Grand Island Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1893-1901, November 20, 1896, Sonntags-Blatt., Image 8

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    sie Schrift deg- Todten
srtmtuatsstoman aus dem deutsch
, französischen Kriege
Von Jul. Mau.
(thtsetzung«)
Sie fuhren dorthin. Unterwegs
schlug es elf Uhr, und sie mußten noch
zu dem letzten, nach Versailles abgehen
den Zuge zurecht kommen! Jn dem be
treffenden Hause sagte man ihnen, daß
Delavonde bereits fort sei; er habe s ei
nen Wagen weggeschickt, um den Heim
weg zu Fuß zu machen.
»Seit wann ist er sort?«
»Seit einer Viertelstunde etwa.«
»Dann werden wir noch vor ihm ir
der Rue de Londres sein,« meinte Lan
dais, als sie dorthin zurücksuhren, unt
so war es auch. Aber schon war es in
zwischen Mitternacht geworden, unt
noch eine Viertelstunde verstoß, ohn(
daß der Erwartete erschien.
»Wir werden den letzten Zug verfeh
len,« sagte Landais düster. Da waret
sie schon, die Tücken des Zufalls, vor
denen der Minister gesprochen hatte
sollten sie wirklich noch im Hafen schei
tern? Klaudine und Luzie sagten nichts
aber ihre Blässe und ein nervösej
Zacken, das von Zeit zu Zeit ihrer
Ksrper überflog, zeigten deutlich genug
welche Qualen sie erduldeten.
Endlich ertönte draußen ein schwere
Schritt. Der Generalprokurator tra
ein und war sicherlich betroffen, seine1
Neser und dessen beide Schützling
wiedezusehen.
»Hast Du es wirklich durchgesetztZ
fragte er.
»Der Justizminister hat einen drei
tägigen Aufs chub bewilligt. "
a«s m» L-- III-;- »: -s-.-)«
»so-up »U« »U« sqbtsbtcw
Landais überreichte seinem Onkel di
Karte die dieser rasch überflog, un
dann auf seine Uhr zu schauen.
»Du mußt die Befehle, die ie
sogleich aus-fertigen werde, selbst nac
Versailles bringen, wenn sie nicht z:
spät kommen sollen,« erklärte er.
»Gewiß, Onkel, damit möchte ie
auch keinen Anderen beauftragen.«
»Zum letzten Zug kommt ihr nich
mehr zurecht. Jch fürchte, Du wir1
auch nicht einen Wagen bekommen, de
jeht noch eine Fahrt nach Versaille
machen will. Deßhalb werde ich de1
Austrag geben, daß mein eigene
Wagen angespannt wird, während ie
die Briefe s chreibe. Jch habe zwei aus
gezeichnete Traber, die in einer Stund
die neunzehn Kilometer machen werden
die Zwischen Paris und Versailles lie
»Ich danke Dir von Herzen, Onkel
Du könntest nicht besser die verwandt
fchaftliche Zuneigung bethätigen, di
Du mir von jeher geschenkt hast, unt
Deine Theilnahme an dem Geschick des
armen Doriat.«
Eine Viertelstunde später fuhr de«
Wagen des Generalprokurators i1
scharfem Trabe davon. Landais un1
die beiden Mädchen saßen darin, vol
froher Hoffnungen und doch im Gehei
men davor zitternd, daß ihnen aber
mals ein verhängnißvoller Zufall hin
dernd in den Weg treten könne.
8
Es war halb drei Uhr Morgens
Doriat wurde soeben aus seiner Zells
shinausgeführt, um die ersten Schritt
anf dem Leidenswege zu thun, def
sen letzte Station das Schaffot bildete
.Wohin führen Sie mich?« hatte e1
die Wächter, welche ihn geleiteten, ge
fragt und die Auskunft erhalten, dak
Lan ihm äunächjt in ,die Sirt-be Feå
L-——..ts- -
IRS-unsicher- uup dJuux Iwuccuctl
müsse. Er setzte sich, wie ihm geheißen
wurde, aus einen Schernel. Dann
beseitigte ein Gehilfe des »Monsieur d·
Paris«, wie der Henker genannt wird«
erst den Hemdiragen des Verurtheilten
und schnitt ihm dann die Haare. Eine
einzige Lampe beleuchtete die Seme.
