Grand Island Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1893-1901, December 10, 1897, Sonntags-Blatt., Image 15

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    I Greylocti gsood5.
l« Roman von Jotef TW
(22. FortseßungJ
Er eilte fort und lam mit zwei Dis
nern wieder, die die Thüre spren ei
mußten. Das Zimmer war leer! i«
Wintersonne schien durch die Fenster
in das Gemach hinein; auf dem Bo
den lagen das prächtige Atlastleid, der
Brautlchleier und die Orangenbliithen
—- die gesammte Trauungstoilette, wie
die Trägerin sie in wilder Hast von sich
geworfen hatte. Eine andere Thür,
die nach einem Antleidezimmer und
nach Pamelag Gemächern führte, stand
weit ofsen, wie um den Weg anzudeu
ten, den die Flüchtige eingeschlagen
hatte. Die Drei liefen hin und her
suchten, riefen ihren Namen, allein
Ethel blieb verschwunden.
29. Capitel.
Wir blickten einander rathlos an.
Sie war vor allen Anderen aus der
Kirche geeilt, hatte zu Hause ihren
Brautnnzug abgelegt und war dann
geslohen. Wohin?
Jch ran meine Hände. »Sie ist
gesiohen, o ne ein Wort zu hinterlas
sen!« rief ich. »Was wird in dieser
harten Welt aus ihr werden, aus ihr,
die nie gelernt hat, mit ihrer Hände
Arbeit ihr tägliches Brod zu verdie
nen!«
»Hm Niemand sie das Haus verlas
sen sehen?« fragte Sir Gervase.
»Nein,« antwortete die Haushälte
rin, »wir gaben nicht Acht daraus, da
wir nichts von den Vorgängen in der
Kirche gehört hatten und daher nicht
wissen konnten, dasz sie Gründe hatte,
sich aus diese Weise zu entfernen.'«
»Sie ist vielleicht noch im Hause,«
meinte Sir Gervase, »es ist kaum
denkbar, daß sie entflohen sein sollte,
ohne irgend einem Menschen ein Wort
davon zu sagen.«
Wir durchsuchten das Haus vom
Dach bis zum Keller, fanden Ethel
aber nicht. Allenthalben herrschte die
größte Verwirrung. Jn den luxuriö
sen Bibliothei lag Godsrey Grenlock
kalt und todt. Einige wenige Hoch
zeitsgiiste hatten die Leiche nach dem
Hause begleitet; sie entfernten sich in
dessen in turzer Zeit. Miß Pamela
hatte sich in ihren Gemächern einge
schlossen und ließ ihremJammer sreien
Laus. Die Dienerschast erinnerte in
ihrer rathlolen Bestiirzung an eine
heerde erschrockener Schafe. s
Sir Gervase allein war ruhig unds
gefaßt. i
Leu Hoptins,« sagte er zu mir; »sie«
»Bleiben Sie vorläufig bei der ai
wrzd Jhres Veisiandes bedürfen. Jch ?
i
mich nach Miß Greylock umzufel)en.J
Vielleicht bringe ich sie mit mir zurück. E
Er nannte Man bei ihrem alten,.Na
men; ich hielt dies fiir ein gutes Zei- i
chen. l
»Sie muß aufgefunden werden,« J
fügte er hinzu, »und zwar auf der
Stelle!« «
»Gott segne ihn für diese Worte!«
flüsterte mir die Haushalterin in's»
Ohre s
Er machte sich allein auf den Weg. :
Mit Hilfe der Dienstboten räumtenj
wir das Hochzeitsfriihstiict, das vons
Niemandem berührt worden war, aus l
dem Weg und verschlossen das Haus. z
Als der Leichenbesorger sich mit seinen t
Gehilfen einstellte, zoq ich mich nach’
dem Zimmer der Haiishälterin zurück,
um dort die Rückkehr des Baronets ab
zuwartem
Eine Stunde verging. Das Schwei
gen und die Finsterniß, die im ganzen
Hause herrschten, lafteten wie Blei aus
meinem Herzen. Wohin mochte Ethel
Grehlocl, wie man sie noch immer
nannte, gegangen fein? Ob es demx
Baronet gelingen würde, sie zu finden? i
Wenn nicht« so mußte ich mich selbst T
der Nachforschung unterziehen. Esi
schien, alö ob es stets meine Aufgabe
sein sollte, die arme Nan zu suchen.
