Nebraska Staats-Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1901-1918, June 28, 1901, Sonntags-Blatt, Image 18

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    »Auch Yaris t«
Roman mheinrich Lee.
G. FortseßungJ
Ils Bäumchen eintrat, waren die
anderen natürlich schon mitten im
Essen. Ei war die Rede davon, wie
man den Abend zubringen sollte.
Milchen meinte, ob man nicht mal ins
Theater wollte, in die Oder. Erstens
sei doch die Oper so berühmt, und
zweitens, von einem gesprochenen
Stück würde man doch nichts Ver
stehen. Auch Altdorfer sehnte sich nach
einer guten Musik. Milchens Bor
schlag ging durch, ihr geheimer Plan »
dabei war natürlich, daß Altdorfer
neben Selma zu sitzen kommen würde.
Man ließ sich eine Zeitung geben ———
morgen, denn an drei Tagen in der
Woche und so auch heute wurde nicht
gespielt —- war der ,,Cid« von Masse
net. Altdorser konnte dieses Werk be
reits. Bier Stunden dauerte es, wie
er Milchen aus Befragen sagte. Vier
Stunden! Milchen war sehr zufrieden
damit. Wie aber stand es mit den
Eilletsi Ob es heute nicht schon zu
spät war-? Oder man mußte sie an ei
nem der theuren Billetoeschiifte auf
dem Bouleoard kaufen. Aber Altdor
ser, der Bescheid wußte, meinte, das
wäre nicht nöthig, nach seinen Erfah
rungen würde man auch noch morgen
Vormittag an der Kasse gute Plätze
bekommen. So war es auch. Brösicke
übernahm die Besorgung. Verwun
terlich war dabei die Ceremonie. Die
Käufer traten vor dem Kassenschalter
in einen langen Gang, der von dem
Schalter durch eine Barriere abge
trennt war. Durch - diese Barriere
wurden die Käuser nur immer zu drei
und drei an den Schulter heran-gelas
sen. Neben dem Schulter stand ein
Modell des Theaterinnern, und an
diesem konnte man sich die noch zu ba
benden Plätze aussuchen, was aber
allerseits mit einer Muße undBedacht
semkeit geschah, als handelte es sich
wer weiß um welches große Geschäft.
Am Schalter saß eine Dame, der je
«der Käufer seinen Namen oder den
Namen derjenigen Personen nennen
mußte, für welche die Billets bestimmt
waren. Diese Namen trug sie in ein
großes Buch ein, und außerdem auf
das Billet selbst, eine mächtig große
Urkunde von grnem Papier, auf dem
eine Art Vertrag stand, daß hiermit
an Monsieur oder Madame X. der und
Vder Platz für die und die Vorstellung
,oermiethet« werde. Die Nummer des
Platzes stand nicht auf dem Billet ge
druckt, sondern auch diese schrieb die
Dante erst mit Tinte daraus. Brö
sicken kam im Vergleich zu dem in
Deutschland üblichen Brauch diese
Langwierigkeit und Umständlichkeit
nicht wenig komisch vor. Erst Altdor
fer erklärte es ihm. Die ganze Cen
nsonie — in manchen anderen Pariser
Theatern war fre noch bedeutend um
ständlicher —- stammte aus einer ur
alten 3eit. Deshalb klebten die Fran
zosen fest daran.
»Was kostet denn das Billet?'«
fragte Diiumchen.
Das Stück, Parquetsitz, kostete vier
zehn Franks-.
Bäumchen wollte aus den Rücken
fallen. Das bezahlte er nicht« schrie er.
»Aber Felix!« bat Milchen. Schon
Altdorsers wegen mußte man sich ja
geniren.
Es war noch eine Stunde dor An
fang der Oper, als sich unsere Freunde
auf den Weg machten —- inan wollte
in Muße erst das Haus betrachten.
