Grand Island Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1893-1901, September 03, 1897, Sonntags-Blatt., Image 11

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    "Eret)lock Woodkk
Roman ron Jofcf TMMM
(8. Fortsehunad
Oannah gehorchte; sie war selbst
ebenso erreag wie ihre herrim Der
unbezahtte ohn von zwei Jahren
tauch«te in ihrer Erinnerung aus; viel
leicht zeigte sich dieser reiche Mann ge
neigt, die Schulden ihrer Gebieterin zu
berichtigen. Die Beiden stiegen mit
dem Kinde die Treppe hinab und nah
men ihre Sitze in der Equipage ein.
Die Vollblutpserde setzten sich in Ve
wegung und flogen mit Windesschnelle
von Backport nach den Pforten von
Grenlock Woods.
Jris lehnte sich in den weichen Pol
stern des Landauers zurück und drückte
in freudiger Erwartung das Kind an
ihre Brust· Seit langer Zeit war dies
das erste Mal, daß ihr wieder der
Luxus einer Fahrt in einer eleganten
Equipage zu Theil wurde; ihr Herz
schwebte zwischen Furcht und Hoff
nung; sollte sie einen Triumph oder
eine Niederlage erleben? Die Pforte
des Partei-s stand weit offen, wie um
sie zu bewillkommnem
Das Kind tlatschte vor Freude in
die lleinen Händchen. »Oh, der schöne
Plast« rief eg, ,,hier ist er, Mama, der
schöne Platz!'«
Die traulpage fuhr unter den Ka
stanien der Hauptallee entlang, allein
nicht nach dem Thor des Hurenhau
ses. Der schwarze Kutscher hatte seine
Ordke erhalten. Zu Jris’ Erstaunen
liesz er das stattliche braune Gebäude
hinter sich und fuhr weiter, an Treib
häusern, Blumengiirten, einem Fisch-«
teich und einer Brücke vorüber, bis die
Equipage endlich eine im Herzen des
Paris gelegene Villa erreichte, die eine
halbe englische Meile vom Herrenhause
entfernt war. Hier hielt der Kutscher
an. ·
Mrs. Iris Greylock blickte umher
nnd sah ein hübsches weißes Haus mit
phantastischen Giebeln und Ertern und
einem lustigen Vorbau, aus dem sich
eine zierliche Hängematte im Winde
schaulelte. Vom Dach bis zur Erde
war die ganze Front von Rosen ver
hüllt, die jetzt in voller Blüthe standen,
gelben, rothen und weißen. Die Blü
then rahmten jedes Fenster ein; sie
hingen über den Thüren und bedeckten
den Borbau. Als der Kutscher vor
dem Eingang der Villa Halt machte,
kam eine fette, ältliche weibliche Gestalt
die Treppe hinab. um die Gäste in Em
pfang zu nehmen. Es war Mes.
Hopiins, die Haushalterin im Herren
hause. »Ich habe von Mr. Greylock
den Auftrag erhalten, Sie im Hause
umherzusühren,'« sagte lie; »er wünscht,
daß Sie sämmtliche Räumlichkeiten in
Augenschein nehmen; er selbst wird
bald hier sein, um mit Jhnen zu reden
Geben Sie mir das Kind«
Mit diesen Worten nahm sie Ethel
in ihre Arme. Die Thränen rollten
über ihre Wangen hinab.« »Diese ist
also des armen RobertTochterl Gott
segne sie! Sie hat die blauen Augen
und hellblonden Haare ihres Vaterg.«
Jrig stieg aus, nicht wenig verwun
dert über diesen sonderbaren Empfang.
Unter den berniederhiingenden Rosen
hintte sie, auf Hannahs Arm gestützt,
in die Villa. Die alte Hoptins ging
ihnen als Führerin voran und öffnete
die Thüren aus beiden Seiten des brei
ten getäselten Fsausganges.
Da war ein eleganter Salon, ein
Boudoir, mit Gemälden an den Wän
den und einem Piano in einer Ecke,
ein allerliebstes Speisezimmer mit
einem von Rosen überhangenen Erler
fenster, Küche, Geschirrzimmer und im
oberenStock lustige und schön möblirte
Schlafzinkmeh sowie eine Kinderftube
voll Sonnenschein und Blumendufi.
»Schon seit Jahren hatte Mr. Gren
lock diese Villa vermiethet,« sagte die
alte Hoptins7 »vor einigen Tagen aber
zogen die Leute aus, und das traf sich
gut. Wir haben unser Bestes gethan,
um die Zimmer in Ordnung zu brin
gen; die meisten Sachen kamen aus
dem herrenhaus. Doch da tlingelt es!