Wie sehr auch Sir Gervase die Un
glückliche bemitleiden mochte, die eins
und derfelbe Augenblick ihres Namens,
ihrer Verwandtschaft und ihres Ver
mögens beraubt hatte, so war doch1
nicht daran zu denken, daß das alte
Verhältnifz wischen den Beiden je wie
der hergeste t werden könnte. Von ei
ner Heirath würde sicherlich teine Rede
mehr sein. Er war ein Englander s
und ein Greylock, mit sämmtlichen fei- I
nein Rang und Stande eigenthiimli-—- s
chen Vorurtheilem Nein! Nan hatte «
ihren hochgeborenen Bräutigam sicher-: s
lich siir immer verloren. s
»Und dennoch, fofern ihr tijnftigeg
Lebensgluck in Betracht kommt,« seufz
te ich vor mich hin, ,,war es besser, dafz
Hannah Johnfon fünf Minuten vor
der Ceremonie sprach, als wenn sie esl
fünf Minuten nachher gethan hätte.« i
Eine Thür ging hinter mir auf; als
ich mich umblickte, fah ich hannah
Johnfon felbft, die in dass-Zimmer her
eingrinfte.
Sie hatte erwartet, die Haushälte
tin zu finden; als sie mich, eine Frem
de, erblickte, trat sie einen Schritt zu
rück und ihr Gesichtsausdtuck verän
derte sich.
»Wer find Sie?« fragte sie.
Jch ftand auf.
»Das kann Jhnen gleichgültig fein,«
erwiderte ich und fii te dann hinzu,
als ich einen ReifefFawl auf ihrem
Arme und eine Reifetafche in ihrer
Dandckewahr wurde: »So hat Mrs.
Iris rehloct Jhnen endlich den Lauf
pcb gegebeni Natürlich tonnten Sie
nichts Anderes erwarten, nachdem Sie
Jhre herein verrathen hatten.«
Sie schien verwirrt.
»Woher kennen Sie mich?« forschte
sie, indem sie dreist in das Zimmer
. trat. »Aha! Sie sind das Mädchen,
; das in der Kirche neben mir saß.«
Jch blickte ihr fest in die boshaften
; Augen.
; »Den!en Sie etwas weiter zurück,
« erwiderte ich. »Es waren einmal zwei
Kinder, Hannah Johnson, die vor der
Thür eine Ladens in New York bet
telten —- zwei Kinder, die bei Groß
mutter Scrag in der Harmony Alleh
wohnten — zwei Schwestern, obwohl
sie einander sehr unähnlich waren. Die
Aeltere von den Beiden, der »schwarze
Satan«, hatte ein störteres Gedächtnisz
als die Jüngere. Jch bin die Aeltere.«
Hannah Johnson fuhr zurück.
»Ah! Jch erinnere mich des kleinen
Balges; Pollh nannte sie sich, und es
war in der That ein kleiner Satan.
Zwei oder drei Tage später begab sich
Mrs. Grehlock mit Ethel nach der
Stadt, und derselbe kleine Teufel lief
wie besessen hinter ihrer Kutsche her
und gerieth unter die Räder der Fuhr
werte. Wir freuten uns schon, denn
wir dachten, daß der Balg seinen Ver
letzungen erlegen sei. Nun, haben Sie
sich Jhrer Schwester zu erkennen gege
ben? Wird Sir Gervase sie doch noch
heirathen? Heute habe ich eine alte
Schuld getilgt. Jch bin jetzt mit Ethel
und der ganzen Greylockschen Brut
quitt. Es war die reine Wuth, die
den alten Großmogul tödtete. Wer
jetzt wohl sein Vermögen erben wird?«
Jn diesem Augenblick ging die Thür
aus und Sir Gervase trat herein.
»Was haben Sie hier zu schaffen?«
redete er Hannah Johnson an.
Sie wich einen Schritt zurück, denn
sein Blick war unheilvertiindend.
»Ich habe aus dem Bahnhof von
Blackvort von ihr gehört,« antwortete
sie. »Ich verlasse die Rosen-Van fiir
immer und wünsche meinen Freunden
hier Lebewohl zu sagen. Sie sind mir
zu Dank verpflichtet, Sir Gervase, daß
ich Sie vor einer solchen Heirath be
wahrte; allein die vornehmen Leute;
sind in der ganzen Welt undankbar.«
»Fort von hier!« befahl er kurz, in
dem er auf die Thür wies.
,,Adieu, Pouy!" tagte Vannay, zu»
mir gewandt. »Sie können Jhre
Schwester jetzt zu Jhrer sauberen
Großmutter zurückbringen. Wir ha
ben eine seine Dame aus dem Balg
gemacht; sie lebte hier herrlich und in
Freuden. Jetzt mag sie nach ihrem hei
mathlichen Stall zurückkehren, denn
dorthin gehört sie mit all' ihren ge
zierten und hochmüthigen Manieren.
Jhren Zweck bei den Grehlocks hat sie ;
erfüllt; jetzt mag sie die trunkene Hexe ;
wieder aufsuchen!« j
Mit diesen Worten verließ Hannah I
Johnson das Zimmer. i
Jch wandte mich nun begierig zu i
Sir Gervase Greyloct.