Erst die berühmte Treppe, die aber in
Wirklichkeit viel tleiner aussah, als
auf den vielen Abbildungen, dann trat
inan in den Saal. Er nahm sich
zwar sehr großartig und prachtooll
aus, aber die Farben und Vergoldun
gen waren doch schon start verschlissen
und verblichen. Aus jedem Parquet
sitz lag gratis ein Theaterzettel mit der
aufgedruclten Rellame einer gewissen
Zeitschrift. Langsam füllte sich der
Raum, nur der erste Rang blieb ganz
leer. Von sder erwarteten Tollen-en
pracht aber war nichts zu sehen, die
meisten Damen gingen dunkel. Von
sden Herren hieß es im Bär-eilen daß
sie auf die vornehmeren Plätze nur im
rack oder wenigstens in Gesellschafts
oilette zugelassen würden, aber auch
das stimmte nicht. Manche im Par
guet, wenn es auch Fremde sein moch
ten, erschienen sogar ikn hellen Stra
·anzug. Auf den vordersten drei
iben, den Orchester - Fauteuils, sah
man nur Herrenpublitum, Damen
wurden hier nicht zugelassen. Das
war auch so eiii alter französischer
pf. Auch sdie Orchesterinitglieder
uchten ietzt·auf, sie hatten in der
Kleidung Zeichfalls wenig Feierliches,
und das rche er lag nicht dertiest,
sondern ganz fach: Recht unbequem
war es, daß die Sitze nicht zum Auf
Ilapgii gingen sk- wollte Jemand in
der anl auf seinen Platz, so gab es
ein Drangen»irnd Drücken, unter dem
besonders Wilhelinine mit ihrer Figur
Its-l zu leiden hatte. Endlich tani auch
Ilidorfeh der bis setzt hatte aus sich
warten lassen —- Milchen war schon in
Sorge eweseu —·— und auch in dem
ersten ang erschienen setzt die ersten
Herrschaften Hier waren die Herren
ammtlich tin Frack — Uniforinen sah
man nicht —- und die Damen in gro
ber Torlette, sum Theil sogar in
Mitleiter-n Alle Operngläser rich
teten sich hinauf.
Endlich vernahm man von der
spähte her ein starkes, besti, ei Stam
W m Zeichen fin den nfang. —
Mre
begann, dann ging der
— Q
Vorbang aus. Sehr turioi waren die
Log-en. die auf der Bühne zu beiden
Seiten aufgebaut und gleichfalls mit
Zuschauer-n beth waren. Sanger
und Siin erinnen waren ganz vorzug
lich, die Tecorationen und Kostume
aber iernlich mäßig —- Ynd befrem
denn schlecht war d e Regie, der Chor
stand immer wie festgenagelt da, im
Halbkreise oder in schnurgerade Rei
hen abgetheilt. Selbst im Stadtthea
ter in Plauen stansden die Statistfn
nicht so herum. Der Akt hatte sein
Ende erreicht — es tam die erste
; Pause. ·
Fast alles strömte hinaus, durch die
) Corridore oder über die große Treppe
oder durch das herrliche, bilderge
schmückte gover, aus dem hohe Thüren
auf den allon hinausfiihrten
»Herr Altdorfer,« sagte Milchen,
»nicht wahr, Sie bleiben doch an un
serer Seite?« ·
Altdorfer aber guckte plötzlich heftig
zusammen. Seine Blicke hefteten sich
auf eine Stelle im ersten Rang. Eben
war dort an der Seite eines alten
Herrn eine junge Dame aquitandem
sie kehrte dem Zuschauerraum jeht den
Rücken zu —- dann verschwand sie in
der Logenthür.
Milchen hatte von Altdorser’s Be
wegung nichts bemerkt, denn sie ging
voraus.
Noch immer starrte er nach der
Stelle hinauf, die anderen waren
längst hinaus — aber die Lage blieb
leer, die junge Dame lehrte nicht mehr
zurück. Vielleicht hatte er sich auch
getäuscht.
Hortense war mit ihrem Vater in’s
Foher getreten. herr von Monm
jeau war bis jeht nicht erschienen —
sie war af ihn gerüstet. Eilig tam
aus dem Gewühl ein rr auf den
Oberst zu, er trug gleich alls das rothe
Bändchen im Knopfloch, er gehörte
zum Wahlconiite, Hortense begrüßte
er artig, dann geriethen die beiden
Deren in ein eifriges Gespräch.
Hortense sah gleichgiltig auf den
Strom der Vorübergehenden Plötz
lich schrat sie heftig zusammen. so
heftig, daß ihr der glückliche-zweite an
einer gotdenen Kette hängende Fächer :
aus der Hand fiel. l
An der Wand ihr gegenüber sah sie
ein Gesicht aus sich gerichtet — es war
Altdorfer.
Sie starrte ihn an. War es nur
ein Spiegelbild ihrer Phantasie. die
sich seit gestern immer wieder mit ihm
Fgchäftigt hatte, oder war er es wirt
r s .
Er war es wirklich. Er nickte ihr
jetzt zu. Dann wandte er sich fort —
kann war er im Gewühl verschwun
en.
Sie wußte nicht, wie ihr geschah.
Aber eine Macht trieb sie vorwärts,
dorthin, wo er gestanden hatte, er war
nicht mehr zu sehen, vor ihr that sich
eine der Thüren zum Balton auf. Sie
trat hinaus.