Mr. Grehloct ist hier; er wird Sie so
fort zu sprechen wünschen.«
Jris ließ Hannah oben; sie nahm
das Kind bei der hand und hinlte mit
ihm die Treppe hinab nach dein Salon.
Godfrey Greylock war angetommenz
er schritt langsam im Zimmer auf und
ab und sah ungemein seindselig aus,
ganz und gar nicht wie ein versöhn
licher Schwiegervater. ,,Madame!«
begann er, »ich habe Sie mit meiner
eigenen Equipage holen lassen, um
diese mir unangenehme Unterrevung
so rasch wie möglich hinter dem Rücken
zu haben.«
Er warf keinen Blick auf Eil-eh die,
ein wahrhaftiges kleines Engelshild,
neben Iris stand; vielleicht getraute
er sich nicht, in die Augen zu blicken,
die denen feines todten Sohnes fo ähn
lich waren.
»Ich habe reiflich iiber unsere ge
strige Unterredung nachgedeicht,« fuhr
der alte Herr fort, »fowie iiber Jhre
und des Kindes Bedürfnisse. Meine
Haugtzälterin hat Jhnen diefe Billa
gezeigt; wollen Sie hier bleiben?«
»Ganz entfchieden.«
»Ich will nicht, daß Robert Gren
loets Tochter heimathlos ift oder der
öffentlichen Mildthätigteit anheim
fiillt; und da Sie als ein natürlicher
Anhang zum Kinde zu betrachten sind,
fo ift es leider Gottes nothwendig,
auch fiir Sie zu forgen.«
»Sie sind sehr gütig,« antwortete
Iris pitirt.
Er wars ihr einen durchdringenden,
verächtlichen Blick zu und sprach wei
ter: »Ich biete Ihnen aus gtvisse Be
dingungen hin die Rosen- illa zum
Aufenthalte an. Sie halten sich Jhre
eigene Bedienung, führen Jhre eigene
Lebensweise; ich mache mich anheischig,
Jhte Rechnungen zu zahlen.«
»Ich habe leider einige Schulden.«
»Auch diese sollen erledigt werden«
Jris schlang ihren Arm um das
Find. »Und die Bedingungen?« sagte
ke.
Er suhr fort, im Zimmer auf undr
ab zu schreiten, ohne das Kind anzu
blicken. »Sie sollen hier in strenger
Abgeschlossenheit leben, nie Besuche
empfangen, nie«ohne mein Wissen und
meine Einwilligung dieses Anwesen
verlassen. Innerhalb meiner Grenzen
gilt mein Wille als absolutes Gesetz,
dem sich Alle zu unterwerfen haben, die
hier leben. Diese Villa ist eine ziem
liche Strecke von dem Herrenhause ent
fernt, Jhr Haushalt und der meinige
dürfen nicht miteinander in Berüh
rung kommen — ich möchte nicht zu
häufig an Jhre Nähe erinnert werden;
Sie sollen sich also fern von mir hal
ten, jeden Verkehr mit mir meiden, der
nicht absolut nothwendig ist; Sie sol
len es niemals vergessen, daß es einzig
und allein um des Kindes willen ge
schieht, daß ich Jhnen diese Heimath
anbiete.'«
»Und um des lieben Kindes willen
nehme ich sie an!« antwortete Jris mit
einem Anslug von Würde.
»So wäre diese Angelegenheit also
erledigt, erwarten Sie aber Nichts von
mir, weder jetzt noch in der Zukunft.
Jch wiederhole Ihnen, was ich bereits
gestern sagte: Mein Testament ist ge
macht, mein Erbe gewählt.«
»Verzeihen Sie der Neugierde einer
Mutter; darf ich nach seinem Namen
fragen?«
»Sir Gervase Greylock von Sussex
in England. Und nun, Madame, alle
übrigen Angelegenheiten können Sie
mit meiner Haushalterin besprechen.
Senden Sie mir Jhre Rechnungen zur
Erledigung An dem Tage jedoch, an
dem Sie meinen Beichlen zuwider han
deln, werde ich mich meiner freiwillig
eingegangenen Verpflichtungen für
entbunden erachten. Leben Sie wohl;
ich hoffe, daß wir keine Veranlassung
haben mögen, je wieder miteinander zu
reden.«
Er verbeugte sich und schritt aus der
Thür.
Iris beeilte sich, Hannah herbeizu
rufen. Ein verlockender meiß war
tete im Speisezinnner; der schwarze
Hut und Schleier --verursachten ihr
Kopfschmerzerr Ohne weitere Um
stände warf sie diese Trauer-Embleme :
weg und brach in ein lautes Gelächter «
aus.,,Siek1’ Dich um, Hannah, « sagte
sie; »dies ist unsere künftige Heimath;
wir sollen hier leben, und Godfrey
Grehlock wird unser Kerkermeister sein.