»Was site Nachrichten bringen
Sie?« fragte ich.
»Ich wollte noch einige Worte mit
der alten Hoptins reden,« stammelte
er ernst. ,,(Line dicht verschleierte Da
me kaufte dort ein Billet nach New
York und reiste mit dem Mittagszuge
ad. Sie sprach mit Niemandem; sie
war allein und ohne Gepack; der Sta
tionsmeister hielt sie siir eine Fremde.«
Dann heftete er seine grauen Augen
mit einem eigenthijmlich prüfenden
Ausdruck aus mich und suhr sort:
»Was wollte jenes Weib damit sagen,
als sie behauptete,Sie seien Mifz Gren
locks Schwester? Jst es wahrt«
Jch sah ein, daß ich jetzt nichts Klü
geres thun könne, als dem Batonett
meine und Nans Geschichte mitzuthei- !
len. Jch that es, ohne mich allzu sehr
in Einzelheiten zu verlieren; von mir
selbst redete ich so wenig wie möglich.
Sir Gervase hörte mich aufmerksam !
an. Wenn er noch einen geheimenf
Zweifel an der Wahrheit von Hannah
Johnsons Enthüllungen gehegt hatte,
so mußte ihm meine Mittheilung die
sen siir immer benommen haben.
Nach einer Pause sagte er mit leiser
Stimmu
-.-«-- a st
»Sie sind also nicht sicher, oakz ore
alte Scrag wirklich Jhre Großmutter
war?"
»Nein! Sie nannte Nan und mich
ihre Entelinnenz einen anderen Beweis s
hatten wir nicht.« ;
»Sie zweifelten sogar zuweiicn da- s
ran, daß Nan Jhre Schwester sei?«
fragte er weiter.
»z-a,« seufzte ich. »Sie können sich
darüber nicht wundern; Sie haben uns
Beide ja gesehen und den großen Un
terschied wahrgenommen, der in allen
Dingen zwischen uns ohwaltet.«
Er schritt zwei- oder dreimal im;
Zimmer aus und ab Und suhr dann;
fort: ’
»Bor allen Dingen handelt es sich
nun darum, Großmutter Scrag zu
finden, wenn die alte Hexe noch am Le
ben ist· Es ist sonderbar, daß Sie nie
daran dachten, sie auszusuchem um die
wirllichen Beziehungen dieses Weibes
zu Ihnen und Nan zu ersahren.«
»Mein Abscheu vor der Alten und
der Gasse war so groß, daß nichts mich
dazu vermocht hätte, dorthin zurückzu
lehren. Ueberdies würde Scrag mir
die Wahrheit nicht gesagt haben, unds
wenn ich sie aus den Knieen darums
geheim hätte. Sie haßte mich von je- «
her weit mehr als Nan.«
»Ein Geldgeschenl wäre vielleicht im
Stande, ihr den Mund zu össnen,«
»Ohne Zweifel, sie war von jehek
sehr geld ierig.«
Sie servase wars einen Blick aus
seine Uhr. Jch konnte deutlich sehen,
daß er ties erregt war.
I »Es ist höchstwahkscheintich, daß die
alte Hexe weder mit Jhnen noch mit
Nan verwandt ist,« fuhr er fort. »Ja
einer halben Stunde geht ein Zug von
Blackport ab. Machen Sie sich bereit;
wir wollen unverzüglich die Harmoan
Alley aufsuchen —- jeder Augenblick ist
kostbar. Jch fürchte nur, daß die Alte
längst schon den Weg alles Fleisches
gegangen ist. —- Sie sagten mir, daß
sie vor zehn Jahren schon sehr alt aus
gefehen habe?«
,,Ja,« antwortete ich; »wahrschein
lich war sie aber nicht mehr als etliche
sechszig Jahre alt, obwohl sie viel äl
ter aussah«
Die Kutsche stand vor der Thür.
Sir Gervase rief die alte Hoplins her
bei und theilte ihr den Zweck unserer
Reise nach New York mit.
Gegen diesen Zweck trat alles Ande
re, selbst der Todte in der Bibliothek,
in den Hintergrund. Für mich ab es
jetzt nichts Wichtigeres als die ahr
heit in Bezug auf Nan, ihre Geburt
und ihre Eltern zu entdecken. An mich
selbst dachte ich gar nicht. Es war für
mich ja nicht von der geringsten Bedeu
tung, ob ich mit Großmutter Scrag
verwandt war oder nicht; allein, meine
schöne, flüchtige Nan! —- wie inbrün
stig hoffte ich, daß uns in Bezug auf
sie glücklichere Auskunft zu Theil wer
den möchte!