Alle anwesenden Personen bis aus
Doriat standen.
Inzwischen ermahnte der Abbe Follei
den Verurtheilten zu christlicher Er
gebng in sein Schicksal und zur Reue
»Was soll ich den bereuen?
halten Sie mich vielleicht auch für
schuldig? Jch sterbe mit ruhigem Ge
wissen, das mögen Sie mir glauben,
und wenn es ein Paradies für die recht
schaffenen Leute gibt, dann bin ich
sicher, daß ich geraden Weges dorthin
m.e«
Der Gesängnißgeisiliche murmelte:
»So ruhig kann unmöglich ein Mensch
sein, der sich schuldig fühlt!«
Der Chef der Pariser Sicherheits
Zoli hatte es gehört; ee uckte die
eln und flüsterie dein bhe zu:
Auch das kann täuschen, sage ich
; Ich habe genug Beispiele davon
sinkt veråeref Aufseher lseirierkioeß its-e
Mder ene war er o
eh cla- Weigtngein und führteges ihm
wes-Iser
an die Lippen. Doriat leerte es in Ab- i
saßen, mit kleinen Schlucken. Die
Kehle war ihm wie zusammengeschniirt T
und ließ die Flüssigkeit nur mit Mühe
durch.
Endlich war die sogenannte »Tai
lette« des Verurtheilten beendet. Die
auf dem Kamin stehende Uhr zeigte ein
Viertel vor Drei, und der Tag begann
zu dämmern, über den Mauern des
kleinen Gärtchens, in das man durch
das vergitterte Fenster fah.
»Stehen Sie auf!« gebot der
Scharfrichter.
Doriat gehorchte. Da er etwas ftark
schwankte, so stüßten ihn zwei Gehilfen
des Scharfrichters, indem Jeder von
ihnen einen seiner Arme etgrifs. Er
aber schob sie sanft mit den Schultern
zur Seite, indem er sagte: »O, ich kann
allein gehen. Jch fürchte mich nicht vor
dem Sterben.«
Von dem Zimmer des Oberaussehers
I führte ein enger Gang zu einer kleinen
Treppe, welche auf die an der Straße
gelegenen Eingangsthür des Gefäng
nisfses ausmündete. Der Zug ging rasch
durch den Gang. Als er oben an der
Treppe anlangte, wollte der Thürhüter
des Refängnisses die Thiär auf
schließen und hatte gerade den Schlüssel
in das Schlüssellochgesteckt,als draußen
heftig an der Glocke gezogen wurde.
Allen Anwesenden entfuhr eine Be
wegung der Ueberraschung. Doriat
hemmte den Schritt, und der Henker
drängte ihn nicht vorwärts. Man
wartete.
Der Thürhiiter öffne:e. Mn sah
für einen Augenblick draußen auf der
Straße den bereitftebeuden Wagen, der
den Verurtheilien zum Hinrichtungs
platze bringen sollte, und hinter den be
rittenen Gendarmen die unruhige und
sich drängende Menge, die sich wie zu
- einer Theater-Vorstellung versammelt
hatte.
Durch die Thür stürzte hastig ein
Mann und zwei Frauengeftalten, Lan
dais und die beiden Schwestern, in das
u III-ev
Innere des wesangnisseg.
Jn dem Dunkel der Nacht hatte der
Kutscher des- Herrn Delavonde eine
falsche Straße eingeschlagen und die
Jnsassen des Wagens nach Samt
Germainien Laye gebracht. Von dort
mußten sie nun nach Versailles fahren,
wo sie endlich eintrasen, als es beinahe
drei Uhr geworden war. Ein Blick aus
den vor der Gefängnißthiir wartenden
Wagen und die harrende Vollsmenge
zeigte dem Advotaten, daß keine Se
tunde mehr zu verlieren war.
Landais eilte die Treppe empor Und
teuchte: »Wo ist der Gesängnißdirettor
und der Chef der Sicherheitspolizei?«
«hier!« antworteten gleichzeitig die
beiden Beamten.
Der Advotat überreichte, ohne ein
Wort hinzuzufügen, jedem von ihnen
den Brief des Generalproturators.