Oh, dieses Herz von Stein, diese Seele
von Eis! Wie ich den Mann hasse!
Ich toll nie ohne seine Erlaubniß die-—
ses Anwesen verlassen, nie soll ich es
wagen. var seiner erhabenen Person
in erscheinen: er wird uns indessen
füttern und kleiden und Dir den Lohn
nusbezahlen, den ich Dir schulde.«
»Gott sei gedankt!« rief Hannah «
aus; »man kann ja nicht immer von
der Lust und bloßen Versprechungen
leben, Madame.«
»Seine Diener werden mich bewa
chen, ich werde für die Welt begraben
sein« denn dieses Haus steht gleichsam
allein in einer Wildniß; von Ver
ånügungen ist hier keine Rede. Das
eben hier ist fast schlimmer als der
Tod. Jch werde mir wie eine Gefan
gene in einer Zelle vorkommen; allein
dies ist Greykock Woods, Hannah, und
endlich. endlich habe ich, Roberts ver
achtete-Wittwe, auf dem Boden des
ihm rechtmäßig zustehenden Erbes
Eingang gefunden!«
»So ist es, Madame.«
»Es ist ein Schritt in der rechten
Richtung —- ein Anfang, der zu gro
f)em Resultate führen mag Der Him
Eel weiß, es wird hart sein. eine solche
xiftenz auch nur auf einige Zeit zu
ertragen; allein ich werde bald Mittel
und Wege finden, die harten Bedin- .
gungen, unter denen ich hier leben
darf, zu mildern. Jch mußte mich
sehr beherrschen, um nicht vor Wuth
aufzuschreien, als er mit mir sprach. ;
Immerhin wird sich’s hier besser leben, i
als rn unseremKosthause tn New York. (
Machen wir uns an den meiß tm
nächsten Zimmer!«
Sie nahm Ethel auf ihren Schooß.
Ein boshafter Blick flammte aus ihren
schwarzen Augen, als sie das gold
blonde Köpfchen des Kindes zutiiclbog
und ihm prüfend in’5 Gesicht fah.
»Ich habe Arbeit für Dich, Kleine,«
fcmte fie in falt zifchendem Tone. »Du
hast mir die Thür zu dem Außenfort
meines Feindes geöffnet. allein Du
mußt mehr, noch weit mehr thun. Du
mußt die Festung ganz und gar er
obern; Du sollst alle die Beleidigungen
rächen· mit denen er mich überhäuft
hat. follft ihn zu meiner Beute und
Dich selbst zur Herrin von Greylock
Woodg machen. Du lollft die großen
Erwartungen des Sie Gervafe, des
englischen Erben, zu nichte machen,
lolllt mir zu Reichthum, Macht und
Ansehen verhelfen, meine gehorsame
Tochter fein, die keinen anderen Willen
bat. als den metntgen. Es wird eine
lchwerr. vielleicht gefährliche Aufgabe
lein, alle diese Dinge zu erreichen, al
lein Du mußt es thun!«
»Mein dem atmen Kinde, wenn es
diese Aufgabe nicht löftl« murmelte
thanan leile vor sich hin.
12. Capiteb
Auf einem kleinen, weißen Bett in
einem kühlen, stillen Hoipitalztmmer
lag ich, mit dem Tode ringend. Jch
hatte meine Anhänglichkeit an Nan
theuer zu bezahlen, die gräßlichsten
Schmerzen wittheten in allen meinen
Gliedern. Mein verbundener Kopf,
von dem eine sorgsame hand die ver
worrenen Haare weggeschnitten hatte,
pochte und arbeitete unablässig ; das
Delirium gautelte mir Tag und Nacht
die seltsamsten Bisionen vor. Ein
Fenster am Kopfende meines Bettes
sandte einen Lichtstrahl herein, der
zitternd auf der schneeweißen Decke
lag, die meinen hilflosen kleinen Kör
per einhüllte; mein Geist marterte sich
beständig ab, die Lichtleiter zu erstei
gen, auf deren oberster Sprosse Nan
auf mich wartete. Jch mußte sie fin
den, selbst inmitten meiner Qualen be
schäftigte mein Geist sich immer mit
ihr. Jch erschöpfte mich mit vergebli
chen Bemühungen, die Sonnenleiter zu
erklimmen und die verlorene Nan zu
suchen.
Jn jenen schrecklichen Tagen glaubte
weder Dr. Steele, einer der Hospitak
ärzte, noch sein Neffe, Dick Vandine,
ein Student der Medizin, der dem
Onkel assistirte, daß ich mit dem Leben
davontommen könne« »Diese Stra
ßenjugend ist nicht leicht umzubrin
gen,« hörte ich in einem meiner lichten
Augenblicke den Doctor sagen; »die
Zähigleit, mit der sie sich an ihr elendes
Leben llammert, ist oft wunderbar.«
»Das arme Ding!« sagte der junge
Mann; »ich werde das Entsetzen, das
ich empfand, als ich sie unter den Hu
fen der Pferde sah, nicht so bald ver
gessen.«
»Du wirst Dich an derlei Dinge ges-:
wähnen müssen, mein Junge," ent
. gegnete der ältere Herr und sie ent
i fernten sich Beide.