Ein funtelnders Lichtmeer. durch
kreuzt von der Wagen- und Menschen
menge, so lag unten der Opernplatz
mit den Boulevards zu beiden Seiten
und den sternförmig in ihn einlaufen
den, breiten, glänzenden Straßen-rü
gen. Arn Ende der Avenue de l’Opera
dunkelte die Bendomesäule. Durch
die warme, fast unbewegte Luft stie
ein stictiger, gelblicher Brodem heraue
der Athem der Bouledards, aber Hor
tense spürte ihn nicht. Sie lehnte sich
an die Steinbrüstung, sie wußte, das
in den nächsten Seiunden Altdorfer’s
Stimme hinter ihr an ihr Ohr schla
gen würde —— so wartete sie.
M »Hortense!« llang es leise hinter
Les-»
Seine Stimme —- und wie die
Glocken des Glücks läutete sie in ihr
Herz. Denn mit einemmal wußte sie
es nun: Er liebte sie noch, er war ihr
treu geblieben.
»Hortense,'"' sprach er in demselben
Ton weiter, »Sie haben mich erwartet.
Sagen Sie Ja oder Nein.«
»Ja,« erwiderte sie endlich ebenso
leise, aber fest.
Er trat dicht neben sie, sodaß er
nun gleichfalls an der Brüftung stand.
»Sind Sie verheirathet?'«
Sie sah nicht in sein Gesicht, son
dern immer geradeauä, so daß. wenn
Jemand hinter ihnen vorüberaing, er
glauben konnte, sie wiiren zwei einan
der fremde, gar nicht zusammengew
riae Personen. Aber wenn sie ihn
auch nicht sah, so hörte sie aus seiner
Stimme doch ein heimliches Beben.
«Nein!«
..Nein?!«
Dann schwieg er, und nun war ihr,
als leaten sich weiche Arme um sie,
zärtliche, bergende Mutterarme, die sie
nie gekannt.
«Sind Sie glücklich? Sind Sie ge
sung, Hortensei Sind Sie zufrie
den."
Sie siihlte fest, daß sie so nicht län
ger mit ibm hier sieben dürfte.
» a! Aber aeben Sie jetzt. · Man
könnte uns beobachten.«
»Werde ich Sie noch einmal wieder
sehen?"
»Kommet Sie moraen Nachmittag
um vier in den Luxemburggarten vor
die arosze p ontiine.« ·
»Sei-en ie wohl!«
,!ldien!«
Er ging.
Einiae Sekunden später trat auch
hortense wieder in das Foyer zurück.
Zehe Vater stand noch immer nnt dem
rrn im eifrigen Gespräch. Er hatte
ihre Abwesenheit nicht einmal be
merkt. Dann ftrsmte langsam die
Menge wieder in den Saal, und die
Vorstellung nahm ihren Fortgang.
Auch der Oberst und Dortenle sa
ßen wieder in ihrer Lage. Aber Vor
tense’i Gedanken gehörten nicht mehr
dass-Mit- be i M M oh
Die ganze Welt um sie her, die Ben
W
schen. die hier um sie sahen —- alles
war wie verändert, auf allein lag ein
neuer Glanz. Sie nahm ihre sorg
nette zur Hund« ob sie wohl finden
wurde, wo er saß —- nein, sie sand ihn
nicht. Ylber er war hier, er war in
ihrer Rahe,
Nur in einem war sie mit sich nicht
zufrieden. Sie hatte ihn in den Lu
xemburggarten bestellt. Dieser Gar
ten war ihr vertraut, dicht in derRiihe
wohniii eine alte, bedürftige Musiklelp
rerin von ihr. Sie hatte in Miihlhaus
sen mit Tante Julie viel vierhändig
gespielt, nach ihre Uebersiedelung nach
Paris hatte sie diese betagte Dame da
zu angenommen, die anfänglich zu ihr
in’s Haus kam. Schon seit zwei Jah
ren aber wurde Madame Hardouin
durch die Gicht an ihr Zimmer gefes
selt, die Entziehung des Stundengel
des wäre für sie ein harter Schlag gr
wesen, als Almosen aber wollte Hor
tense zartsühlend es ihr nicht anbie
ten —- so tam denn seit zwei Jahren
Hortense regelmäßig zu ihr in die hohe
Mansardenwohnung hinauf. Natür
lich nahm sie dabei einen Wagen; aber
vor dein Tuileriengarten liesz sie ihn
gewöhnlich halten« um den Weg zu
Fuß hindurch zu nehmen. Denn in
diesem Garten hatte sie ihre tleinen
Freunde, die Sperlinge und Tauben,
die sie fiitterte —- immer an einer
bestimmten Stelle, an der groszen Fon
taine. Nun war ihr in der Eile kein
anderer Ort eingefallen, nun hatte sie z
ihn dorthin bestellt. :
Es war unvorsichtig von ihr, aber J
vielleicht begegnete sie ihm in derPause
nachher noch einmal und sie tonnte
ihm einen anderen Ort bestimmen.