Die von dem Generalprolurator un
terzeichneten Weis ungen waren bindend.
I Ohne Zögern ward Doriat in seine
Zelle zurückgesiihrt.
»Was geht vor?« murmelte der arme
Mann. »Ist meine Unschuld endlich an
den Tag gekommen ?«
»Wir wollen es hosfenl Fass en Sie
nur Muth,« erwiderte ihm der Geist
liche.« —
Landais war jetzt fest überzeugt von
dem vollständigen Gelingen seines Ret
tungswetkes. Selbst die armen Mäd
chen lächelten zum ersten Male wieder.
Der draußen wartende Wagen ward
in den Schuppen zurückgeschicktx die be
T rittenen Gendarmen erhielten den Be
s fehl, nach der Colbertbriicke zu reiten
- und dort von der veränderteen Sach
7 lage Mittheilung zu machen. Die dort
versammelte Menge erhielt aus diese
s Weise alsbald Kunde von der angeord
« neten hinausschtebung der Hinrichtung
Zuerst gab es ein unzufriedenes »Ge
murmel. Die Leute waren so früh
ausgestanden, manche selbst von Paris
dorthin geem, und sie argerten sich
nun, daß sie um das erwartete Schau
spiel lamen. Dann aber gewann die
Neugier die Oberhand, wodurch wohl
dieser erst in der allerleyten Minute
angelangte Gegenbefehl verursacht sein
mag. Allerlei Vermuthungen tauchten
aus.
»Es scheint doch, daß er unschuldig
ist,« meinten zuletzt Viele unter der
Menge, die jetzt nach Versailles zurück
wanderte, und bei dieser Annahme
überlies es selbst den Gleichgiltigsten
kalt, wenn er bedachte, daß es eine
Viertelstunde später nicht mehr möglich
gelogen wäre, dem Denker das Opferi
treit g zu machen.
Landais brachte die beiden Mädchen
in dem Wagen seines Onlels bis nach
Garches. Die Sonne war längst aus
gegangen, als sie dort eintrasen. Be
vor der Advolat sich von ihnen verab
s chiedete, um nach Paris zurückzukehren,
gab er ihnen noch einige Berhaltungg
maßregeln.
»Ohne Zweit-If legte et, »das der
Untersuchungsrichter bereits von mei
Imn Onkel den Auftrag erhalten, die
F- H
Wahrheit Jhrer Aussage zu prüfen.
Er wird jedenfalls noch diesen Morgen
in Garches eintreffen und in erster Li
nie Sie beide verhören. Halten Sie sich
also zu seiner Verfügung anr besten im
Doriat’schen Hause, wohin er jeden
falls zunächst kommen wird. Führen
Sie ihn dann nach Les Bernadettes,
lassen Sie bis dahin aber das dortige
« Wohnhaus verschlossen, und bewahren
Sie vorläufig auch das tiefste Still
’ schweigen über Ihre Entdeckung —
Allen, ohne Ausnahme, gegeniiber!'«
Kiaudine und Luzie begaben sich
dieser Weisung folgend,Beide zu Marie
Doriat. Die arme Frau hatte vor
Aufregung die ganze Nacht nicht schla
fen können, und als sie nun die bleichen
Gesichter und die noch immer gerötheten
Augen der Schwestern gewahrte, meinte
sie im ersten Augenblick, daß inzwischen
die gefürchtete Katastrophe bereits ein
getreten sei.
»Er ist todt!« schrie sie. »Sie haben
den Unschuldigen getödtet!«
Sie wurde von einem Weintramf
befallen, von dem sie sich unter dem
Beistande der Mädchen nur langsam
erholte. Noch länger dauerte es, bis
diese mit ihrer Versicherung bei ihr
Glauben fanden, daß die Hinrichtung
nicht nur verschoben sei, sondern daßs
die ganze Angelegenheit jetzt voraus-;
sichtlich eine bessere Wendung nehmenj
werde. Die arme Frau war schoni
derartig auf die Vollendung ihres Un
glücks gefaßt gewesen« daß es schweri
hielt, sie zu einer anderen Auffassung
zu bekehren, urn so mehr, ais die«
Schwestern ihr in Folge der Mahnung
des Sachwalters den eigentlichen
Grund, weshalb die Hinrichtung auf
geschoben worden war, nicht enthüllen
konnten· —
Sie legten sich völlig angeileidet nie
der, um bei der Ankunft des Unter
fuchungsrichters sofort bereit zu sein,
und ihre Mattigkeit war so groß, daß
sie fast augenblicklich einschliefen.
