Grand Island Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1893-1901, January 22, 1897, Sonntags-Blatt., Image 11

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    F—-— q
stian auch schon Kutscher gewesen-. Kut
scher bei bem, um dessen willen ich
Stadt und Menschen gseflohen mvd in
die Fremde gegangen war.
Jchhcrtte gehofft, die alt-e Geschichte
sei in mir ausgelöscht -—- und mm
stand doch wisederAlles lebhaft vor mei
ner Seele.
Meine Gedanken vezwingend, schreite
ich über die schmale Brücke über den
Mühlgraben und ihorche mit gespann
tem Ohr aus das mir so wohlbekannte
Rauschen dies Wassers, das in der
nahen Mühle das Mühlrad treibt,
brausenid einen kleinen Wasserfall bil
det und sich dann langsam verläuft.
Noch alles wie einst! An den zwei
großen Mühlstetmn, die vor der Thür
übereinander liemm s pielt ein Häuflein
Kinder, grad, wie wtir es getynz die
selben Spieir. Nur eins hat sich ver
ändert, die kleinen Flachsköpfe, welche
ich nach ihren Namen frage, heißen nicht
mehr so altmodisch wie ihre Mütter
»Enrmchen«, »Lina«, »Vertha«, son
dern »Margots«, »ergard« und
,,E’l"se".
Die Wiese, durch welche der Müh
lengraben fließt, war früher ein sehr
bediebter Bieichplaß für die Wäsche der
Hausfrauen Sie ist in einen Schmuck
plaß umgewandelt, und das Bieichen
hat wohl aufgehört. Jch kann niicht
leugnen, daß die Gegend dadurch ge
wonnen hat« aber die Veränderung
thut mir beinahe leid. Es sieht über
haupt so furchtbar ordentkirh und auf
geräumt in meiner Geburtsstadt aus-,
daß ich mich wirklich freue, als ich den
alten schiefen Thurm bemerke, der das
Töpferthor schmückt. Der ist derselbe
geblieben. Freilich ist er nsoch ein bis
chen rissiaer geworden, und seine vielen
Löcher scheinen noch bewohnte-r von
Schwalben und Fledermäusen. Auch
um ihn her-um ist Alles, wie es war,
und ich muß beinahe lachen, als ich an
einem bekannten Hause das alte Schild
der «Produktenhandlung von Sallh
Michal-witz« lese. Unsd da steht er
selbst an die Thiir gelehnt im langen,
fettglänzenden Kaftan, die Beine, in
schlottrigen Hosen, über einander ge
schlagen, die Hände in den Taschen
vergraben und den schädigen Zhlinder
in »den Nacken gerückt. .
Salln Michalowitz ist alt geworden;
die Nase biegt sich beinahe bis aufs
Kinn, und die Peies an den Ohren
sind ergraut. Aber das Geschäft scheint
gut zu gehen, denn auf der einen
schmußtigen Hand, die er jeßt aus der
Haserrtasche zieht, biitzt ein hasielnuß
großer Brillant, und auf der schrum
liaen Weste wiegt sich eine dicke golden-e
Kette.
' Weiter schreite ich dem Markte zu,
der im Gegensatz zu anderen Städten
hier kein geräumiger weiter Platz, son
dern eine von beiden Seiten dicht nrit
Däusern bebaute, lange Straße ist.