Hinter ihr entstand ein kleines Ge
räusch. Die Logenthiir wurde geöff
net.
Gras Montrejeau trat ein.
Gleichzeitig fiel der Vorhnag, aber
nur zu einer Verwnadlung, man blieb
auf den Plii en.
Bei dem berst entschuldi te Herr
von Montrejeau sein fvätes ommen
mit überhäuster Arbeit in Wahl-An
gelegenheiten, dann wandte er sich
Hortense zu.
Hortense war in einer zu guten, zu
glücklichen Laune. Von dem Glanze
um sie her fiel ein Schimmer selbst auf
Herrn von Montrejeau. Neben ihm
stellte sie sich Altdorfer vor, und mit !
den Fadeusen, die dieser Mensch wie
der an sie verschwendere, erschien er ihr
eigentlich nur noch komisch. Sie lachte
sogar, und Herr von Montrejeau
fühlte sich von der Huld und Gnade,
die sie heute über ihn ergehen ließ,
hochbeglückt Ueber den Grund davon
wunderte er sich nicht, denn er hatte
im Laufe des heutigen Tages von dem
Oberst einen Brief erhalten, in dem er
ihm schrieb, er habe feinen Antrag bei
Fortense zur Sprache gebracht, und
ie wünsche nur, daß ihr etwas eit
dazu gelassen würde. Das war ast
mehr als er gehofft hatte. Entweder
also hatte er sich in ihrem Benehmen
gegen ihn getäuscht, oder aber sie war
eine exemplarisch solgsame Tochter
Gleichviel, wenn sie nur seine Frau
wurde! Auch der Oberst sah die Ber
wnadlung, die mit ihr vorgegangen
war. Er war nicht weniger zufrieden
damit. Es lam nur darauf an, ihr
ordentlich den Kopf zurecht zu sehen
—- das war seine Meinung. '
»Suchen Sie Jemand?« fragteberr
von Montrejeau.
Hortense hatte wieder ihre Lor -
nette vorgenommen — nun hatte re
ihn gefunden, er saß neben einem jun
gen Mädchen, einem sehr hübschen,
jungen -Madchen, und er lachte und
plauderte mit ihr, genau so, wie sie ei
selbst that. Wer war dieses Mädchens
Jhre heiterteit war plötzlich ver
schwunden, und zwischen ihre hohen,
Einen Brauen grub sich eine lleine
- « ' J
»Nein!« sagte sie turz.
»Sie hat Launen,« dachte herr von
Montrejeau bei sich. »Aber das wird
unsere Ehe weniger langweilig ma
Die Vorstellung war zu Ende.
Ueber die strahlende Freitreppe ström
te das Publikum hinaus. An der
Auffahrt in dem anstoßenden Ehren
hos hielten in unabsehbaren Reihen
die Eauipagen, und Herr von Mon
trejeau leistete den Herrschaften noch
so lange Gesellschaft, bis ihr Wagen
heran war. Hortenie hatte zwar ihre
gute Laune im Laufe des ganzen
Abends nicht wiedergesungen, aber
das machte nichts, seine Chancen stan
den gut. Wenn sie ihn nur nicht noch
zu lange warten lie . Erst unmittel
bar beoor er in’s T eater kam — da
her auch seine Verspätun — hatte er
wieder einen fatalen Au tritt mit ei
nem Gläubiger gehabt. Der Wagen
rollte die Ramde hinunter, und Mon
trejeau ging seinem Club zu.
»Es war hübsch von Dir,'« sagte«
der Oberst, als der Wagen jetzt in die
Bouleoards einbog, »daß Du egen
Montrejeau wenigstens etwas lie ens
wiirdig gewesen bistl'«
Hortense antwortete nicht —- sie
lehnte sich in ihr Kissen zurück.
Sie fühlte sich neroösx Jn den Pau
sen war ei ihr nicht rnoglich gewesen,
sich noch einmal zu isoltren. Es mußte
also bei der Verabredung im Euren
burggarten bleiben. . Was war auch
schließlich so gefährlich dabei? Der
Luxernburagarten lag in einer Ge
gend, wohin von ihren Bekannten im
ganzen Jahr sich Niemand verirrte.
Gesiihrlichi Das war ein thörichtes
Wort! Vor wem hatte sie sich zu
fiirchten2 » »
Viel rne beschaftrgte sie ein ande
rer Gedan e. Was war das filr ein
junges Mädchen. das neben ihm ges-;
fessen —- rnit dein er so heiter und an
geregt edlaudert hatte?