Gegen acht Uhr erschien, wie Landais
Dolyccgcsllgl yallc, Dck Ulllclsllmllllg9
richter im Doriat’schen Hause. Er war
begleitet von einem Agenten der Pariser
Polizei und von dem Polizeitommissär,
der auch bei der ersten Untersuchung in
Les Bernadettes zugegen gewesen war.
Maria Doriat hatte die Herren einge
lassen. Dann eilte sie, die Mädchen zu
wetten, doch diese waren bereits wach
geworden und erschienen sofort vor dem
Richter. Frau Doriat mußte sich ent
fernen, dann vernahm Moraines die
Schwestern.
Nachdem sre ihre Aussagen gemacht,
fragte er: »Sie heschuldigen also Herrn
Johann v. Montmayeur, Bourreille er
mordet zu haben ?«
»Nein, mein Herr,« entgegnete Luzie,
»wir beschuldigen Niemand, sondern
berichten einfach, was wie gesehen und
gelesen haben. Nicht wir erheben eine
Anklage, sondern der Ermordete selbst
hat das gethan.«
»Nun gut, folgen Sie uns jetzt nach
Les Bernadettes.«
Moraines hatte bereits diesen höchst
merkwürdigen Zwischensall nach allen
Richtungen hin überdacht. Er erinnerte
sich ganz genau, daß der gleichzeitig mit
ihm am Thatorte eingetrossene Chemi
ter der Lolaluntersuchung beigewohnt
hatte, und es war ihm zu wiederholten
Malen seine Blässe und Verstsrtheit,
sein unruhiges Wesen ausgesallen. Fer
ner siel ihm ein, daß Montmaheur sich
in dem Gemach, wo die Leiche lag, im
mer ganz in der Nähe des umgellapp
ten Tisches gehalten hatte, wie um die«
von Klaudine entdeckte Schrift zu ver-·
bergen. Als ein Sonnenstrahl dort dies
Wand erhellte, hatte er einmal sogar die
Thür geschlossen.
Befand sich in jenem Raum wirklich
die antlagende Schrift des Todten,
dann war das Verhalten des Fabrikan-; -
ten nur darauf berechnet gewesen, sie zus
verbergen, und an seine Schuld konnte
i
)
i
in diesem Falle kaum ein Zweifel sein. i
Auch ein Motiv für sein Verbrechen
war unschwer zu entdecken, denn Mo-?
raines wußte, daß die Gebrüder Mont- ?
mayeur seit Jahren mit finanziellen:
Schwierigkeiten zu kämpfen hatten.
Inzwischen war man aus dem Gehöst I
; angelangt. Klaudine schloß das Wohn- f
« haus aus; sie ließ die Thür ofsen stehen ?
und machte auch die Fenster der Küchej
auf, damit Licht und Lust eindrängr.s
Da aber trotzdem die anstoßendens
Räume nicht genügend erhellt wurden,
so gebot der Richter Klaudinen, zwei
Kerzen anzuzünden.
Sie that dies und schritt dann den
Beamten voraus. Jhre Hände, in
denen sie die Leuchter hielt, zitterten
etwas, nicht aus Furcht, sondern weil
sie seht ein Gefühl triumphirender
Frieude empfand. Auch Luzie, die zu
letzt folgte, war fieberhaft erregt; es
sollte ibr und der Schwester jetzt beschie
den sein, den Pflegevater zu .
Klaudine stellte die beiden Leuchter ans
den Tisch; sie dentete rnit dem Finger
aus die betreffende Stelle an der Wand
nnd wollte sagen: »Da sehen und lesen
[
Stet« Aber die Worte erstorben auf
ihren Lippen, dann stieß sie gleichzeitig
mit Luzie einen Schrei des Entfetzens
aus. Sie wars sich vor der Wand auf
die Kniee und starrte wie irrsinnig auf
die jetzt überall gleichmäßig grau-weiß
erscheinende Fläche.