Und da bemerke ich zum ersten Mal,
daß alle Häuser ihre Giebel der Straße
zukehren, und ich weiß ganz genau,
welches von ihnen einen neuen Anstrich
bekommen oder eine andere Anidere
Aenderungjrfahren hat. —— Ich erken
ne den wohlberannsten Labatgiavm
aus dem ich dem älteren Vetter Hang
Cigsarren holte, »drei Stück fiir ein
Dittchen,« wobei ich aber immer vier
bekam, weil Herr Busch mir besonders
gewogen war. Hans rechnet-e mir zum
Lohn ein Rechenexempel «- und ich
holte ihm mit Leidenschaft so viel Ci
garren, als ich Exempel auf hatte. Da
neben der alte Bonbonladen -—- und
drüben die ,,iiuchenmarie«, die auf of
fenem Markte ihre Brezeln, Pfeffer
minzpliitzchen und Honigluchen feil
hält. Sie sitzt, wie vor zwanzig Jah
. ven, mit der Pelzlapottr. jetzt ins den
Hrmdstagem vor ihrem Zuckertram
und jagt, wüthend wie einst, zubrin
iiche Wespen-. Sie blickt von ihrem
Wollftrumpf, mit dem sie sich beschäf
tigt, wenn eine »Geschäftspause« ein
tritt, zu mir auf, erkennt mich aber
ebenso wenig, wie alle Anderen. Wohl
dreht sich mal Jemand nach nrir um«
aber das gilt wohl nur der Kunst des
Berliner Schneider-N
Immer langsamer wird mein
Schritt. Ich möchte so get-n mit den
Augen festhalten, was sie sehen »s— ich
merke, wie warm es mir um’s Herz
wird unld wie gern ich's Einem sagen
möchte, wer ich bin und daß ich ja ei
gen-Mich hierher, zu ihnen gehöre. «
Der Masrlt schließt gegen- die Vor
stadt mit dem Marienihor erb, auf dem
ich mit herzliche-e Freude noch das ali·
blaue Ziffer-blast der Uhr und ihre zit
trigen Zeiger erkenne Das Thor ist
eng, zwei Wagen diirsen sich nicht drir
begegnen, und wie ich es durchschreite
sehe ich vor mir eine neue Welt. Wohl
gepflegte Wege mit Cementblattten be
legt, und überall hin ein freier Bitt
auf stattliche Bauten, kleine Villen
blühende Gärten. Die Schanzen, wel
che einst vor Jahrhunderten zur Sicher
heit gegen die Poan um die Stadt ausf
gewokfem sind abgetrasgen unsd die
Festungsgräben zugeschiittei. Unsd zwi
schen all dem Neuen erblicke ich unsere
alte, liebe Schmiede, an der wir täglich
vorbeigekomnrm, wenn wir zur Schule
gingen, und wo wir die Riesen-kraft des
Schmiede-s bewundert hatten, in kihrer
alten räucherigen Schwätze! —- Von
hier ao renne ich jeden Juijz Erbe, uver
den ich schreit-e, und nun schlägt mir
das Herz ganz laut —- das Auge wird
feucht — denn da steht das liebe, alte,
kleine, rothe Haus, das einst das unsere
war!
Jch hatte nicht gedacht, daß mich
sein Anblick so bewegen könnt-ei Dajz
ich da drin mal gewohnt —- und eine
so glückkiche Kindheit verleht hattet So
ein kleines, winziges, altmodisches
Häuschen gieth in der ganzen Stadt
nicht mehr, und wie glücklich bin ich,
daß es noch grad so geblieben ist wie
ich’s sin der Erinnerung hatte! —- Drei
Fenster mit kleinen sgriinen Läden —
daneben die braun gestrichene Haus
thiir mit dem alten, abgerissenen
Drücker-. Ein Mädchen tritt grade
aus ishr heraus, und da höre ich die alte
rostige Klingel heiser anschlagen unid
denle doch, welch’ herrliche Musik das
ist! Jch kann mich nicht bezwingen,
tret-e an das Mädchen heran undsrage
ob ich eintreten und nuir den Garten
einmal ansehen dürfe. Die Herrschaft
sei trank, könne nicht gestört werden-,
meint das Mädchen. Zögernd bleibe
ich an der geöffneten Hansthür stehen,
blicke hinein in den blau getünchten
Flur, in dem des Vaters Sarg aufge
bahrt stand, ehe man ihn hinüber trug,
drüben nach dem Kirchhof W
Nur schwer trenne ich mich, aber das
Iltädchm schließt ungastlich die Thür
und ich stehe sinnend vor dem kleinen
Stückchen Erde-, das in der Kindheit
meine Welt aus-machte Nur einmal in
den Garten wollte ich sehen! Auch das
geht nicht, der alt-e Zaun ist mannshoch
und sorglich Verschlossen. Wer jetzt
wobl darin wohnen mag?
Fragend blicke ·ich««auf die Nachbar
grnndstiicle rechts und lian und denke,
ob ich da wohl noch Jersnnden fände
aus der Jugendzeit Vor dem Haufe
links steht eine Bank, und weil ich so
gern noch ein Weilchen in der Nähe
meines Geburtshauses weilen möchte,
nehme ich daraus Plan.