Ol- iye verheirathet war, hatte er sie
gefragt. Aber von sich selbst hatte er
--
M..-.—l.l—— — —- - -—.-—.-—.l-.—-.
nichts erzählt. Vielleicht war dieses
M·dchen seine Braut. Warum denn
nicht? Und was seine verslossene Ju
gendliebe anbetras, so suchte er nur
noch ein kleines romantischeg Aben
teuer mit i r. Dortense zählte die
Stunden. s war jest Mitternacht.
Sechzehn lange Stunden. bedor sie
Gewißheit erhielt. Sechszehn Stun- .
den
Der Wagen rollte durch dasgeösss
nete Gitter, wo in seiner schwarzen
Lidree der hausmeiiter stand, in den
zierlichen Borhos Hortense sagte
ihrem Vater gute Nacht.
Um dieselbe Zeit verabschiedete sich
auch Altdorser von unseren Freunden.
Allerseits war man von dem Abend
höchst befriedigt. Sonst hatten solche
ernsten und gelehrten Opera ja immer
ein bischen was Lang-weniges an sich,
aber das war heute Abend nicht der
Fall gewesen. Man hatte die Ge
schichte ganz gut verstanden, und das
Schöne an ihr war, daß sie noch ein
gutes Ende genommen hatte. obwohl
es schon sast ausgesehen hatte, als ob
das Liedespaar zum Schlu wieder
umgebracht würde. Auch die Musik
z war nicht weiter störend gewesen« Nur
s Bäumchen erklärte sich nicht zufrieden.
Die Spitzenkragen, welche die spani
schen Ritter getragen hatten. waren
der ordiniirste Schand gewesen. Das
konnte man eine Meile weit sehen.
Und siir sowas bezahlte man das hor
rende Entree.
«Gute Nacht, lieber Herr Altdor
ser, gute Nacht. Schlasen Sie recht
wohl,« sagte Milchen fast zärtlich zu
itan —- »und wir danken Jhnen noch
vielmals für den schönen Abend.«
Endlich trennte man sich.
« Als Wilchen mit Selma allein war, —
spkllils IIII
»Nun. über was hat Herr Altdorser
sich m it Dir unterhalten?«
»Ued·er allerhand,« erwiderte Sel
tna naiv.
»Ganz genau will ich es wissen.
Alles» einzelne sollst Du mir sagen.
Er nt doch so ausgeräumt mit Dir
gewesen. Du mußt ihm doch sehr ge
fallen haben. Run, antworte.«
·Lustig war Herr Altdorfer aller
dings gewesen« besonders von der er
sten Zwischenpause an, aber was er
exgentiirh mit ihr gesprochen hatte,
darauf konnte sich Selma nicht mehr
besinnen.
»Du bist doch nach wie ein Kind,«
erwiderte Milchen angehalten —- «gar
nicht wie ein anderes Mädchen in
Deinem Alter. Es ist geradezu schreck
lich mit Ditt«
Altdorfer schritt feinem Hotel zu.
Inseiner Brust, in seiner Kehle, in
allen seinen Adern wiirgte etwas.
Den ganzen Abend hatte es darin ge
steckt, und es konnte nicht heraus. Sei
ne heimath waren die Berge, und
dart, wenn einem Menschenkinde die
Freude über das Herz quoll und ei
nen Weg heraus suchte, dann sprang
und tanzte man, schlug sich auf die
Lederhosen und stieß einen Juchzer
zum himmel, daß er zehnmal in den
Bergen widerhallte. Aber das durfte
man nicht, dasiir gehörte man zur Ci
vilisation, dafür saß man in der Pa
riser Oper, dasiir hatte man zurNachs
barin ein wohlerzogene5, gebildetes,
junges Mädchen, mit der man sich un
terhalten mußte.
Er hatte sie wiedergesehen. Jn den
ganzen drei Jahren hatte sie keinen
anderen gemacht. Sie hatte ihm ihr
Herz bewahrt, sein ganzes Verzichten
war dummes Zeug gewesen, und mor
gen —- morgen! Nem, er hielt's nicht
mehr aus.
»Juch!«
Etwas verwundert sahen ihn die
Vorübergehenden an·
Aus den Pariser Baulevardö ist
man manches gewöhnt, aber ein an
ständiger gehildeter Mensch, der hier
einen oherbaherischen Juchschrei in
die Lust steigen ließ, das war aller
dings etwas ganz neues.
S.