Dort war nicht die geringste Spur
von einer Schrift mehr zu entdecken!
Hatten sie Beide geträumt, hatte ein
Trug der Einbildungskraft sie genarrt,
oder träumten sie jetzt?
Fassungslos furchtsam drehten sie
sich nach dem Beamten um, die sich bis
jetzt schweigend verhalten hatten. Mo
raines blickte streng auf sie herab und
sagte: »Gutgespielt!«
. Der Polizeikommissär und der Agent
zuckten blos die Achseln.
»O, mein Herr,'« schrie Luzie, die
Hände ringend, ,,glauben Sie uns
doch nur, daß wir nicht gelogen haben!
Die Worte haben hier auf der Wand
gestanden. Sie können doch auch kaum
im Ernste annehmen. daß wir mit
Ihnen ein Spiel hätten treiben wollen.
Das wäre ja nicht nur abscheulich, son
dern geradezu unsinnig gewesen. Füh
ren Sie uns Beide in’s Gefängniß, ver
urtheilen Sie uns, aber haben Sie we
nigstens Vertrauen zu unsi«
Moraines blieb talt und schweigsam.
Er nahm blos eine der Kerzen und un
tersuchte eingehend die Mauer damit.
»Ich sehe absolut nichts,« erklärte er.
»Und nach meiner Meinung kann dort
auch vorher nichts geschrieben gewesen
sein.'«
»Jetzt ist es freilich unnütz, darnach
zu suchen. Vorher hätten Sie sich aber
gar nicht einmal zu bücken brauchen,
um die Schrift zu lesen. Die Buchsta
ben waren groß und deutlich genug,
trotzdem die Hand gezittert hatte, die
sie schrieb. Jetzt hat man sie ausge
löscht. Wir sind verloren, und der
Vater mit unsi« ·
Es entstand ein Stillschweigen, in
dem man nur das trampfhafte Schluch
zen der Mädchen vernahm. Dann hub
Luzie, die muthigste und gewandteste
von Beiden, wieder an: »Können Sie
es denn wirklich für möglich halten«
Herr Moraines,daß zwei Landmadchen
wie wir den Gedanken hätten fassen
können, das Gericht auf diese Weise
zum Besten zu halten? Was für einen
Zweck hätte unsere Lüge denn haben
sollen? Die Hinrichtung hinauszuschie
ben, nun wohl —- aber gleichzeitig
hätten wir durch eine Lüge doch den
Vater indirekt angeschuldigt. Wir
hätten ihm die Todesqualen ganz
fruchtlos um drei Tage verlängert, das
wäre Alles gewesen· Wir mußten ja
darauf gefaßt sein, daß man die Aus
sage alsbald untersuchen würde. Der
erste Verdacht, der in Allen aufleiinte,
denen wir unsere Entdeckung berichte
ten, war, daß nicht Bourreille vor sei
nem Tode jene Worte geschrieben habe,
von denen wir erzählten, sondern daß
wir selbst sie mit Blut an die Wand ge
malt hätten. Jst es denn nun nicht ein
Beweis zu unseren Gunsten, daß dort
jetzt nichts mehr steht? Hätten wir das
Gericht täuschen wollen, hätten wir die
Schrift selbst verfertigt, dann müßten
Sie sie ja jetzt noch dort sehen!«
Moraines hatte der Sprecherin, die
offenbar in hohem Grade intelligent
war und fiir ein Landmädchen ihre
Worte auffallend gut zu setzen wußte,
sehr aufmerksam zugehöri. Nament
lich ihr letztes Argument war wirklich
schlagend. Nein, diese beiden Mädchen
hatten wohl in der That nicht daran
gedacht, einen so plumpen Schwindel
in’s Werk zu setzen. Jhre Thränen
wie ihr Schreck und ihre Verzweiflung
waren offenbar echt; Alles sprach zu
ihren Gunsten.