Eine freundliche Wärterin befand
« sich im Hospital, die sich viel mit mir
beschäftigte; sie erschien mir wie ein
Engel der Barmherzigkeit Dr. Steele
und sein Nefse sprachen häufig mit ihr
über meinen Zustand; er ließ sich Alles
erzählen, wag ich im Delirium sprach
und so tannten sie Alle bald meine
ganze Geschichte.
« Eine-«- Tageg öffnete ich mit dölligem
Bewußtsein meine hohlen Augen und
erblickte Vandine, der sich über mich
beugte und der Wärterin behilflich
war, mir eine neue Bandage umzu
legen.
,,Wahrhaftig, sie ist wieder zu sich
gekommen l« rief der jung-: Mann »
freudig aus. »Halloh, Polly; wie s
fiihlst Du Dich, mein liebes Kind?« ;
Jch blickte ernst in sein nicht weniger ?
alg hübsches Gesicht und sagte: ,,Wo "
ist Rauh-«
»Ich weiß es wirklich nicht,« ant
wortete Vandine sorglos-; ,,sie wird sich
aber ohne Zweifel bald finden.«
»Ich habe sie in der Kutsche ge
sehen.«
,,Wirklirh? Nun, das fiel sehr un
glücklich für Dich aus.«
Jn diesem Moment lehrte mir ein
anderer Umstand in’s Gedächtniß zu
rück. »Sagen Sie mir doch, wo ist der «
Vierteldollar, den Sie mir gaben, ehe
ich unter die Räder gerieth?« fragte ich.
Dicl brach in ein schallendes Ge
lächter aus-. »Das ist recht, Polly!«
sagte er; »fiihre immer genau Rech
nung über Deine Einnahmen. Der
Vierteldollar ist in Sicherheit; ich fand
ihn in Deiner armen, kleinen Faust,
als Du hier irn Hospital ankamst; sieh,
hier ist Dein Schatz.«
Er steckte die Hand in die Tasche,
brachte die Münze zum Vorschein und
schob sie unter mein Kopflissen. »Jetzt
aber, Polly, darfst Du nicht weiter
sprechen,« sagte er, »Du mußt diese
Arznei einnehmen, damit Du bald wie
der hergestellt wirst.«
Jch verschluckte den Trank, den er
mir an die Lippen hielt, und verfiel
bald daraus in einen sanften Schlum
mer.
Dies war der Anfang meiner Gene
sung. Jn den Tagen, die nun folgten,
sah ich Dicl Vandine sehr häufig; sein
Jnteresse fiir mich ließ nicht im Min
desten nach. Zu jener Zeit galt ich
ihm, wie mir schien, nur als ein Ge
genstand des Studiums, und dennoch
blickte ich zu ihm wie zu einem Gotte
empor.
Jm Berlaufe meiner Genesung
fragte Dick mich oft über mein vergan
genes Leben aus. »Hast Du nie einen
Vater oder eine Mutter gekannt, Pol
ly2« fragte er eines Tages.
Jch schüttelte den Kopf.
»Was ist denn Dein Familien
name?«
! »Ich habe keinen anderen Namen
» als Polly, wie ich Jhnen schon damals
H sagte, als Sie mich auf der Straße
anredeten,« war meine Antwort.
! »Und die kleine, verlorene Nan, die
! Du sosehr liebst, hat sie auch keinen
, anderen Namen?«
s »Sie hieß einfach Nan, gerade wie
E ich Polly.«
«Merlwürdig; ich vermuthe, die ge
wissenlose Hexe, die Scrag, hat Dir
nie etwas von Deinen Eltern erzählt;
hast Du sie nie darüber befragt?«
» »Ich befragte sie oft darüber; doch
? alle meine Fragen wurden mit Stock
Y schlägen beantwortet.«
I Dick Vandim verfiel in Nachden
len. »Du haft also natürlich teine
Gewißheit darüber, daß Nan wirklich
Deine Schwester ist?«
Allerdings nicht; allein Sie muß
meine Schwester sein. Oh, Herr, es
wäre schrecklich, wenn sie es nicht wäre;
ich liebe sie so sehr! Großmutter Scrag
behandelte sie stets besser als mich; sie
prügelte sie nicht so viel; sie wak in
- i
jeder Beziehung milder gegen ste, und
das freute mich. Ran««fchieti«in ver
That aus feinerem Stoffe geschaffen
zu sein als ich, aber nie habe ich sie
darum beneidet.«
Dick lächelte heiter. »Du bift ein
braves Mädchen. Du bist ja eine
wahrhaftige yeldin der Gassen und
Rinnfteine. Jch denke, daß irgend Je
mand an Nanes Gesicht Gefallen fand
— denn, wie Du sagst, sie ist unge
wöhnlich hübsch — und sie mit der
Einwilligung ihrer Großmutter, oder
was die Alte auch fein mag, adoptirte.