Zwanzig Minuten später standen
Sir Gervafe und ich auf dem Perron
des Bahnhofs von Blackport und blick
ten dem Zug entgegen, der eben über
die gefrorenen Salzwiesen heran
dampfte. Es war ein Trost für mich,
Nans Fußspuren so rasch folgen zu
können. Sie war nach der großen
s Stadt geflohen; vielleicht wollte es der
Zufall, daß wir ihr dort begegneten—
vielleicht war es auch ihre Absicht, Har
mvnysAlley und Großmutter Scrag
aufzusuchen.
»Doch nein,« dachte ich, ,,sie erinnert
sich der Gasse nicht mehr —- sie war
noch so llein, als sie von dort wegge
bracht wurde. Und Hannah Johnson
gestand ja selbst die schändlichen Mittel
ein, die angewandt wurden, um sie Al
les vergessen zu machen.«
sein oem rauen, rruoen Dezenniu
Nachmittag stiegen wir in dem Bahn
hof zu New York aus. Unser Aeuße
res ver-rieth nichts Merkwürdiges. Die
alte Hopkins hatte mir einen dichten
Schleier um den Hut befestigt und ih
ren eigenen warmen Shawl um meine
Schultern geworfen. Sir Gervase
trug einen langen grauen, bis zum
Halse hinaus zugetnöpsten Ueberzieher,
in welchem er alltäglich genug aussah.
Kein Mensch würde einen Edelmann
in ihm vermuthet haben.
Als wir denZug verließen, bestürm
te er die Bahnbeamten mit Fragen,
doch leider vergeblich. Hunderte von
Damen waren seit Mittag angekom
men und abgereist. Ebenso gut hatte
man eine verlorene Nadel in einem
Hausen Heu suchen können. Aus dem
Bahnhos war keine Auskunft überNan
zu erlangen.
»Hier konnte ich allerdings nichts er
warten,« erklärte Sir Gervase traurig.
Dann miethete er eine Kutsche und
wir suhren nach der Harmony-Alley.
Mein Herz pochte gewaltig, als wir
uns dem schmutzigen Viertel näherten,
wo das Micthshaus stand. Auf allen
Seiten traten mir bekannte Gegen
stände vor die Augen. Wenige Ver
änderungen hatten in dieser Gegend
stattgefunden.
Beim Eingang der Allen hielt die
Kutsche an; Sir Gervase und ich stie
gen aus.
Jch blickte mich um.
,,Ja,« sagte ich, »dies ist der Platz.
Und hier ist auch das alte Haus-. Wol
len Sie warten oder wollen Sie mit
mir kommen? Es war in jenen Tagen
eine schreckliche Spelunke.«
»Ich begleite Sie,« antwortete er;
»gehen Sie voran!«
Jch schritt die wohlbekannte Alley
hinab, die noch ebenso schmutzig war
und in der es noch ebenso von Stra
ßenjungen wimmelte, wie in den Ta
gen meiner Kindheit.
Wir traten endlich in einen duntlen
Hausflur ein, wo zwei leifende Weiber
mit ungetömmten Haaren und von
Schnaps gerötheten Gesichtern einan:
der ein witthendes Treffen mit
Schimpftvorten der gröbsten Art lie
fetten.
,,Madame,« sagte Sie Gervase, in
dem er einen der beiden Drachen höf
lich anredete, ,,tönnen Sie mir vielleicht
sagen, ob eine alte Frau Namens
Scrag in diesem Hause ivohnt?«
Die beiden Werber hielten in ihrem
Wortgefechte inne und starrten uns
an. Eine Person von anständigem
Aussehen war in Oarmony-Alley ein
seltener Anblick. Jch wartete mit ver
haltenem Athem auf die Antwort des
Weibes.
Endlich kam diese mit ztvei oder drei
Flächen vermischt.
,,Grofin1utter Serag? Das ist die
Hexe in der Dachstube. Sie erwirbt
sich ihren Unterhalt mit Betteln auf
den Straßen. Ja, junger Mann, fol
gen Sie nur Jhrer Nase jene Treppe
hinauf, bis Sie nicht weiter können;
dort werden Sie das Quartier der Al
ten finden!«
Ich ging voran; Sir Gervase folgte.
Ja, es war noch dieselbe alte, wacke
lige Treppe, auf der ich gar manchen
heißen Kampf mit Pietro ausgefochten
hatte; fast schien es mir. als müßte ich
ihm und seinem Vater, dem Orgeldre
her mit dem Affen, begegnen. Da wa
ren noch dieselben dunklen, übelriechen
den Treppenabsiitze, dieselbe in ihren
Angeln tnarrende Dachtammerthiir
am Ende der obersten Treppenflucht
nnd im Innern die Hölle meiner Kind
heit, die Dachstube, "in der ich mit Nan
gelebt und gelitten hattet
Jch öffnete die Thür, die nie ver
schlossen werden konnte. Das schmutzi
ge »Skylight«, der Wandschrant, das
Lumpenbett, der zerbrochene Ofen —
Alles war noch da; allein keine mensch
liche Seele befand sich in der Kammer.