»Wenn ich auch annehmen wollte,
daß Sie die Wahrheit sprächen,« ber
t-4-s- -- hä- --fl-- we- k-.». k—
svps o- k-» »Ist I- OUUUBII VI (- UUlIlI
Berschwinden dieser Schrift eriläreni«
,,,O mein Herr, der Mann, den sie
anilagte, ist sehr schlau und zu Allem
fähig. Wenn er entdeckt hat, daß jene
Worte dastanden, dann hat er es auch
sertig gebracht, sie verschwinden zu las -
sen, davon bin ich fest überzeugt«
Der Untersuchungsrichier sann nach.
Hatte Montmaheur wirklich gemardet
und geraubt, dann konnte man ihm
auch zutrauen, daß er sich hinterher
abermals in das Gehöst eingeschlichen
habe, um die ihn so schwer belasiende
Schrift zu vertilgen. Und ihm als
Chemiker konnte es ja nicht schwer sal
len, jede Spur der blutigen Buchstaben
verschwinden zu lassen
Je mehr der menschenkundige Richter
überlegte, desto mehr kam in ihm die
Ueberzeugung von der Unschuld der
Schwestern zum Durchbruch Sie müß
ten ja auch geradezu verrückt gewesen
sein« eine so dumme Lüge zu erfindem
Das Bei-schwinden der Schrift war der
untriiglichste Beweis siir die Wahrhaf
tigkeit.
Es war für ihn kaum noch zweifel
haft, daß Montmayeur wirklich der
Mörder war. Da aber jeder direkte
setveis gegen ihn fehlte, so konnte man
»beargwöhne, und wäre sortan um so
. nach einer Weile.
t
i
nicht daran denken, ihn zu verhasten
Wenn man ihn insgeheim beobachten
und überwachen ließ, so ergaben sich
vielleicht später ausreichende But-achts
momente — vorläufig aber war nichts
zu machen. Jhn auch nur zu verhören,
wäre untlug gewesen, denn dadurch
hätte er ja erfahren, daß man ihn
mehr auf seiner Hut gewesen.
»Glauben Sie uns nun endlich, Herr
Moraines?« fragte Luzie schüchtern
»Ja, ich will Ihnen Glauben schen
ken, mein Kind,« entgegnete er, setzte
ihr aber im Anschluß daran gleich aus
einander» weswegen er gegen Mont
maheur nichts unternehmen könne.
Das junge Mädchen hörte ihn mit ge
runzelten Brauen und düster blickenden
Augen zu
»Und was wird mit meinem Vater
geschehen? Das ist mir ja natürlich
die Hauptsache Reiten Sie nur den
Unschuldigen und geben Sie ihm die
Freiheit wieder-später mag dann dass
Gericht den wirklichen Thäter zu ermit
teln suchen!« l
»Das geht Alles nicht so leicht, wie
Sie sich vorstellen. Vorläufig hat sich
in Doriat’s Lage noch nichts geändert.
Seine Berufung wurde verworfen, sein
Gnadengesuch abgewiesen —- er muß
also sterben, wenn der ihm bewilligte
Aufschub abgelausen ist.«
»Aber das ist ja eine gesetzliche Ab
scheuiichteit!«
Der Untersuchungsrichter zuckte die
Achseln.
»Wenn nun der wahre Schuldige
infolge hinreichender Verdachtsgriinde
verhaftet würde,« fuhr Luzie fort,
»wenn man ihn zum Geständniß
brächte —"
»So wäre das das einzige Mittel,
um Doriat zu retten:
»Ich-It UUV lIt Ilututuuj Ununt- uns-I
Tagen nicht zu ermöglichen Bedenken
Sie doch nur, wie rasch die vorüber
gehen.«
»Ich verspreche Ihnen, Fräulein
Luzie, daß ich Alles ausbieten will, was
irgend in meinen Kräften steht, damit
der Aufschub verlängert wird. Jch
werde mich gleich nach meiner Rückkehr
zu dem Generalprokurator begeben und
auch den Minister aufsuchen, wenn es
nöthig ist, um eine weitere Verlänge
rung der Frist zu erwirken.'«
»O, suchen Sie das doch möglich zu
machen, Herr Moraines, und wir wer
den Sie als unseren größten Wohlthä
ter Verehrent'«
»Versuchen will ich es, aber ich möchte
Sie dringend davor warnen, sich zu
große Hoffnungen zu machen. Wenn
sich Doriat’s Unschuld nicht dadurch
unwiderleglich darthun läßt, daß der
wirkliche Thäter entlarvt wird, so ist
gar nichts gewonnen· Nun-ist unsere
Polizei zwar mächtig, allein mitunter
hat sie dennoch Fehlschläge zu verzeich
nen· Und gerade dieser Fall dürfte
seine ganz besonderen Schwierigkeiten
bieten.«
»Erwirken Sie nur den Aufschub,
fiir einige Wochen wenigstens, Herr
Moraineö, dann werde ich meinen Va
ter retten, und wenn ich selbst darüber
zu Grunde gehen wüßte«
»Daben Sie denn noch irgend eine
Hoffnung?«
»Ja. Doch das ist mein Geheim
niß!« versetzte Luzie, mit unnatürlich
sunkelnden Augen.