Du mußt Dich daher in das Unver
meidliche-ergeben, das heißt, Nan ge
hen lassen und Dein edles, tleines Herz
mit dem Gedanken trösten, daß ihr ein
glückliches Loos zu Theil wurde.
»Ich werde sie eines Tages finden,«
antwortete ich entschlossen, »sie war in
der Kutsche, aber sie fah mich nicht;
ich rief, aber sie hörte mich nicht. Wenn
ich groß bin, werde ich Geld verdienen,
und dann werde ich die ganze Welt
nach ihr durchsuchen.«
Dicl schüttelte den Kopf. ,,Thue
das lieber nicht« Polly; sie möchte Dir
für Deine Bemühungen nicht dankbar
sein; es dürfte ihr gar nicht lieb fein,
von Dir aufgefunden zu werden« Es
ist eine undankbare Welt, mein Kind;
denke lieber an Dich selbst. Glaubst
Du, daß Großmutter Scrag um Dein
Aus-bleiben bekümmert ift? Vielleicht
denkt sie, daß Du Nan aufgefunden
habest und bei ihr geblieben seist.« «
Jch erblaßte vor Schrecken. »Oh,
Herr, ich hoffe, sie ist nicht hier gewe
fen und hat nach mir gefragt? Sie
weiß hoffentlich nicht, wo ich bin?«
»Nein, Polly, sie ist nicht hier gewe
sen; es ist ihr wahrscheinlich gleichgü
tig, ob Du noch am Leben oder todt
bist. Nach einiger Zeit wirft Du aus
dem Hofpital entlassen werden; ge
dentft Du dann nach der Alleh zurück
zutehren?«
Jch zitterte bei dem bloßen Gedan
ken. »Nein, oh Gott, nein —- nicht für
Alles in der Welt, lieber Herr; lieber
ertränte ich mich oder werfe mich wie
der unt-er die Hufe der Pferde und lasse
mich zu Tode stampfen!«
»Tai willst also nie wieder zu Deiner s
Großmutter zurückkehren?«
,,Nie!«
»tltecht so,« sagte Vandine; ,,an Dei- «
ner Stelle thäte ich es auch nicht. Nun
; esJ wird sich schon, ehe Du das Hospi
tal verläßt, etwas für Dich finden;
J wir werden Dir Aufnahme in ein
Waisenhaus oder in ein Asyl für hei
i inathlose Kinder verschaffen. «
Jch schüttelte den Kopf und sagte :
»Ich möchte das nicht; ich möchte lie
ber für mich selbst sorgen. «
Dick lachte und erwiderte: »Du bist
noch zu klein dazu, Polly!«
Die Zeit meiner Entlassung aus
dem Hospital kam nur zu bald. Der
reinliche, stille und ruhige Ort war
mir überaus lieb geworden Dort
hatte ich, zum ersten Mal in meinem
Leben, Conifort, gütige Behandlung
und Pflege gefunden; nur ungern ver
ließ ich den Platz. Der Abschied von
der freundlichen Wärterin, Doctor
Steele und Dicl Vandine wurde mir
sehr schwer.
«Wissen Sie Niemanden, der ge
neigt wäre, die Kleine zu adoptiren
oder ihr wenigstens ein Unterkommen
zu geben?« fragte Dick seinen Onkel in
jenem kritischen Augenblick meines
Lebens
»Leider nein«, antwortete der Doc
tor trocken
»Es ist hart, Polly zu der brutalen
Gr«of3mutter zurückzuschicken, von der
sie so grausam behandelt wurde; es
ist noch härter, sie auf die Straße hin
aus zu senden; sie wird noch lange
nicht im Stande sein, für sich zu
sorgen.«
» »Warum bekümmerst Du Dich um
s das Mädchen?« rief Dr Steele unge
) duldig; ,,sie geht Dich nichts an. Wenn
Du Deine Laufbahn aus diese Weise
! beginnst,s o wirst Du bald bis an den
Hals in Schwierigkeiten stecken. «
J Vandine zuckte die Achseln. »War
i um können Sie Pollh nicht in Jhr ei
» genes Haus aufnehmen« -Onkel?« sagte
- er kurz; sie könnte sich in der Kinder
« fkube nützlich machen, der Tante behilf
I lich fein und das Baby verpflegen.«
Der Doctor starrte seinen Neffen
einen Augenblick betroffen an ; dann
nahm sein Gesicht plötzlich einen ande
ren Ausdruck an. »Das ist eine gute
Jdee von Dir, Dick,« antwortete er»
trocken; »ich will mir die Sache über- ;
legen.« Es entschied sich zu meinen
Gunsten, denn eine Woche später ver
ließ ich das HospitaL um ein« Mitglied
des Steele’schen Haushalt-z zu werden.