,,Dies ist die Stube,« sagte ich zu
lSir Gervase; ,,allein die Alte ist nicht
ier.«
»Wir müssen auf sie warten,« ant
wortete er.
Es brannte kein Feuer in dem Ofen
und bittere Kälte herrschte in der Stu
be. Sir Gervase begann in der Kam
mer aus und ab zu schreiten.
,,Sehen Sie sich in diesem Zimmer
um,« sagte ich, »und denken Sie dann
an Greylock Woods und das Leben,
das Nan dort führte! Denken Sie an
den Luxus, an die Liebe und Sorgfalt,
womit sie Jahre lang umgeben war.
Sie werden ohne Zweifel sagen, daß
Godfrey Greylock und seine Schwester
schändlich hintergangen, daß Sie selbst
durch diesen Betrug zu bitterem Leiden
verdammt wurden; ich sage Jhnen
aber, daß meine arme Schwester durch
diesen Schlag am schwersten von Al
len betroffen worden ist! Aus einem
solchen Eden wie Grehlock Woods nach
einem solchen Platze wie diesen zurück
verstoßen zu werden — Gott erbarme
sich ihrer!« Jch schlug heftig die Hän
de in einander, denn ich selbst wußte
nur zu gut, was es hieß, arm, hei
mathlos und sreundlos zu sein.
Er war eben im Begriff zu antwor
ten, als wir schwere Fußtritte und ei
nen keuchenden Athem auf der Treppe
vernahmen. Die Thiir ging auf; eine
tiefgebückte Frau wankte mit einem
Stock in der Hand und einem alten
Korb in der andern in die Kammer.-—
Es war Großmutter Scrag.
Es schien mir, als ob ihr zerlump
tes Kleid und ihr durchlöcherterShawl
noch dieselben waren, die sie in den Ta
fgen meiner Kindheit getragen hatte;
? jedenfalls strömten sie den wohlbekann
ten Schnapsdust aus. Jhr häßlicheg,
mumienähnliches Gesicht, ihre steifen,
grauen Haare, ihre herborstehenden
Knochen waren unverändert. Sie blieb
bei unserem Anblick plötzlich stehen und
lief-, ihren Korb auf den Boden sinken.
»Wer seid Jhr und was wollt Jhr
hier?« fragte sie mit krächzender Stim
me, indem sie bald den Baronet, bald
mich anblictte.
SirGervase trat auf sie zu und ant
wortete: »Wir haben wichtige Geschäf
te mit Euch, gute Frau. Wer wir sind,
kommt vorläufig nicht in Betracht.
Was wir wollen, ist Auskunft über
zwei Kinder, die einst hier bei Euch
lebten —- zwei kleine Mädchen Namens
Nan und Polly. Jhr nanntet sie Eure
Enkelinnen.«
Die Alte ließ sich auf einem halb
zerbrochenen Stuhl nieder. Trotz ih
rer Bosheit konnte ich nicht umhin, sie
zu bemitleiden.
Sie zog den zerlumpten Shawl dich:
ter um ihre Schultern und antwortete,
vor Alter, Kälte oder Aufregung zit
ternd: »So, also wegen jener Bälge
kommt Jl)r?« Dann fügte sie mit ei
nem verschmitzten Blinzeln ihrer einge
snnkenen Augen hinzu: »Was wollt
Jhr iiber sie wissen?«
Jch hatte dem Baronet ihre schwache
Seite angedeutet. Er zog eine Rolle
Banlnoten aus der Tasche und erwi
derte: »Vielerlei, Alleg, was Ihr uns
über sie mittheilen könnt. Seht Jhr
dieses Geld? Es soll Eurer sein, wenn
Jhr meine Fragen in Bezug auf jene
Kinder beantworten wollt.«
Sie warf einen gierigen Blick aqu
die Noten und sagte: »Das will ich,
Sir! Jch lriege jetzt nur wenig Geld
zu sehen. Die Zeiten sind schlecht, und
das Betteln ist nicht mehr so einträgs
lich wie früher. Es ist, als ob dieMem
schen von Jahr zu Jahr hartherziger
würden. Jch bin alt und arm, Sir,
; und stehe allein in der Welt; das habe
s ich einzig jenen beiden Bälgen zu ver
s danken. Jch hätte für Nan mehr er
halten sollen. Hundert Dollars war
kein Preis für ein so bildschöneg Kind.