»Nun, so wünsche ich Jhnen den
besten Erfolg. Vergessen Sie aber Ei
nes nicht, daß nämlich kein Mensch von
der Entdeckung der Schrift durch Sie
und Jhre Schwester erfahren darf. So
bald Montmayeur weiß, daß Sie dem
Gericht eine Anzeige gegen ihn erstattet
haben, und daß wir Verdacht gegen ihn
yegen, yaoen Sie reine Aussicht, zum
Ziele zu gelangen.«
»Seien Sie unbesorgt, wir werden
schweigen und uns sogar verstellen,
wenn es nöthig sein sollte.« »
Moraineg hielt Wort. Er begab?
sich gleich nach seiner Rückkehr zu demi
Generalproturator und berichtete die
sem eingehend über den Erfolg seiner
gemachten Wahrnehmungen Er wußte
diese so einleuchtend zu schildern, daß
es ihm gelang, Herrn Delavonde zu sei
ner eigenen Ansicht zu belehren. Aus
den Vortrag des Generalproiurators
verlängerte alsdann der Justizminister
den bereits bewilligten Aufschub aus
sechs Monate. Doriat’s Hinrichtung
konnte somit frühestens erst zu Beginn
des nächsten Jahres stattfinden.
Der Untersuchungs-richtet begab sich
Ypersönlich nach Garches, um Luzie, siir
die er aufrichtige Theilnahme empfand,
dies Ergebniß seiner Bemühungen mit
zutheilen ,
Sie dankte ihm herzlich und fügte
dann hinzu-»Bis dahin wird der Thä
ter entlardt sein, oder ich selbst bin nicht
meh- am Leben! Das schwöre ich Ih
nen.«
»Wer weiß, was sich bis dahin noch
Alles ereignen witd,« meinte Moraines
nachdenklich. «Lesen Sie nur die heu
tigen Zeitungen: die politische Lage ist
seht ernst geworden, denn wir stehen
am Vorabend eines Krieges mir
Preußen.«
Wenige Tage nachher, am 19. Juli
1870 wurdedieKriegserllärungFrant
reichs der preußischen Regierung von
dem französischen Geschäftsträger in
Berlin übergeben, nachdem der Senat
in Paris sich einstimmig und der gesetz
gebende Körper mit 245 gegen 10
Stimmen fiir die Kriegsvorlagen aus
gesprochen hatte.
Die Boulevards hallten von dem
tobenden Geschrei: ,,Nach Berlin! Nach
Berlin!« wieder, bis bald genug der
große Zusammenbruch begann, Und die
bernichtenden Niederlagen, die Schlag
auf Schlag erfolgten, zuletzt von der
amtlichen Schönfärberei. die den Pa
risernerlogenen Siegesberichte zu lesen
gab, doch nicht mehr verschwiegen wer
den tonnten. .
9.
Als die so rasch aufeinander folgen
den Niederlagen der französischen
Rheinarmee von Chalons und das in
Gewaltmärschen vor sich gehende An
rücken der deutschen Heere nach dem
großartigen Siege von Sedan, Paris
und seine Umgegend in Gefahr brach
ten, wurden die Häftlinge aus dem Ge
fängnisse von Bersailles nach Bourges
iibergefiihtt.