Es war spät Nachmittags an einem
regnerischen Tage, und «ein trüber Ne
bel schwebte über der Stadt, als ich
dein Hospital den Rücken kehrte und
mich mit Dick Vandine aus den Weg
zu den Steeles machte.
Der junge Mann rief einen Stra
ßenbahnwagen an, brachte mich hinein
und setzte sich neben mich. »Du bist
ein so schwaches, kleines Geschöpf,
Polly,« sagte er, »daß ich fast be
fürchte, es gebricht Dir an Körperkräf
ten, um es mit Doktors robusten Ran
gen aufzunehmen; es war indessen das
Beste, wag ich für Dich thun konnte.«
Es war schon völlig dunkel, als der
Wagen an einer Straßenecke anhielt,
Vandine mich beim Arm nahm und
mit mir die Stufen vor Dr. Steeles
Wohnung hinan stieg. Wir wurden
von einer Magd eingelassen, die auf
Dicks wiederholtes Klingeln aus dem
Souterrain erschienen war.
»Frau Steele ist in der Kinder
stube,« sagte sie zu Vandine, worauf
sie wieder in die Küche hinab eilte, aus
der die Düfte eines angebrannren Hirn-«
teils heran drangen. «
»Komm, Pouh, sagte Dick, indem
er mich eine mit Puppen, zerbrochenen
Spielsachen und Reiten von Butter
brod bestreute Treppe hinaussiihrte
und die Thür zur Kinderstube öffnete.
Das Zimmer war an und siir sich
comsortabel genug. allein die darin
herrschende Unordnung war geradezu
entsetzlich. Stiihle lagen umher, die
Tischdecke ward aus den uszboden
herabgezerrt worden, der Ti ch diente
einem Theil der lärmenden Schaar als
Observationspostem Bücher, Spiel
sachen, abgelegte Schuhe und Schür
zen, zwei oder drei ungezogene Hünd
chen, welche an den Matten kauten, la
gen bunt durcheinander.
Ein halbes Dutzend Knaben und
Mädchen, alle Iiinger wie ich selbst, lie
fen wie jugendliche Jndianer in dem
Zimmer hin und her und brüllten, so
laut ihre gesunden Lungen es nur ver
mochten, zum Entsetzen der Frau
Doctorin, einer Verbliihten, reizbaren
Dame, die mitten im Zimmer saß und
ein strampelndesBaby auf dem Schooß
hatte, das sich an dem tollen Treiben
der anderen Kinder sehr zu belustigen
schien.
»Guten Abend, ihr Wildfänge!« rief
Vandine von der Schwelle den Kindern
zu. »Guten Abend, Tante! Wie kön
nen Sie es nur bei diesem Skandal
aushalten? Jch habe Jhnen hier das
kleine Mädchen aus dem Hospital ge
bracht. Doch meiner Treu!« suhr er
nach einem bedeutsamen Blick in der
Stube umher fort, »ich glaube fast, es
wäre barmherziger gewesen, sie direkt
nach der Alley zurückzubringenl«
Die kleinen Steeles hielten mitten
in ihren lärmenden Spielen inne und
drängten sich um Dick herum. Die
Hunde folgten ihnen nach. Während
er sich gegen die Kinder und die Vier
fiißler vertheidigte, wandte sich Mes.
Steele um und blickte mich an. Ihr-e
Augen hatten einen harten Ausdruck ;
sie ruhten kritisirend und mißbilligend
aus mir. »Wo dachte der Doctor nur
hin?!« rief sie endlich aus; »was soll
ich mit dem kleinen, schwachen Ding
da? Sie ist viel zu klein, Dick, um mir s
von Nutzen zu sein«
»Urtheilen Sie nicht so voreilichx
; Tantel« brüllte Dick, um sich bei dem
Lärm der Kinder und dem Gebell der
Hunde Gehör zu oerschaffen. »Die
feinstenWaaren werden ja in den klein
sten Packeten verkauft. Machen Sie
immerhin den Versuch mit ihr; sie ist
ein Schatz, und wir dürfen ja billig
annehmen, daß sie mit der Zeit größer
und stärker werden wird.«
Mrs. Steele ließ das kreischende
Baby so plötzlich in meinen Arm fal
len, daß ich wankte und beinahe das
Gleichgewicht verlor.