Jener Handel hat mich ruinirt.«
JU) Ucllllswlc lllull langer zu Irr-tun
gen; trotz meiner Abneigung rief ich
: aus: ,,Sagt die Wahrheit, Großmut
ltcki Ihr müßt die Wahrheit sagen!
i Waren jene Kinder Euer eigen Fleisch
j und Blut? Hattet Jhr ein Anrecht auf
» sie? Es ist Nan, an der uns am mei
sten gelegen ist; das Rind, dathr hier
in dieser Dachstube an ein fremdes
Weib verkauft habt. Sie war so ver
schieden von Euch wie der Tag von der
Nacht. Sie konnte nicht Euer Fleier
und Blut gewesen sein es ist zu un
glaublich! Sagt die Wahrheit, die
Wahrheit! Was war ihr rechter Name?
Wie seid Jhr in ihren Besitz gekom
men?«
Sie wandte sich betroffen um und
warf mir einen durchdringenden Blick
zu. Meine Stimme mußte ihr be
tannt vorgekommen sein. Jch bin fest
überzeugt, daß sie mich in diesem Aus
genblick wieder erkannte.
»Wie ich zu Nan gekommen bin?«
wiederholte sie; «nun, meinetwegen
möget Ihr die Geschichte wissen.«
Sir Gervase und ich horchten mit
athemloser Spannung. Großmutter
Scrag sann einen Augenblick nach und
erzählte dann: »Ich hatte einst eine
Schwiegertochter, die Wittwe meines
- einzigen Sohnes-der ein Matrose war
und aus seiner ersten Seereise nach sei
ner Verheirathung umlam. Judith
wohnte bei mir — sie war ein gutes
und braves Geschöpf. Nun, da sie noch
jung war, so heirathete sie nach einiger
Zeit wieder; ihre zweite Wahl fiel aus
einen leichtsinnigen Burschen — einen
Tänzer in einem Baristå - Theater.
Er verlor bei einem Streit mit etlichen
betrunkenen Kameraden sein Leben,
und bald darauf starb auch Judith,
nachdem sie ein Kind geboren hatte,
das sie meiner Pflege überließ. Dieser
z Balg war Nan. Sie war das Eben
J bild ihres Vaters, Jack Harkneß —- er
wurde von seinen Genossen der hübsche
Jack oder der leichtfüßigeJack genannt
— er hatte ein hübsches Gesicht und ein
Paar merkwürdig gewandte Füße.
Jetzt sagt, hatte ich ein Anrecht auf
Nan oder nicht? Und,« fuhr sie mit ei
nem lauernden Blick fort, »was geht
das Alles Euch an? Woher wißt Jhr
überhaupt, daß damals eine Nan und
eine Polly hier lebten?«
»Gott sei Dunkl« rief ich aus. »Sie
war also nicht Euer Blut! Sie war
in keiner Beziehung mit Euch ver
wandt!«
»Ich denke, Jack Harineß’ Blut war
nicht besser als meines,« erwiderte die
Alte höhnisch. »Man war das Kind
meiner Schwiegertochter aus ihrer
zweiten Ehe. Sie hatte keine Verwand
ten in der Welt, als ihre Mutter starb;
ich war ihre nächste Anverwandte, und
somit gehörte sie mir.«
Also war Nan ein Kind der Armuth
und des Mangels sie, die Schöne, die
Königliche! Jch ionnte nur an eine
Lilie denken, die aus einem Sumpfe
emporwächst.
Der Baronet sprach kein Wort; sein
Gesicht war wie versteinert.
»Gar oft habe ich es bereut, Nan
weggegeben zu haben,« fuhr die Alte
fort. »Der Preis, den ich für sie er
hielt, war zu gering; und ich bedarf ih
rer jetzt, für mich zu arbeiten, mich zu
verpflegen, wie Judith, ihre Mutter,
es thun würde, wenn sie noch am Leben
wäre. Jhr Beide da müßt Freunde
von ihr sein, sonst würdet Jhr mich
nicht so ausfragen. Wo ist sie?« Bei
diesen Worten stand die Alte plötzlich
auf. »Ich will sie zurück haben; sie
muß jetzt ein schönes erwachsenesMäd
chen sein.«
Der Baronet machte eine abwehren
de Geberde und erwiderte: »Setzt Euch
wieder, Mes. —, um Vergebung, Jhr
habt mir Euren Namen noch nicht ge
nannt.«
»Mein Name ist Black, junger Herr.
Allein man hat mich schon seit zwan
zig Jahren nicht bei diesem Namen
genannt.« "
,,Setzt Euch also, Mrs Black,« fuhr
Sir Gervase fort. »Gegenwärtig wis
sen Nans Freunde selbst nicht, wo sie
ist; sie hat diese unter eigenthümlichen
Umständen verlassen. Jhr habt uns
aber erst die Hälfte Eurer Geschichte
erzählt. Es waren zwei Kinder, und
nur das eine gehörte der Wittwe Eures
Sohnes-. Wer war das andere?«
Die alte Hexe schielte den Baronet
seitwärts an. »Ihr meint die schwar
ze Polly? Oh, das ist eine andere Ge
schichte!«
Erklärt Euch! Die Kinder konn
ten nicht Schwestern gewesen sein.«
Sie wandte sich plötzlich zu mir und
sagte: »Nein, sie waren keine Schwe:
stern. Vielleicht möchtet Jhr gern Et
was über Polly hören, Miß?«
Bis zu diesem Augenblick hatte ich
nicht an mich selbst gedacht; jetzt aber
erwachte meine schlummernde Neu
gierde. »Gewiß,« antwortete ich begie
rig.