Jch babe schon lange geruht, da öff
net sich die Hausthür, ein altes Männ
chen, gebückt-« mit der Pfeife im Mund,
rückt ein wenLg an seinem gestickten
Sammettäppchen und fragt mich nach
meinem Begehr. Jch entschuldigte mich,
sage, ich wäre weitgereist und nur hier
her gelommen,mir das kleine Haus da
neben anzusehen und weil ich miide sei,
hätte ich mir erlaubt, hier Platz zu neh
men.
Der Alte schüttelt den Kopf, und
weil er wohl denkt, ich sei verrückt, stehe
ich asusf und sage: »Gegen Sie sich doch
ein bischen zu mir, Vater Lange!«
Er thut es wirklich, lächelt und sagt
halb verlegen, halb verschmitzt: »Was
wollen Se denn an dein kleinsutschen
Hausche sehen, Madam-che?«
Jch möcht dem Alten um den Hals
fallen, so freue ich mich, daß ich wenig
stens Einen aus der Kinderzeit habe.
mit dem ich reden kann -— - aber ich be
sinne mich, das-, ich so etwas schon lan
ge nicht mehr thue -———- und da erzähle
ich ihm Alles ganz ruhig, wer ich hin.
Und da fällt dem Alten plötzlich die
Pfeife aus dem Munde —- er reckt sich
in die Höhe usnd sagt mit thriinenseuch
ter Stimme:
»Die Katrin—«die wilde Katrin sindS
Sie?«
Jch nkiclte stumm.
Die alten IHände klopften meine
Schultern, streicheln meine Backen und
das Haar aus der Stirn.
»Die Katrin —- die Katrin!« hebt er.
wieder an und lacht unid weint-, und
kann sich nicht fassen. —-—« Wir rücken
dicht aneinander-; ich schiebe meinen
Arm durch den des Alten, frage, ant
worte — und denke, wie wunderschön
diese Stunde ist!
»Nun gehen Sie wohl gar nicht mehr
fischen?« frage ich nach dem ersten
Ueber-schwoll der Gefühle
«Der Karl ist doch todt -— und- seit
Sie das große Freileinchen waren —
bracht’ mir doch Keiner mehr Regen
WütmeT!«
Wir schwiegen lange und ich denke
zurück an Alles, was ich hier erlebte vor
- langer Zeit und nicht vergessen kann.
Jch sehe mich als Schulkind gezwungen
. vor den Büchern sitzen, und wen-n das
: Pensum zur Noth erledigt, wikd wie
, ein Junge draußen herumjagen, in
iiberstriimender Lust und Kmstgefiihll
- Kein Baum zu hoch —- keIis Graben
, zu breit —- lein Zaun ein Hinderniß
s-— und nicht zu schwer! Beoeit’ überall
- zu helfen, wo man mich brauchte, und
- auswachsend in herrlicher Ungebunden
L
heit. Es stand fest, »daß iich web-en der
sanften Schwester die wikdk war —
tveil meinse gute Mutter weder sich noch
uns mit pädagoigtischm Problem-en
quäkt-e, ließ man mich so, wie ich war,
vertraute einfach dem guten Kern in
mir und dem guten- Vorbild, das sich
an den Meinen hatt-e. Daß unseres
Verwandt- und Bekanntschaft mein-e
Schwester bevomtate. machte mir kseinseI
Sorge — ich hatte asuch meine Gemein
de, und ich war stolz auf sue.
Obenan stand lich in gutem Ansehen
bei Pollen, unserem Hausfaktotum
Der schickte stets mich und nie meine
Schwester, ihm für einen Dreier
Schwaps zsu kaufen-,qu zur Belohnung
dafür erlaubte er mir, unser Schwän
chen im Stall zsu besorgen und aus dem
nahen Ziehbrunnen Wasser zsu holen.
Kurz vor unserem Hause setz-te ich die
Eimer ab, damit Mutter es nicht mer
le, wartete, bis Pollh wieder Ihrr-aus
tam, und füllte sie glückstrahlend wie
der.
Dem alt-en Lange suchte ich Würmer,
las die Raupen von» den Bäumen, trieb
ihm die Ziege auf die Weide usnd stopf
te ihm seine Pfeier.