Am niichsten Tage war der Fiminel
mit trüben Wollen bedeckt. Ls war
Museumwetter. Vor dem grauen ern
stenPalaiZ des Luxembourg stand, Ge
wehr bei Fuß, ein militärischer Dop
pelposten. Fortwährend iamenFremde
mit rothen Reisehandbiichern, jedesmal
steuerten sie aus das Thor mit dem
Doppelpostenvjm und immer mußten
die beiden ann das Gewehr vor
strecken, und ihnen bedeuten, dajz hier
kein Eingang war. Aus den Banien,
in den breiten schattentosen Giin en des
riesigen Garten, saßen junge änner,
ernst in Büchern vertiest, Studenten
aus dem nahen Quartier latin, oder
auch sonstige eisrige Leser, die eben
bei den Antiquaren in den Kolonaden
des gleichsalls in der Nähe befindlichen
Odeontheaters einen interessanten Ein
iaus gemacht hatten. Und zwischen
den beiden Lesern, dem jungen und dem
alten, saß, einen Korb mit Wäsche aus
dein Schoß, ein blasses hübsch angezo
geneszzinges Mädchen, um sich sür ei
nige s inuten von dem weiten Wege,
der von dein einen Thor des Gartens
gieim anderen iilsiry auszuruhen Vor
m großen a enplatzh wo die Fon
taine rauschte, stand eine junge Dame.
Sie war von einein lustigen, piepsens
den lärmenden Schwarm Sperlinge,
auch Taurben darunter, umslattert,
und wars kleine Semmelstiickchen unter
sie. So nahe umflogen sie die zur-ring
lichen Gesellen, daß sie die Brocken ost
im lu e aufsingen. Ja, manchmal
stre te e ihnen einen aiis der stachen
and hin, oder sie legte ihn auf ihren
chge nen Arm oder ihre Schulter,
und d Burschen holten sich ihn ganz
ohne Scheu. Einer Taube gesiel ei so
W
wohl aus ihrem Plii chen, dem Arm,
daß sie gar nicht me davon wallte.
»Geh! —- Geh!« befa i ihr die Dame,
E aber sie mußte die Zudringliche erst von
« sich schütteln. So anmuthig der Anblick
war, so fiel es doch den Spaziergän
gern nicht ein,- die Don-e durch töte
Knbleiben oder Sichherandriingen zu
lästigen, oder gar boshait ihr die
Thierchen zu verscheuchen. Selbst die
Kinder spielten ruhig weiter.
Bier U r war vorüber-. hortenfe
wartete. csie hatte ihren Schleier her
untergezogen
Warum ließ er sie warten?
Sie hob jetzt den Schleier ein wenig
und legte einen Brocken zwixchen ihre
Lippen, sogleich stürzten ich zwei
Spatzen auf einmal darauf zu, einer
blieb Sieger, flatterte mit seiner Beute
davon und der andere folgte ihm
schimpfend
Altdorser stand längst in hortem
fe's Nähe. Er stand nicht weit von ihr
unter einem Maulbeerbaum. Nur
tonnte er sich von dem reizenden Bilde
nicht losreißem
Ein anderes, ein deutsche-s Mädchen
hätte sich vielleicht so etwas gar nicht
erlauben dürfen. Bei ihr war alles
Sicherheit, Tatt, Unbefangenheit. Wie
er das raue Kerlchen, das ihre Lip
pen küssen durfte, blos beneidete.
Allerdings hatte er sich ein wenig
verspätet. Ein geschäftliches Angek
niß war daran schuld. Als er vorhin
die Ausftellung verließ, nahm er fei
nen Weg wieder wie gewöhnlich durch
die französische Abtheilung Aus der
Maschine, die neulich seine Aufmerk
samkeit so gefesselt hatte, glänzte ihm
ein großer weißer Zettel entgegen:
»Vendu a la dille deVariS!« stand da
rauf. —- »Verlauit an die Stadt Pa
ris!« Was hieß das? Hing das mit
der bewußten Lieferung zusammen,
und hatte man diesem französischen
Machweri den Vorzug gegeben? Aber
das war wohl nicht möglich. Darüber
mußte er Gewißheit haben —- sogleich.
Aber wer gab ihm hier Bescheid?
Die in der Abtheilung anwesenden
Herren wußten von nichts. Vorläufi
mußte er auf die begehrte Auskunft
verzichten —- und hortense wartete
aus ihn
Es begannjeßt leise zu regnen,und
Hortense spannte ihren Schirm auf.
Von der Seite her trat er an sie
heran.
»Also doch,« lächelte sie, »wissenSie
auch,daß das nicht sehr galant ist, eine
Dame warten zu lassen?«
«äch könnte mich entschuldigen s-—«
» ein, ich will nichts hören· Und
nun kommen Sie! Dort in die Allee!'«
Sie raffte ihr Kleid auf, so daß der
seidene Jupon mit den Spitzenvolants
zu sehen war —er ging neben ihr her.