»Nimm den Jungen,« sagte sie, »und
laß sehen, was Du mit ihm aus-rich
ten kannft; er ist zwar kein Freund
von Fremden.«
Ein glücklicher Zufall wollte es, daß
der rosige, kleine Bursche in mein ein
gesallenes Gesicht blickte. Was er
darin entdeckte, mußte ihn beruhigt ha
ben, denn wider alle Erwartung
schmiegte er seine frischen rothen
Backen an meinen Hals an und girrte
vergnügt wie eine Turteltaube. Die
harten Züge der Mutter nahmen einen
sanfteren Ausdruck an, die Kinder
lachten, ließen von Vandine ab und
drängten sich um mich. Jch strengte
alle meine schwachen Kräfte an, um
das Babh festzuhalten, das seine klei
nen, fetten Arme um meinen Hals
schlang und freudige Rufe ausstieß.
»Das ist merkwürdig,« sagte Frau
Steele. »Du kannst hier bleiben,
Pollh. Jch sehe, daß der kleine Ben
gel bei Dir gut thun wird, und mit der
Zeit kannst Du Dich auf verschiedene
Weise im Hause nützlich machen. Dick,
Du mußt zum Abendbrod hier bleiben,
die Kinder habenDich schon lange nicht
gesehen.«
»Ich bitte um Verzeihung, ich habe
für heute ein anderes Engagement,«
rief Vandine und trat ohne weiteren
Aufenthalt den Rückzug an.
Unter der Last des Babhs wankend,
folgte ich ihm mit unbeschreiblicher
Webmuth
»Aus dem Regen in die Traufe !«
murmelte er; »ermanne Dich, Pollh ;
sei munter und guter Dinge; ich werde
oft vorkommen, um zu sehen, wie Du
mit dem Babh zurecht tommst.«
»Wollen Sie das wirtlich?!« rief ich
freudig aus, während Thränen aus
meinen hohlen Augen traten.
«»Gewiß will ich es; ich bin, wie
Du weißt, der Neffe des Hauses.
Weine nicht, mein Kind; thut es Dir
denn so weh, von mir zu scheiden«
Pollh? Beherrsche Dich und achte
darauf, daß Du den Bengel da nicht
fallen läßt; er ist viel zu schwer für
Dich. Und nun auf Wiedersehen!«
Jch fühlte mich so verlassen und
freundlos, sah jedenfalls so traurig
und wehmiithig aus, als ich mit dem
Kinde auf den Armen unter der Thür
stand, daß Dick Vandine, von einem·
mitleidigen Impuls bewegt, sich plötz
lich über mich herabbeugte und mich
küßte.
Diese Liebkosung bezeichnete eine
Epoche in meinem Leben. —
18 C a p i t e l.
»Komm, liebe Hopkins, wo ist die
Laterne?« sagte Miß Pamela Gren
lock zu der alten Haushälterin.
»Sie ist auf der Veranda in Unit
fchaft·,« antwortete die Angs·-:dete.
»Es ist stockfinster draußen, md es
fängt an zu regnen.«
»Das schreckt mich nicht ab,« entgeck
nete die alte Jungfer ruhig, indem sie»
lkehren Mng u tfatnd M
handschuhe anzog.,, kann es with
lich nicht länger au; lieu;
Robertg Kind auf jede Gefahr its-If
henz goklte ed mir auch den Zorn inei
ruders zuziehen Jch bin doch
wohl alt genug, um zuweilen meines
eigenen Willen zu haben.«
»Gewiß,« erwiderte die Hart-Mie
rin mit einem Blick auf die graues
Haare und die Gesichtsrunzeln ihrer
Gebieterin; »das Kind ist hiisbfch sie
ein kleiner Engel und wohl des Se
hens werth; es wundert mich, daß Sie-.
so lange im Stande waten. sich m
ihm fern zu halten« «
Miß Pamela stand im Begriff, et
was Unerhörtes zu thun: dee Autori
tät ihres Bruders zu trotzen und feine
Gebote zu übertreten. Die Wittwe
und das Kind Robert Greylocks wohn
ten schon seit einem Monat in der Ro
sen- -Villa und dennoch hatte Miß Pa
mela noch keines von Beiden gesehen.
Jetzt aber vermochte sie dem Drange
ihres Herzens nicht länger zu wider
stehen. Heimlich, in Sturm und
Dunkelheit, war sie im Begriff. die
Van aufzusuchen.
Die Gelegenheit war günstig. Gott
frey Greylock hatte sich nach der Biblio
thek ziiriielgezogen, die er Abends sel
ten vor dem Schlafengehen zu-verlaffen
pflegte. Völlig ausgerüstet für ihren
nächtlichen Ausflug, trat» Miß Pa
mela aus ihrem Boudoir auf die Ve
randa hinaus, wo eine angezündete
Laterne leuchtete.