Für die alte Kranzfrau, die drüben
am Kirchhof ihren kleinen Handel hat
te, erbettelte ich Laub und Blumen aus
allen befreunideten Gärten, und dem
Todtengräber half ich die Gräber be
gi-es-,en, die seiner Pflege anvertraut
waren. Dem Küster zog ich die Abend
glocke, trat Balgens hinter der Orgel,
und half ihm die Kirche schmücken und·
fegen, wen-n Hochzeit oder große Taufe
Wat
Urrd dann ——- hatte ich noch einen
Freund!
Ein entfernter Vetter kaum uner
wartet ais Theilhaber einer Fabrik in
unsere Stadt. An einem Sonntag
Mittag machte er uns seinen Besuch,
und weil er von meiner und der Schwe
ster Existenz eine schwache Ahnung
hatte und sich als Verwandter gut ein-l
führen wollte, brachte er uns Ehokæ
lade und Süßes mit. Als ich herein
gerufsen wurde, den Vetter zu begrü
ßen, sprang ich, den Umweg durch die
Thiir zu sparen, durchs Fenster, und
nachdem ich ihm kräftig die-Hand ge
schüitelt und mesinseChokolade eingesteckt
hat-te, ebenso wieder heraus.
Jch war ja kaum zwölf Jahre.
Der Winter kam -—— es wurde Früh
ling und wieder Sommer. Jm Gar
ten grünte es und ich saß in der Laube
wie sonst. Und doch war es anders
geworden.
Jch war kaum mehr bei meinen al
ten Freunden, und wenn ich sie einmal
besuchte, rannte ich nicht Sturmschritt
wie früher, sondern ging ganz ruhig.
Jch kletterte nicht mehr über den Zaun,
wenn die Thür verschlossen war, son
dern wartete, bis Jemand kam, sie zu
öffnen. Jch pfiff nicht« mehr wie ein
Junge, sondern lauschte entzückt dem
Geigenspiel des Organisten. Meine
Röcke reichten beinahe bis auf die
Schuhe -——— vie llcciwoam singen an,
mich ,,Ftäuleinchen« zu nennen, unsd ich
wehrte ihnen nicht. Meine französi
sch Exercitien machten mir keine Sorge
mehr, Even-n er saß immer, wen-n ich
eins auf hatte, neben mir in der Lan-be
und half mir dabei. Oft schalt mich
die Mutter darüber, nansntse des- Vet
ters Hülfe »Eselsbriicke« und stellte mir
vor, wie bitter sich das rächen würde,
wenn ich später mein Lehrerin : Exa
men machen wollte. Jch hörte eg ru
hig an -- s— mit unterdrücktem Lachen i
denn ich hatte feiesrliches Schweigen ges.
lobt siir das, was e r mir versprochens
Heiraihen wollte er mich ——-- so hatte er
gesagt —-— wen-n ich alt genug sei s- - die
ganze Schuilweisheit soi iihm nicht-«- ge
gen mein-e ,,kieben Dummsheiten«.
Jch hätte es allen Menschen erzählen
mögen, der Mutter ——- dem Direktor -
aber er hatte es streng verboten und ich
mußt-e gehorchen.
Endlich war meine Konsfirmation
Meine liebe kleine Kirche! Der Küster
hatt-e sie ohne mich geschmückt, denn ich
war ihm ebenso untreu geworden, wie
dem Todtengräber. Manchmal wurde
mir ganz heiß, wenn ich an meine al
ten Freunde dachte, wie sehr sich sie ver
nachlässigte, gerade jetzt, wo sie älter
wurden und mein-e Kräfte gebrauchten
Jch dachte aber blos an den ein-en Daig
——— wenn die Schule aufhören —— ich er
wachsen und ensdslos reich sein würde-.