Der leichte Ton, den sie von An
fang an damit zwischen ihnen beiden
anschlag, nahm dem Gespräch sogleich
jede Beklemmung, Die Allee, nach der
sie den Weg nahmen, bildete in dem
Garten einen Theil fiir sich —- von
allen anderen war dieser am wenigsten
belebt.
»Zuerst will ich wissen,«' sagte sie
rasch, »wer das hübsche, junge Mäd
chen war, neben dem Sie gestern sa
ßen?'«
«Sind Sie eisersiichtig?«
Sie steckte ihn mit ihrem Wesen an
»Gewiß!«
Daß sie es gestern ganz im Ernst
trat, daß sie deshalb in der Nacht
schlaflose Stunden gehabt, das sagte
sie ihm freilich nicht. Ein einziger
Blick in sein Gesicht hatte sie schon be
lehrt, daß sie dazu keine Ursache ge
habt. Er erklärte ihr, wer Selma
Woc.
Sie blieb stehen, und er sah ihr in
vie warmen, glänzenden, b«raunenAu
gen. Sie trug einen breiten, vielbe
bänderten, modernen Strohhut, der
ihm sonst fast ihr ganzes Gesicht ent
zog
.Lieben Sie mich noch?« fragte sie.
»Ja — Hortenfe.«
Sie lächelte glücklich.
»Wie mich das freut!'«
Der Regen wurde stärker-, aber das
Lauödach unter dem sie gingen, be
ichützte sie.
Sie schwieg, und auch er wußte
nichts zu sagen.
So schritten sie nebeneinander her,
und mit ihnen ein großes stummeö
Glück.
Endlich wollte sie wissen, was ihn
her nach Paris geführt, und er mußte
ihr von sich erzählen. Alles, alles
wollte sie wissen. Sie sprachen fran
zösisch, nur manchmal warf sie, un
willkürlich wie früher in Mühlhausen
bei ihrer Unterhaltung mit ihm, ein
deutscheö Wort, einen deutschen Satz
dazwischen. Jhr Deutsch klang ganz
rein, ohne jeden fremdartigen Accent,
und sie sprach es mühelos.
Am Ende der Allee kehrten sie um.
»Wir wollen ganz deutsch reden,«
sagte si-, »du-m führe ich mich wievek
in Deutschland, und es ist Jhre Mut
tersprache. Jch will für Sie teine
Fremde sein« nicht einmal das Kind
eines anderen Volkes. Jch dachte, ich
hätte es verlernt —- aber Sie machen
in mir wieder alles lebendig — alleö!«
Warum durfte er sie nicht an sich
ziehen. um sie nie wieder aus seinen
Armen zu lassen? Und wie sollte es
nun zwischen ihnen werdens
»Was haben Sie Damals von mie,
als wir von einander schieden, ge
dacht?« fragte sie jetzt den Kopf zu
Boden gesenkt.
»Was Sie mir selbst gesagt haben.
Daß Ihnen der Gehorsame gen
ren Vater höher stand, als Zhrehl ei
amt«
W
Ein finsteter Ausdtuas trat in ihr
Gesicht.
»Mein Gehorsam gegen meinen Va
ter! Ja! Und was wäre mir auch an
deres iibrig geblieben? Jch war da
mals noch nicht einmal mündig. Jetzt
bin ich es. Und mit diesem einen Be
weise meines Gehorsams war es nicht
genug. Sie sollen jetzt alles wissen,
Altdorser. Jch soll einzn vernomme
nen Menschen heirathen, von dem sich
mein Vater täuschen läßt, und ich
weiß noch nicht, wie ich es von mir ab
wenden soll. Jch habe die Wa!)l, ent
toeder unter demselben Dache in einem
beständigen Zertoiiksniß mit meinem
Vater weiter zu leben, oder sein Haus
zu verlassen. Aber seit dem Tod mei
ner Tante habe ich anderswo keine
Zuflucht mehr. Niemand hilft mir.
Ich bin in diesem Kampfe ganz al
lein.«
Jhee Worte dersetzten ihn erst in
eine große Besiiitzung, dann hätte er
ausjubeln wollen.
»Dortense,« sprach er, »eine Zu
flucht suchen Sie, und wissen nicht,
tro? Muß ich sie Ihnen erst nennen?
