität
machte, fragte ihn einer der Professo
ren: ,,Wo ist der Mittelpunkt der Er
de?« »Hier wo ich stehe,« antwortete
Till mit Entschlossenheit, »und wenn
es Jhro Gnaden nicht glauben, dann
belieben geneigtest selbst nachzumes
sen.«
Der alte Witz ist nicht mehr tref
send; man mißt jetzt nach. Kürzlich
hat man- in Spremberg einen Denk
stein errichtet aus einem Punkte, den
der Geograph Matzat als den geo
graphischen Mittelpunkt des Deutschen
Reiches bezeichnet hat. Jn dem be
kannten, vom Berliner Architettenver
ein heraus-gegebenen Prachtwerk »Ver
lin und seine Bauten« hat ein Archi
tekt seinen Zirkel zur Hand genom
men und heraus-gemessen und gerech
net, daß Berlin eigentlich von Rechts
wegen der Mittelpunkt von Europa ist«
Er argumentirt nämlich so: Ein um
Berlin gezogener Kreis von etwa 1750
Kilometer Riadius schneidet nur die
äußersten Spitzen und Ausläuser Eu
ropas ab: die iberische Halbinsel jen
seits des Ebro, das nördlichse
Drittel von Siandinavien, Grie
chenland, Sizilien und das nörd
liche und östliche Gebiet Ruszlands
jenseits Uleaborg, Moskau und Char
tow. Innerhalb dieses europiiischen
Kreises wird die große Zone, welche
Berlin umgibt, markirt durch die Orte
Ftönigsberg, Warschau, Wien, Mün
chen, Stuttgart, Karlsruhe und Aa
chen, der Kreis zieht sich über die von
Berlin fast gleich weit entfernten Orte:
Paris. Dover, Christiania, Stock
holm Rims- Vrnhn Gent Noli-s und
Mailand. Ein dritter geht in gleichen
Verhältnissen über Dublin, Bularest,
Bordeaux und Neapel. Braun erklärte
diese Angaben für geometrisch richtig,
da aber von dem großen Kreis, welchen
der architektonische Geometer um Ber
lin gezogen hat, die öftliche Hälfte,
verglichen mit der westlichen, sich in
einem sehr zurückgebliebenen Zustande
befindet, so kann wohl von einem geo
metrischen, aber nicht von einem kul
turellen oder dhnamilfchen Mittelpunkt
die Rede sein.
W
Eine Belaejörjrång ohne Ge
n e.
Es sind uun gerade sechzig Jahre
her, daß Liszt —- der Vater von Co
sima Wagner — nach Paris kam, um
sich wieder ein neues Stück Welt zu
erobern. Die Gräfin Saint Paul
gibt in ihren Erinnerungen aus zwei
Jahrhunderten« folgende Schlderung
über das Debüt des berühmten Mei
sters in einem vornehmen Hause: »Er
setzte sich an’s Instrument und sah eine
Zeit lang nach der Gesellschaft oder
vielmehr —- er ließ sich sehen. Aber
schon rollt und grollt plötzlich ein wil
des Gewitter aus der Gegend des Flü
gels hervor, schon donnert und tobt es
in der Ecke — schon sind die ersten
Saiten gesprungen. Als wollte er die
Anderen beruhigen, ging Liszt nun
schnell zu einem ganz sanften Piano
über. Aber eg dauerte nicht lange und
plötzlich schien es über ihn zu kommen,
als wäre dies-e Nachgiebigteit Feigheit.
Die estung mußte sich ergeben »s- be
dingungslos ergeben. Und nun be
gann die Belagerung mit einer Hef
tigteit ohne Gleichen. Jch glaubte das
Zischen nnd Pfeier der Kugeln, das
Donnern der Kanonen, das Kleinge
wehrfeuer, mit der man durch die Bre
sche drang, zu hören nnd dazwischen
das Jammern der Verwundeten, das
Stöhnen derSterbenden. Endlich aber,
der Thurm war in die Luft geflogen!
I
Man blickte nach mir, man lachte, man
schien mir stumme Vorwürfe zu ma
chen. Hatte der Meister meinen Angst
rus gehört? Jch weiß es nicht. Aber
Wenige Minuten — oder waren es nur
Sekunden? —-— nachdem der Pulver
ihurm in die Lust geflogen war, wäh
rend die zersprungenen Saiten noch
murrten uno brummten, stand der Be
lagerer schon neben der Dame des
Hauses und ich hörte, wie er sich ent- .
schuldigste »Er besinde sich heute nicht
ganz wohl, deshalb sei er so —- schwach
gewesen«
Im Coupe.
Herr: »M«v"chten Sie wohl die Güte
baden. mich an’-Z Fenster seyen zu las
sen, ich bin nämlich nervös!«
Reisender: »O das viele Hinaus
schauen macht Sie noch nervöser.«
Ein kleine-v Mißverständnisse.
Strotuvittwers zu seinem Bekann
ten): »Nächst·e Woche kommt meine
Frau von ihrer Vadereise zurück, nun«
sind die schönen Tage von Aranjuez
vorüber!«
«Alsv in Aranjuez ist Ihre Frau?«
Boobaste Kritik.
Schriftsteller: »Herr Redakteur-,
wenn die Novelle etwa zu lang sein
sollte, so könnte ich sie liirzen.«
Redakteur: »Ja, aber wenn Sie die
Novelle zu kurz machen wollten, wie
nothwendig, so bliebe ja nichts von ihr
übrig.«