Dorthin brachte man auch Michel
Doriat, den zwei Beamten der Polizei
präfettur geleiteten. Seit jener Nachr,
in der er sozusagen bereits vor der
Guillotine gestanden, hatte er leine
Nachrichten mehr von seinem Verthei
diger und von seiner Familie bekom
men. Es war ihm gesagt worden, daß
ihm ein Aufschub von sechs« Monaten
.« .-«-....
—..— .- ts
bewilltgt worden fei, was er Ieooch nrchr
als Aufhebung oder Umwandlung der
über ihn oerhängten Strafe auffassen
;durfte.
f Darauf hatte er erwidert: »Wenn
kman dabei bleibt, mich durchaus für
k schuldig zu halten, dann hätte man mich
Elieber an jenem Morgen auch wirklich
Ezum Tode führen sollen. Dann hätte
i ich Alles hinter mir.«
! »So geben Sie sich doch zufrieden,
sFreund,« meinte der Schließer. »Sie
khaben doch wahrhaftig ein Mordsglück
» gehabt und dürfen scch nicht bellagen.«
Der Gefangene schüttelte den Kopf.
Er hatte damals gänzlich mit dem Le
ben abgeschlossen gehabt. Jetzt waren
neue hoffnungen in ihm erwacht, und
es wäre eine furchtbare Grausamkeit
gewesen, wenn man ihn zuletzt noch ein
mal hätte zum Tode führen wollen.
Doch was sollte er machen? Er mußte
geduldig erwarten, was man über ihn
beschloß.
Jn der Fabrik der Gebrüder Mont
mayeur hatte sich nichts verändert. Der
Mörder lonnte wieder frei aufathmen,
wenn er Abends von dem Fenster seines
Schlafzimmers aus nach Les Bernadet
tes hinüberschaute. Er hatte nichts
mehr zu fürchten, es konnte tein Be
weis gegen ihn gefunden werden.
Immer freilich quälte ihn noch der
Zweifel, ob wohl Klaudine jene ver
hängniszvolle Schrift an der Wand ge
funden und auch ihrer Schwester gezeigt
habe. Dafür schien zu sprechen, daß
sie an jenem Abend zusammen mit
Luzie in dem Wohnhaus e gewesen war.
Jedoch ein Beweis schien ihm das bei
s weiterem Ueberlegen nicht —- der Her
sgang lonnte auch ein ganz anderer ge
twesen sein. Wenn Klaudine zum Bei
Ispiel den Tisch aufgerichtet hatte, ohne
i vorher für genügende Beleuchtung jenes
! dunllen Zimmers gesorgt zu haben,
Hdann war es recht wohl denkbar, daß sie
die einzelnen Buchstaben für einfache
Blutspuren angesehen hatte, die dorthin
nsfnkibf Inn-»- An dick-m EDAL fu«
sie offenbar gar nicht weiter darauf ge
achtet, sondern sich höchstens vorgenom
men, diefe Blutflecken zusammen mit
den noch aus den Fußbodendielung
befindlichen beseitigen zu lassen. Der
Besuch Luziens aber konnte irgend ei
nen zufälligen Anlaß gehabt haben.
Sehr zu denken gab ihm die Hinauf
schiebung der Hinrichtung Doriat's, die
ihm natürlich alsbald bekannt gewor
den ivar. Sie konnte nur aus sehr wich
tigen Gründen erfolgt sein, und das
Nachgrübeln darüber ließ ihn in der
nächsten Nacht nicht schlafen. Zum
ersten Male seit dem veriibten Verbre
chen glaubte er fich verloren. Er wagte
den ganzen folgenden Tag die Fabrik
nicht zu verlassen und trug immer ei
nen geladenen Revolver bei sich, um in
dem Falle, daß man ihn verhaften
wolle, ein rasches Ende zu machen·
Doch es geschah nichts dergleichen.
Um fo unbegreiflicher wurde ihm der
Aufschub. Welcher geheimnisvolle und
mächtige Einfluß konnte sich noch im
letzten Augenblick zwischen Doriat und
den Henker geftellt haben? Sollte etwa
rar f ein Bruder etwas verrathen haben?
Er beschloß, ihn direkt darnach zu fra
Ien.
Gortsekung folgt.)