Grand Island Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1893-1901, October 23, 1896, Sonntags-Blatt., Image 16

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    Im Jvmmomks Beichte.
Erzählung von E. Gebricht
Anna Jtvanowna lief im Ge
schwindsebritt zum hause des armen
Seht-stets Abramche Schusserz es war
ein langes, niedriges, ein-stöckiges Ge
bäude in der schmalen Straße, und
Anna Jwanowna machte sich ein Ver
gnügen daraus, erst an den Dachzie
eln zu zerren, und dann erst durch die
åcheiben in die Stube zu gucken; sie
lachte allemal ihr helles, tlingendest
chen, wenn sie diese Stube sah, so klein,
so niedrig, so schwarz, so voll von Ar
beit und Kindern, zwischen denen Ab
tamche auf seinem Schemel unter der
Kugel saß Und wacker auf die Sohlen
der matoden Stiefel undSchuhe klopf
te. Heute stand Abramche, sein Ster
behemd um, in der Thür zur Kammer,
wo an beiden Seiten, in kleine schwar
ze Päctchen gewickelt, die Gesetzesbäw
der festgenagelt waren. Er betete eis
rig und riß an den langen Bändern
auf den kleinen Moseshörneren auf
dem Kon hin und her. Anna Iwa
nowna lachte erst gar nicht, so verwun
dert war sie über den Anblick, dann
aber, als sichAbramche nach ihr umsah,
das Gesicht bleich und schweißtriefend,
da lachte sie, daß es schallte und rief:
»Mach’ auf, mach’ auf!«
Er öffnete nun das kleine Klapp
fenster, die Kinder kletterten auf den
Stuhl, zwei rechte Rangen von zwei
und vier Jahren; nur das kleine Ab
ramche, das jüngste, der Liebling des
Naht-Z konnt-- mit den disk-n Nein-n
nicht hin-aufkommen . I
»Was soll’s, was soll’s?« fragte der
eilige Schuster.
»Ein paar Stiefelchen, Schuster, ein»
paar von hellgelbem Leder -—— so gele
wie hier die Seidenprobe zur Bluse,:
und bis morgen früh! Mach keine
Einwendungen und keine Aber, Jüd
chen, es muß fein!«
»Aber es kann nicht fein, es ist doch
keine Möglichkeit; ist schon Mittag und
ich muß an’s Meer, beginnt dochSput
toth heut’!« «
»Ja, Mensch- was geht mich denn
deiq Spukkoth an und dein Schüttel
fest; schon den ganzen Tag laufen sie
an’s Meer wie die Unsinnigen: dar
über lachen wir doch nur! Verdien’ du
hübsch Geld und tauf’ deinen drei
Mäulern da hinter dir Wein und Ku
chen zu Laubhiitten. Schättle nicht
den Kopf, hörst du, ich will es! Sonst
geh’ ich drüben zum Christen. Und
ich zahle dir nicht fünf Rubel, wie
sonst, sieben sollst du haben, hörst du,
sieben! Und nicht Papier, sondern klin
gende, blanke, neugeprägteRubel, hörst
du? Jch will er dir verrathen: mor
gen muß ich sehr schön sein, zu unserer
Kirche wird der Grundstein gelegt, und
morgen Abend tanzen wir.«
Schusser war ganz bleich und über
sein Gesicht perlten noch immer die
Schweißtropen.
Es wär’ eine Sünd wider das Ge
setz, wenn er's that —- aber sieben Ru
bel! Für noch nicht zwei konnte er die
Auslagen bestreiten — fünf Rubel
Gewinn sind immer fünf Rahel·
»Warten Sie, Fräulchen, warten
Sie!«
Und während sie vom Fenster aus
die Kinder neckte, mit ihnen s paßte und
that, als ob sie Bonbons in das Zim
mer werse, worauf die Kleinen sofort
suchend auf dem Boden herumtrochexn
ging Schusser durch die Kammer in
die enge Küche, wo Rainche sorgfäl
tig Asche um die Töpfe packte und Koh
len nnterschob und alles mit einem
Kessel bedeckte, damit es heiß blieb
vierundzwanzig Stunden lang.