Frau Hopkins ergriff die Letztere
und ging voran. Die Alte war kurz
und fett; sie wackelte wie eine Ente,
und ihr feistes Gesicht schaute wie ein
bergniigter Vollmond unter ihrem:
Quäterhut hervor. Miß Pamela folgte
ihr dicht auf den Fersen. Der Regen
fiel immer stärker herab, und die Bei
den mußten hin und wieder durch
kleine Bäche waten. Die Furcht, daß
Godfrey Greylock ihr frevelhaftes Vor
haben entdeckt haben und sie verfolgen
möchte, beflügelte ihre Schritte; ein
Stein fiel von ihren Herzen, als sie
endlich die Lichter der Rosen-Billet von
fern schimmern sahen.
»Mir bangt vor der Begegnung mit
. jener Frau,« sagte Miß PameliL
« »Mein Bruder selbst kann keinen grö
» fzeisen Widerwillen gegen sie haben als
’ ich: ich hoffe nur, daß das Kind noch
nicht schläft. Gott sei Dank, hier sind
· niir endlich. Eile, Hopkins, nnd ziehe»
; die lT·iljn(3,el!«
Die beiden Frauen betraten den
Vordem Rechts von ihnen war das
Fenster von Jris’ Boudoir, von
Spitzengardinen verhüllt, aber halb of
fen, um frische Luft einzulassen. Pliss
lich ließ sich aus dem Innern eine zot
nige, kindliche Stimme vernehmen:
»Ich will meine Polly haben — warum
bringst Du mir nicht Polly, Hannahf
Jch will nicht zu Bett —- ich will Pollyt
haben!«
Diese Worte klangen leidenschaftlich
und abgerissen, von Schluchzen unter
. brochen, aus dem Zimmer in die Nacht
hinaus; dann folgte der Ton scharfer
Schläge, und Hannah Johnson ant
wortete: »Du elender Balg! Wage es
noch einmal, das zu sag-en, so prügle
ich Dich bis auf’s Blut!«
Weitere Schläge verliehen der Dro
hung Nachdruck.
Miß Pamela und die Haushälterin
blickten einander an.
»Gerechter Himmel!« rief die alte.
Hopkins
»Kann ich meinen Ohren trauen P
sagte Miß Pamela entsetzt; »si-e hören
. uns natürlich nicht; öffne die Thür,
Hoptins, sie ist nur angelehnt, wie ich
sehe; ich gehe direkt inein.
Da sie mit der osen-Villa wohl
vertraut war, so trat sie ohne Weiterez
in den Hausflur und öffnete die Thüt
des Boudoirs.
Jn der Mitte des Zimmers lag Iris
in einein großen, weichen Fauteuil; sie
hatte ein diinnes weißes Nachtgewand
- an, das ihr mit den lose herabhängen
den dunklen Locken ein fast kindliches
Aussehen verlieh; ihre kleinen Hände
ruhten müßig auf ihrem Schooßz ihre ,
Augen waren halb geschlossen. Sie
schien sich nicht im Mindest-en um den
Kampf zu kümmern, dser dicht neben
lihr zwischen Hannah Johnson und
Ethel stattfand
Sich unter dem festen Griff des
Weibes windend und krümmend, das
kleine Engelsgesicht von Zorn geröthet,
die Augen voll Thränen, die Kleider
verschoben —- ein leibhaftiges Bild
lieblicher Schwäche in den Händen to
her Kraft, so erschien die kleine Ethel
szum ersten Male den Blicken ihret;
Großtante
i »Ich will Polly haben —- ich will
tPolly haben!« schrie sie von Neuem;
plötzlich schwieg sie, denn sie hatte Miß
sPamela erblickt, die, in ihren Regen
; mantel gehüllt, mit Staunen und Ent
riistung aus der Schwelle stand, wäh
i rend die alte Hoptins mit der Laterne
ldicht hinter ihrer Gebieterin stehen ge
s blieben war
s ,.GcrechterHimmel, Madame!« sagte
1M1sz Paniela, indem sie sich zu der trä
Igen weißen Gestalt in dem Fauteuil
wandte, »was soll das heißen? Ge
ftatten Sie Jhrer Dienerin, Ihr Kind,
die Tochter meines Neffen Robert, sc
zu mißhandean Pfui, der Schande!«
Fortsetzung folgt.)
—- Vorgebeugt. Herr: »Aber
erlauben Sie mir, Sie haben ja ask
meinem Porträt meineNase viel röth
gemalt als sie ist!« — Maler: ,,Ttöstes
Sie sich, sie wird schon noch so roc
werden, als ich sie gemalt habeP