»Ich bin ein armes, verlassenes al
tes Weib!« jammerte Großmutter
Scrag; »ich muß mir mein Brod von
Thitr zu Thür erbetteln und habe kei
nen anständigen Fetzen auf dem Leib.
Seht Jhr nicht, daß ich vor Frost zit
tere? Werft doch Euren schönen
Shawk um meine alten Schultern,
Miß.«
Jch gehorchte; es war der Shawl
der altenHopkins, allein ich dachte nicht
daran.
.-. . - - .- »«»-I·s-t.
»Es Isl clllc sollt-jemals Ursuhluyrc
mit Pollh,« sing sie nunmehr an,
»und der Art und Weise, wie ich zu
ihr lam. Jch weiß eigentlich selbst
nicht, wer sie ist, —— ich wußte es nie.
Ehe Judith den hübschen Jact heirathe
te, wohnten wir zusammen im westli
chen Theile der Stadt und verdienten
unseren Unterhalt mit Waschen und
der Verpslegung armer Säuglinge. an
einer Winternacht —- es sind schon viele
Jahre her —- kam ein hübscher, junger
Mann, der das Aussehen eines Genue
man hatte, mit einem tranken Babh
in den Armen, zu uns. Es war ein
elendes, kleines Ding, nichts als Haut
und Knochen, und sah aus, als cb es
bereits dem Tode verschrieben wäre.
Judith und ich dachten, es könnte den
s Morgen nicht mehr erleben. Der junge
s Mann schien sehr bekümmert zu sein;
i er ließ sich indessen auf keine Erklärun
! gen ein, sondern sagte, er müsse die
Stadt noch in derselben Nacht verlassen
u. könne dasBabh nicht mitnehmen; es
wäre ihm lieb, wenn wir es bis zum
folgenden Tage behalten wollten. Er
sagte, es sei seine Tochter, und nannte
uns offen und ehrlich seinen und ihren
Namen. Judith versprach ihm, das
Kind zu verpflegen; darauf gab er
uns eine Bantnote und einen Ring, in
den einige Buchstaben eingrabirt wa
ren, worauf er sich entfernte· Von je
ner Nacht an haben wir ihn niemals
wieder gesehen.
Judith verpflegte das trante Baby,
als ob es ihr eigenes gewesen wäre;
allmälig fing es an, sich zu erholen,
und endlich wurde es gesund· Als
wir sahen, daß der Vater nirlkt zur-ic
kam, gab ichJudith den Rath. Das-Kind
auf die Straße zu werfen, sllein sie
wollte nicht und that es an s) nicht«
Sie behielt es, denn sie beharrt-Este stets,
der Vater sei ehrlich und werde gewiß
eines Tages kommen, um uns sil- .
sere Mühe zu bezahlen. Die Kiei
des jungen Dinges waren alle mit s
nern Namen bezeichnet; Judith hob
so sorgfältig auf, als ob sie von Gol
wären, denn sie sagte, sie möchten ei
Tages von großem Werthe fein, n «
dern Kinde zu feinem Rechte in «
Welt zu verhelfen.
Jch haßte die Kleine von Anfang »
ebenso sehr, wie Judith sie liebte. E .
war ein dünnes, braunes Ding mi
kohlschwarzen Augen und einem Fle «
auf der einen Schulter —- einer Ar ,
Muttermal. Allein Judith hing se
an dem Kinde und sagte, sie wolle
behalten, ob sie jemals dafür bezahl
würde oder nicht.
Als wir den Balg ungefähr ein
» Jahr gehabt hatten, heirathete Judith
den Jacl Harkneß und gab ihre übri
« gen Pfleglinge weg, nicht aber die
schwarze Polly; von der wollte sie nicht
lassen; und als sie ein weiteres Jahr
bei uns gewesen war, starb Judith und
überließ die Kleine mir. Kurz vor
ihrem Ende mußte ich ihr schwören,
daß ich Polly nicht weggehen wolle, es
sei denn, daß ihre Anverwandten sie
beanspruchten; dafz ich sie mit ihrer
kleinen Nan verpflegen und die Baby
kleider und den Ring sorgfältig aufbe
wahren wolle. Um sie zu beruhigen,
schwor ich, wie sie von mir verlangte.