Dann sollten sie Alle mit vollen Hän
den entschädigt werden. Reich mußte
er ja unmenschlich sein! Er trug so
wunderschöne Kleider, brachte miir
here-siehe Dinge und sprach von Tau
senden, als sei diese Summe sein täg
liches Taschengeltb. Meine Konsirma
tion erschien mir blos als »der Tag, der
vor-angehen mitsse, ehe die geträumte
Herrlichkeit ihren Anfang nahm«
Meine Schwester und ich waren die
Ersten, Vie hinter dem Prediaer die
Kirche heiraten-. Die Glocken läuteten-,
I——
eine Schwalbe, die sich in der Kirche ge- I
fangen, kreiste zwitfchemd in der Höhe
und weil ich Angst hatte, sie könne nichti
hinaus in s Freie, hob ich den Kopf,
den alle Anderen fromm gesenskt hiel-!
ten, und schaute ihr wach. Da fielen
mein-e Blicke auf ihm und weil er michs
so merkwürdig anssah, trat mir hellei
Glutih m s Gesicht Wir trugen weiße
Kleider- — in der Hand blaßgelbe köst-:
Liche Rosen, die er uns durch Ehrlistisnia !
asm Morgen geschmückt hatte.
»Die sieht wie eine Braut akus, und
nicht wie eine Konstrdein,« hörte ich !
die Leute hinter mir sprechen-, und ich
fühlte, daß sie mich meinten-. Als der
Segen über uns gesprochen war, wir
die Ksirche verlassen hatt-en und in um
ser kleines Haus zurückkehrtem fanden
such alle Freunde ein,Hoch und Niedrig,
um uns Glück zu wünschen.
»Der Kartrin lann’s nicht seh-len,«j
sagten die Einen unsd »wer solch Glück
hat, wie die Katrsin« — die Anderen
Sie wußten- Alle, was ich Allen ver
bergen sollte.
Wir saß-en irr der Laube —- allein-»
ich unid er. I
,,Sa«gst Du es heute der MuttierZH
fragt-e lich.
»Kannst Du’s denn gar niicht ab
warten, Und ist es nicht schön, daß wir
still glücklich sind?«
»Es ist so traurig, daß ich gar nsicht
mehr lustig sein kann- —- sa·g’s doch der
Mutter,« bat ich. ,
Er that es nicht, auch ich muißte
schweigen. Trotzdem wußte die ganze
Stadt unser Gebeinen-iß.
Ein Jalhr verging und noch eins.
Seine Besuche waren seltener gewor
den, man erzählte sich in ker Stadt al
lerlei von ihm, und plötzlich war er
verschwunden, die Fabrik hatt-e banke
rott aemacht. Eines Abends spät kam
Christian und brachte mir seinen Ab
schi—edsgrus3. Alle meine Luftschlösser
zerronnen! Mein Stolz war schwerer
getroffen als mein Herz. Scheu zog sich
mich von der Welt zurück, nrir war wie
einem angeschossenen Vogel zu Muth-e,
der sich nicht mehr anffchwiniaen kann
und doch nischt sterben mag. Aus Mit
leid fiir mich Verkaufte die Mutter un
ser Häuschen und wir verließen unsere
klein-e Stadt.
Tief ansfseufzend wende ich mich der
Gegenwart zu.
»Polliey ist wohl nicht mehr?« frage
ich Vater Lange.
»Jh wo! Todt --- Alles todt! Jch
bin noch so der Einzige aus ihrer
Freundschaft.«
Ich klopfte ihm die gebückten Schul
tern.
»Und wie ist es mit Jhrem Garten,
Vater Lange? Lassen Sie uns hin-ein
gehen!«
Er nimm-i mich glücklich in seine
Stube und drängt mich hier, erst Platz
zu nehmen. Aus dem tiefen Tischla
sten holt er das amgeschnsitene Brod,
aus der Ofenröhve den Honigtopf usnd
bereitet mir mit seinen alt-en zittrigen
Händen den Jmsbiß, wie einsi.
A »Wissen Sie noch, wie’s schmeckt,
früh-« doch immer die große blaue-Tas
se zum Honig hatten, wo die nun ge
blieben-.
Er reibt sich die Hände
»Daß Sieg noch Alles so wiss-an,
ach Gottchen, daß Sieg noch wissen!«
Dann erzählt er, wie sie seinen alten
Hänren entfallen, und daß es msit ihm
nun auch bald aus wäre —s—— und dann
führt er mich in sein Gärtchen, das
dicht an den unseren grenzt und einen
Einblick in das Paradies meiner Ju
gendzeit gestattet. Jch lehne mich an»
den alten Bretterzaun, der von derV-e
rührmig leise zu zittern beginnt, und
blicke bewegt hinüber. Noch Alles wie
einst. Dort die mit Buchsbasum ein
gesaszten Beet-e, der »Eisbeerstrauch«,
von dessen weißen Becken ich mirHals
fetten machte, dort alle die Bäume, de
ren Aeste so ost meine Last gespürt —
und am Ende des Weges —-—— dise alte
Fliederlaubel Wenn ich mit dir reden
könnte!