Mit leiser Stimme trug er ihr den
Fall «v»or». Sbie sah ihn anfänglich mit
cuqrguugcn zeugt-u un; mlc wllmc cS
möglich sein, wider das Gesetz zu;
thun?
»Und du sagst sieben Rahel? Sie
hat sieben Rubel geboten?«
,,Sieben, sagt sie, sieben neue, klin
gende Rad-elf
»So geh und Verlang neun, und
wenn sie geben will acht, so ist es ein
großes Loos, und dann muß es sein.«
Er war noch bleicher als sonst und
wischte mit dem Sterbehemd eine wah
te Fluth von feiner Stirn.
Anna Jwanotvna lachte noch im
mer: «Jud,« sagte sie, »Juki-, du bist
doch ein Etzschelm Duweißt recht gut,
daß ich nur deine Schuhe leiden mag,
die so schmal sind und so leicht wie Fe
dern. Du sollst neun haben, aber mor
utn elf Uhr komme ich hier an’s
er und nehme die hübschen »Kann
tienvsgel in Empfang. Sind sie nicht
fertig, so giebt es gar nichts.'«
Und so war der Handel geschlossen,
Schnsser hatte eben noch Zeit. das gel- «
be Leder aus der Bude zu holen; schon
schlossen alle Geschäfte unid unaufhör
lich bewegten sich die Schütteln-den von
der Stadt an’s Meer hin und zurück.
« Eine große Angst befielSchussey der
Glis aat Levy sah ihn so forschend
Wer ie rothen und gelben Ledetbalge
-.-.«--- -—- k
s I
·
In. Wenn er nur nicht fragen möcht-:
,Zu was jetzt noch Lederi«
Aber Levy hatte es selbst eilig, war
schon mit seinen Gedanken beim Feste
und brachtedsas chiift rasch zum Ub
fchluß. Wie ein ieb mit gestohlener
Beute schoß Schusser in die Werkstatt
zurück.
Frau Rainche band ein weißes Tuch
mit Spitzen um ihren hübschen Kopf;
sie hatte die beiden ältesten gewaschen
und war nun bereit zum Schütteln. .
Sie küßte das Abramche, das noch fo«
jung war und »teine Sünde iannte«,
empfahl es dem Vater und hieß der
Magd. ihn nicht zu stören und nie-.
mand hineinzulassen, »denn wir sind
alle an ’s Meerf«
Schusser nahm das Schüttelbeutel-!
chen aus der Schrankecke, bückte sich
nach einigen Fetzen Leder, nach Garn-f
endchen und Nägeln von Holz und«
Eisen, tbat alles in’s Beutelchen und(
gab es Rainche zum Ausfchiitten in’S
Meer. damit die Sünd’, die doch klebt
am Geschäft das ganze Jahr, nun ab
gewafchen wird für’s kommende.
»Gott der Gerechte, wie werd’ ich be
stelan Thu’ ich’s doch nun nicht
selbst!«
»Bet’ hier,« rieth die Frau, »Gott
hat he1:t’ so viel zu sehen und zu ver
geben, denn der ganze Strand iit voll;
der wird sich deiner nicht gleich entsin
nen Bedenk doch: s ist, wie ein gro
ßes Loos!«
Und sie ging mit den »Kinsderchens«
und dem »Beutelche« im großen
Schwarm davon. Die Frauen gin
gen doch immer mehr für sich und die
Männer auch wieder Zusammen. So
merkt es keins, daß sie ohne den Mann
kommt. Sie schüttelte dann auch eis
rig, wie alle, die Kleider über der her
anspringenden Fluth auseinander,
schüttelte aus den Schuhen und Aet
meln, wusch sich und den Kindern das
Gesicht und die Hände, warf zuletzt
den Jnhalt des Beutelchens weit hin
aus Und spülte dieses selbst sorgsam
von beiden Seiten aus.