So lud ich mir denn Polly auf den
Hals. . g
Sie hatte dieseGeschichte wahrschein- »
lich noch keinem Menschen erzählt. "
Plötzlich hielt sie inne, hüllte sich dichter
in den Shawl der Haushalterin und
stöhnte jämmerlich. Nach einer gerau
men Pause fuhr sie fort: »Das- Herz
brach mir, als Judith starb; um mei
nen Kummer zu betäuben, griff ich zur
Ginflasche. Es wurde mir immer
schwerer, die beiden unnützen Välge zu
ernähren, und so mußte ich mich end
lich in dieser Alley niederlassen und die
Kinder auf die Straße schielen, um zu
betteln.«
Plötzlich rief der Baronet: »Wo find
die Dinge, Von denen Jhr redet — die
Kindertleider und der Rinng — habt
Jhr sie behalten, wie Jhr Eurer
Schwiegertochter auf ihrem Sterbe
bette gelobtet?«
Die Alte nickte und sagte: »Ja, ich«
habe sie behalten. Jch war oft genug
in Versuchung, sie zu verlaufen,
manchmal für Brod und manchmal für
Gin. Dann aber dachte ieh stets- wie
der, daß der Vater des Kindes eine-Z
Tages erscheinen, mir dieDinxxe satt-unt
dem Balg aboerlangen nnd mxch dafiir
bezahlen möchte. So behiIIt ixh denn
den ganzen Plunder.«
»Bringt sie mir her!« befahl Sir
Gerbase.
Sie erhob sich mit Mühe und
hinkte nach einer Ecke der .Dachstube, zu
dem Wandschrant, in dem sie ihre zu
sammengebettelten Speisereste und die
Ginflasche aufzuwaahren pflegte.
Dort stöberte sie geraume Zeit umher,
während der Baronet und ich sie stumm
beobachteten. Endlich hob sie ein-zer
brochenes Brett in die Höhe und
brachte ein in braune-Z Papier geschla
geneg und mit gewöhnlichem Bindfa
den umwickeltes Packet zum Vorschein.
Sie öffnete es und nahm eine kleine
Rolle vergilbter Kinderwäsche und ei
nen Ring heraus, der einem großen
rothen Stein, einem Rubin, zur Fas
sung diente.
Der Baronet nahm den letzteren in
die Hand, während ich mit zitternden
Händen die winzigen Kleidungsstiicke
ergriff. Sie waren von feiner Lein
wand; auf den altersgelben Bändern
war ein Name noch immer deutlich zu
lesen. Jch buchstabirte ihn mit Mühe,
denn es war bereits dunkel in der
Dachstube, und wandte mich dann mit
bestürzten Blicken zu dem Baronet.
Dieser reichte mir den Ring dar.
Auf der inneren Seite sah ich ein Wap
penfchild und die beiden Buchstaben
»li. G.« in den goldenen Reif eingra
virt.
Ich deutete auf den Namen auf der
Kinderwäsche und sagte: ,,Lesen Sie
und sagen Sie mir, ob ich wahnsinnig
bin oder nicht!«
«-.--.-..-,« n«-.:.«- «
Sir Gervase las mit lauter Stimme
den Namen: ,,Ethel Greylock.«
Trotz des bedeutsamen Ausdruckes
in dem Blicke des Baronetg vermochte
ich die Wahrheit Anfangs nicht zu
glauben.
»Das ist wunderbarl« rief er.
«Können Sie es begreifen? —-— Kön
nen Sie es glaube-M« murnielte ich,
indem ich bald ihn, bald Großmutter
Scrag anblictte.
»Ja, ich glaube es, und ich begreife
es,« antwortete Sir Gervase. »Heute,
auf der Rückkehr von der Kirche, ge
stand mir Mrs. Iris-, daß ihr Gotte
das lranke Kind hinweggenommen
habe, nachdem sie es an jenem Abend
Verlassen — daß er es einer eingeschla
senen Wärterin gestohlen habe. Auch
gab sie zu, daß sie niemals positive Be
weise von dem Tode des Kindes gehabt
habe, da kein Mensch wußte, wo Robert
es aelassen.«
Jch hielt den Athem an.
»Hier ist das Grehlocl’sche Wappen
in den Ring eingravirt,« fuhr der Ba
ronet fort. Robert kam nie zurück, um
seine Tochter abzuholen, weil der Tod
ihn in jener Nacht ereilte, als er das
Kind Judith Block übergab. Polly,
mir ist Alles vollkommen klar. Die
Stellung, die Nan heute räumte, sollen
Sie fortan füllen. Göttliches nnd
menschliches Recht spricht sie Ihnen zu,
denn so wahr wir hier in dieser Dach
stube beisammen fiehen,’Sie sind Ro
bert Grehlocks Tochter!«
(Fortseßung solgt.)