Jch bin tief ergriffen, und weil der
Alte nicht meine Thränen sehen soll,
schließe ich ihn in meine Arm-e —«- und
eile davon-.
’ Schräg gegenüber an der kleinen
iGittertJhür zum Kirchhof halte ich an
kund sehe mich nach der Blume-Wandle
irin um. Dise alte Kranzfrau, die hier
tithre Wnasre anbot, ist nicht mehr, und
die neue sieht mich sprachlos an, als
ich ihr Alles ablaufe, was sise zu vier
laufen hat.
l Zwischen Gräbern, verwitterten
IKreuzen gehe ich den wohlbekannten
Weg zu- Vaters Grab. Tiefgriiner
Epheu deckt den Hügel und umschlingt
mit- zärtliche-n Armen den weißen
Marmor, der Vater’s Namen trägt.
»Ehe Trauserweide, die sich selbst ge
t pflanzt, neigt ihre Aeste tief auf den
Hügel undtf beweg-i leise flüstert-nd die
Jch dankegeriihrt und sage, daß wirl
l
i
Blätter. Welch tiefer Friede auf die
sem geweihten Stückchen Erde! Kein
Mensch ringsum, kein Laut, der meine
heiligsten Gedanken stört.
Jch liege Blumen aus-f fein Haupt,
schmücke den ganz-en Hügel und weiß
nicht, wohin mit den Blum-en, »die ich
noch habe. Sinniend blicke ich um mich,
wem ich sonst wohl noch einen Gruß
aufs Griab legsen könnte —- da fällt
wie-In Kssiwws »u- von-n cskmn Lin-san
halb zerfallenens Hügel Jch trete an
ihn heran und lese auf dem Denkstein
nichts als: Friedrich Wer-nier.
Jch sinke langsam auf di-eKni-e, dann
schiistte ich alle Blum-en auf den Hügel
usan lege meine gefaltetsen Hände da
rauf.
Lang-sum durchschreitie isch die kleine
Stadt. Jch achte auf nichts mehr isn
ihr, sondern denke »nur, was ich in den
wenig-en Stunden erlebt. Die 5Eben-d
sonnie Vergoldet die Spitzen der Thür- «
me, spiegelt sich in den altmodischen
Fenstern und sinkt hinter dem- Kirch
lein in ihr Wolkenbett. Leise schlägt
die Betglocke an unsd friedlicher wird es »
in mir uxnd um mich.
Als ich wieder im Eisenbahn-Ku«pee
sitze untd nochmals vom Fenster aus
aus das Städtchen blicke, an dem ich
vorbeisause, quillt mir das Herz über
und bewegt, die Augen voll Thränen
griiße ich die letzten Thurme
—.. -,.——« f— ---«-«.
Malt mit dem Fuß.
Ein Raphael, der kein-e Arme hat.
Lessing’s oft wiederholte Frage:
»Wiirde Raphael nicht ebenfalls ein.
großer Maler geworden sein, wenn er
zufällig ohne Hände geboren wäre?«
ist positiv von Herrn Adam Siepen be- ,
anstwortet worden. Dieser gseniales
Mann ist ein hervorragender Maler
von Landschaften, Portraits und Gen
rebildern, dessen Leistungen aus der
diesjährigen Kunstausstellung in sei
nem Wohnsitz Düsseldorf gerechtes
Aufsehen erregten, so daß die Kunster ·
titer sei-n Atselier aufsuchten, um seine
persönliche Bekanntschaft zu machen
und sich über seine Methode näher zu
unterrichten.