Schenken Sie mir fest das Glück, das
Sie mir damals glaubten versagen zu
L mit-Hen» spenden Sienmeine Frau.«
L
vic squun u- ocu Its-U
Nein! Nicht so! Es würde mich
fiit immer mit meinem Vater, mit
allen Verhältnissen, an die ich gewohnt
bin, entzweien. Jch liebe Sie, Alt
dorfer, aber eben deshalb will ich nicht
wie eine Fliichttge, wie eine Abenteue
rin in Jhr Haus-. Mein volles Anse
hen will ich haben, wenn ich JhreFrau
werden foll! Mögen Sie mit Jhrer
deutschen Liebe anders denken —
alauben Sie mir, die meine ist nicht
schwächer-, wenn ich auch auf die Ver
nunft in mir höre. Und versuchen
Sie nicht, mich anders machen zu
wollen, quälen Sie mich nicht —- da
rum bitte ich Sie. Dafür verspreche
ich Ihnen, wenn die Noth an mich her
antritt, mich an Sie zu allererft zu
wenden. Darf ich mich in alledem auf
Sie verlassen?«
Eine faft männlicheFeftigteit sprach
aus ihr. Ja, er wollte alles thun,was
sie verlangte, auch von neuem wieder
seine anche bändigen, sein Glück wie
der davonflattern lassen.
Wohl eine halbe Stunde lang gin
gen sie in der Allee fchon so hin und
her. Niemand begegnete ihnen. Auch
der Garten hatte sich fast ganz geleert.
Hortense fah auf ihre Uhr. Es war
Zeit, sich zu verabschieden. Er bat
sie noch um ein Viertelstündchen
»Gut,« sagte sie wieder in ihrem
heiter-en Tone wie vorhin, »Sie fallen
mich noch bis zum Louvre begleiten,
dort will ich mir einen Wagen neh
men. Jch rninire mir bei dem Regen,
bei dem Schmutz, mein Kleid, meine
Schuhe.«
Es waren-Schuhe von weißemWild
leder mit weiß ladirten standen, die
sie trug, und zierlich, ohne ängftlichez
Verftecken, iugten sie unter dem Klei
derfaum, den sie andauernd in der
Hand hielt, hervor.
»Aber," lachte sie, .dafiir ist es ein
Liebesopfer.«
Sie verließen den Garten. Auf der
Straße wurde der Regen stärker, der
Weg führte iiber den Port des Arts,
und von der lußfeite her kam ein
heftiger Wind toß. Altdorfer wollte
jetzt selber, daß hortense gleich in
einen Wagen steigen sollte, aber
sämmtlåche Wagen, die doriiberrollten,
komva Ist
CI N
»Darf ich Jhiren wenigstens den
Schirm halten?«
Kaum hielt sie ihn gegen den Wind
noch aufrecht.
Sie ließ ihm den Schirm, aber um
sie genügend zu schützen, blieb nun
nichts übrig, als daß sie feinen Arm
nahm. Sie berührte ihn indessen nur
mit den Fingerspitzen, und diefe Be
rührung war für sihn mehr Falter als
Wonne.
Um acht Uhr sollte die Vorstellung
beginnen. Aber was zog man dazu
an? Die Damen waren fast verzwei
felt. Niemand wußte es —- felbit Alt
dorfer nicht. Dunkel oder hell oder
delolletirtt Endlich entschied sich Wil
helmine für ihr Graufeidenes und
Milchen fiir ihr Braunes. Selma
wurde natürlich in hell gesteckt. Gott
sei Dank hatte man fiir sie das hell
blaue Foulardne mitgenommen. Auch
Wilhelrnine fand, daß das »Kind'«
»wirllich reizend« darin ausfah. Mil
chen war fehr glücklch darüber. Ei
wurde auch so eingerichtet, dafz ihre
Billetnummer die neben Altdorfer
Wat
,,Und wenn here Altdorfer mit Dir
spricht, fei nicht auf den Mund gefal
len, und sei hübsch freundlich und ar
tig zu ihm! hast Du verstanden?«
» ,'« erwiderte das ,,Kind«.
Warum, dachte Selma, sollte fie
nicht artig und freundlich zu Herrn
Altdorfer sein? Er war doch ein gu
ter Mensch. Jhr Herz aber gehörte
Victor. Das hatte fee ihm geschwo
Der Abend lam.
Nach dem, was zwischen ihr und
ihrem Vater vorgegangen war, hatte
Hortense zu dem beschlossenen Befuch
in der Oper eigentlich wenig Lust ge
habn
»Para, das kann nicht Dein Ernst
-srin,« hatte sie ihrem Vater ruhig er
tvidert, als er ihr sagte, Graf Meutre
1eau. habe bei ihm um ihre Hand an
gehalten.
«Wag oll das heißen?" ent nei
der Qberllt streng. M
Gortfesung solgt.)