Als in solcher Gesellschaft der Be
richterstatter sich nach der Wohnung
Siepen’s, Jmmsermannstr. 1.2, begab,
erfuhr er, daß der Gesuchte, wie ge
gewöhnlich zu dieser Stunde gerade
im ,,Malkasten« wäre. Dies ist der
Name einer berühmten Künstlerlneipe,
wo ein alter Klub von Künstlern, Bos
shemiens und deren Freunden sein
feuchtfröhliches Dasein führt. Auf
Einsendung der Bisitenkarte erfolgte
prompt die Einladung in’s Allerheilig
ste, eine stylvoll ausgestatteie altdeut
sche Bierstube, in der wirin sehr ansimir
ter Tafelrunde hin-ter einem runden
Tische einen kleinen Mann kauern sa-l
herr, der durch sein hübsches, vergnügt
dreinschauienidess Antlitz, seinen großen
stolzen Schnurrbart und sein Kostüml
nach der ,,langhaarigen Düsseldorseri
Malschule« sofort auffiel. I
»Mahlzeit, Mahlzeit!« rief uns der!
Kleine mit Stentorstimme entgegen, soI
daß Jeder von uns ihm unwillkürlich1
dsie rechte Hand entgegenstreckte Adam i
Sisepen lachte laut auf. Er drehte sieht
drei oder viermal im Kreise herum unds
ließ ein leeresPasar Aermel Jedermann j
sichtlich in der Luft umtherflattern Dies
Herren, diisse Siepen Gesellschaft leiste-i
ten, ntännsiglich einen Krug Pilsener zu I
vertilgen, u.diesichspäter als der allver- i
ehrt-e Landschaftsmaler Achenbach der;
Gsenremaler van der Bsecl und der be-i
rühmste Portraitmaler Lenbach ents
puppten, stimmten in das Gelächter
lebhaft ein, das unsere erstaunten Ge
sichter unwillkürlich hervorruer muß
ten.
»Laßt Siehe-n sich setzen und Hand
und Fuß mit Euch schütteln!« lautete
der Zuruf des vergnügten Chorus, dem
die ganze Scene schon ein alter, oft
wiederholter Klubscherz zu sein schien.
Mittlerweile hatten die Kellner für
tuns Siühlse gebracht untd der feierliche
sEinführungsakt war damit beendet.
Der Korrespond-ent, der Herrn Achen
bach schon von früher her kannte, flü
ssterte diesem zu: »Das muß ein Irr
thum sein; wir sind hierhergsekommm
um den Maler Siepen zu sehen, der die
schönen Gsnnälde ausstellte.«
»Es giebt nur den einen Adam in
ganz Düsseldorf,« antwortete der alte
Meister, »und der sitzt Ihn-ern gegen
über.«
,,Erzählesn Sie keine Jagdgeschich
ten,« repliztrte der ·Zeitungsmsasnn.
»Dieser Jhr Freund mag Adam Sie
pen sein, aber nicht der Adam, hin-let
dem wir her sind. Denn dieser Adam
hat keine Arme oder Hände, usm damit
zu maslen!«
,,’5rischsss Pilsener für die zansgse Ge
- —
sellfchaft,« bestellte Adaim Siepm, setzte
sich dann auf den Tisch, lehntse sich mit
Dem Rücken gegen seimmArmftuhL entt
fernie mit seinem rechten Fuß eine-n
zisegenlsedserwens Handschuh, den et an«
seinem linken Fuß trug, packte eimen
Schuppen mit seinem Zechen und stieß
Jusf diese ungewöhnliche Art msit Allen
m.
-«.. -.- - -·- .- «
Die nun-irrer waren eine Troece we
iellschaft und schnell verfloß eine Stun
de mit Trinken, Ansekdotenerzählen
und sonstiger Unterhaltung Alles,
Das wir sahen und hörten, schien die
Bestätigung der unglaublich klingenden
Behauptung daß Adam ins der That
der Mal-er sei, auf dessen Suche witr
ausgegangen waren. Aber ganz ver
nochten wir nicht an die Geschichte zu
glauben-, bis uns Herr Siepen emsluid,
zhn in seinem vielbezweifelten Atelier
zu besuchen und dort seine Jdentität
nittelst Besichtigung seinerSksizzen unsd
end angefangen-en Bilder zu erproben.
Wie wir zu seinem Atelier heran-f
iletterten, das sich unter dem Dache
Dies einstöckigen Hauses befand, indem
Sieben seine Residenz aufgeschlagen
hatte, konnt-en wir bemerken, daß unser
Freund ein »Linkssiißer« war. Er
erklärte uns das mit dem Bemerken, es
beruhe dies bei ihm auf denselben
Gründen, aus den-en die linke Hand
öei den normaleinMenschen ungenügend
entwickelt sei.
»Nun will ich Ihnen aber beweisen,«
rief er aus, »daß ich kein Betrüger bin-«
—--— setzte sich bei diesen Worten auf sei
nen Sessel und begann, nachedsm iihm
sein Diener die Schuhe ausgezogen
hatt-e, die Farben zu mischen, wobei er
sich so geräuschlos und graziös bewegte
rvie eine Katze, während wir seine Be
wegungen mit einem Erstaunen beob
achtet-en, dsas uns unwillkürlich den
Mund weit öffnen ließ.
»Ich bin dabei, diese ländliche Scene
aus dem täglichen Leben durch das
Portraits eines Esels und die Aufnah
me einer Gruppe wsild umhserspringen—
Der kleiner Mädchen zu vollen-den. Was
wünschen Sie, daß ich machen soll?
Wollen Sie mich als Portraitmaler
Jder alsFigurenkiinstler kennen lernen?
Der brave Grauschimrnel ist unten isn
meinem Stalle usnrd ich kenne seine
Schönheit-en bereits hinlänglich«
Es wurde beschlossen-, daß Siepen
sowohl die Hinterviertel seine Esels
wie eines von seinen kleinen Mädchen
malen s ollte, und er machte sich flugs
an’s Werk. Während er uns mEit gu
tem Humor seine Lebensgeschichte und
alle möglichen Ansekdoten aus dem
Diisseldorfer Künstlerleben zum Besten
gab, malte er Vor unseren Augen in
der That an dem in Rede stehenden
Bilde mit derselben Meisterschasft, wie
wir sie an seinen in der Ausstellung
hängenden Gemälden kenn-en gelernt
hatten.
A« «-. « A. »- --.-·- -
Adam Vlsepen 111 Un Iscuryre 4004 m
Dueren, ein-er kleinen- rhoimiischen
Stadt, geboren. Er erhielt eine or
dentlicheSchulbildung und zugleich we
gen seiner früh zu Tage getretenen
Anlagen besonderen Unterricht im
Mal-en und Zeichnsem Jn den 60er
Jahren wurde er bereits Schüler des
Professors Roseting in Düsseldors, der
ihn in der Kunstakademie unterrichtete
Von seisnser frühesten Jugend an hatt-e
er seine Füße gebraucht, wie normale
Menschen ihr-e Hände und aus diesem
Grunde verursachte ihm z. B. das
Farbenmischen durchaus nicht mehr
Mühe, wie jedem ander-en Christen-men
schen.—
1878 vollendete er sein erste-s Bild,
das ,,En face« Portrait einer Dame,
und erzielte damit den großen Erfolg,
daß er in die Oeffentlichkesit nicht als
»Fuf3art-is «, sondern als wirklicher
Mal-er eingeführt wurde, von dem die
Meisten niemals erfuhren, daß er mit
den Füßen, statt mit den Händen male.
Es ist das effektiv eine Thatsache, die
in Düsseldors jedes Kind weiß, wäky
reinid die Käufer seiner Bilder nur aus
nahmsweise davon etwas erfahren.
Unser Held blieb vornehmlich seiner
ersten Liebe zur Portraitkunst treu,
und Jahr aus Jahr ein verlassen min
destens 10 bis 15 leben-swahr aufge
faßte Portraits svon bekannten Perso
nen sein Aiselier und tragen durch die
Deiikatsesse ihrer Farbenmischusng und
die vollendete Technik, »die sie stets aus
zeichnen, dazu bei, den Ruhm Siepens
immer weiter hinauszutrasgen. Aber
auch durch seine wundervollen Radi
runigen auf Holz und Kupfer mach-te
sich Siepen bald einen Namen, so daß
man sich nur über eins wundern muß,
nämlich, daß sein Ruf noch nicht in’s
Ausland gedrungen lisst. Vielleicht ist
daran ebenso sehr seine Zurückhaltung
schuld, die darauf bericht, daß er fürch
tet, als ,,Variety Künstler« angesehen
zu werden, wie der Umstand, daß seine
Talente so vielseitig sind, daß er in
keinem Einzelfache bis-her Leistungen
allerersten Range-Z aufzuweism Mie.