Alle Sorgen und Kümmernisse warf
sie hinter sich: sie hatte ja zum Leben
immer noch genug gehabt, und ost
kam, nnerwartet wie heute, noch ein
Extragewinn.
; Und so belebt und hübsch war’s am
IMeet Es sprengte eine ganze Gesell
"schast von Reitern und Reiterinn.n
vorüber; auch Anna Jwanowna ritt
zur Linken eines schönen Ossiziers, et
was zurück hinter den andern, denn sie
unterhielten sich sehr eifrig. Aber doch
gewahrte Anna Jwanowna die schöne
Jüdin und nickte ihr zu, lachte dann
ganz hell und erzählte ihrem Kavalier,
wie sie heute den armen Juden mit vier
Rubeln extra seinem Gesetz abgewendet
hatte, und wie der Jude, der so leicht
bei seiner Lebhastigleit in Schweiß
gärieth heute ordentlich Blut geschwth
be.
,,Sprechen Sie im Ernst, Anna
Jwanowna?«
»Aber, Stepan Stepanowitsch, wie
soll’ ich denn nicht, er ist doch nur ein
Jüd!«
Sein Gesicht war traurig; er sagte
nichts und blickte still aufs Meer.
»Sie sind langweilig, Stepan Ste
panowitsch Wenn es nach Jhnen gin
ge, hätte man nie einen ordentlichen
Spaß im Leben. Da wird man ja
ganz dumm oder rabiat! Was soll ich
nun thun?«
» Er wendete sich zu ihr und sah sie
kaus traurigen Augen an. »Sie könn
lten mich verstehen lernen, dann wäre
uns beiden geholsen.«
»Moralpredigten sind mir gräßlich
— und nun noch vielleicht gar um ei
nen Judens«
min- sino Este-»I- Mvsus Otm---i
,,-..- .,--,-, »...... » ............
Wenn Sie doch den Juden so gering
achten, warum lassen Sie ihn für sich
arbeiten ?«
,,Keiner arbeitet so rasch und so ge
schickt wie er: doch nur darum!«
»Nun, sollten Sie ihn nicht darum
achten. wenn er ein besserer Arbeiter ist
als die Christen?«
»Bewahre; er thut’s doch, um ra
scher und mehr Geld zu verdienen. Und
darum sinid diese Juden den Christen
so über. — Davon verstehen Sie aber
nichts, Stepan, weil Sie ein Griibler
sind und, wie hre Kameraden spot
tend sagen, ein hilanthropt«
Er trieb sein Pferd ganz dicht an
das ihre, beugte sich vor und sagte mitt
fast drohender Stimme:
»Wenn ich je erfahre, wer von diesen
Knaben iiber mich spottet, so ist’s um
ihn geschehen! Berstehen Sie mich,
Anna Jwanotvna?«
Und da er den entstellenden Schreck
aus ihrem Antlitz sah, wurde er rasch
nieder freundlich.
»Es-Seen Sie, kleine Anna Jtvanow
ra«, sagte er, »ich erfiehe vom himmel
iiir Sie doch eine Strafe: ich wünsche,
Daß Jhr leichtsinniger Jude Ihnen die
Stiefel zu klein siir Jhre kleinen Füße
nache, und daß Ihnen diese ordentlich
nennen. Das wäre so ein kleiner Vor
keschrnack vom höllischen Feuer für
Ihre kleinen Teufelsarglisten!«
Sie lachte nun wieder und schüttelte
sich, daß das Pserdchan unter ihr in ein
tanzendes Tempo versieL
»Ach, mein lieber Stepan Stepatwi
witsch«, ries sie ihm zu, »was verstehen
Sie denn von Damenstieselnst Eng
müssen sie ja sein, so eng, daß man
sechs Wochen lang die Engel im him
mel singen härt; dann erxt passen sie!"
Die junge Magd bei Schussers war
eine Anverwandte des Mannes und
aus Mitleid ins Haus genommen wor
den; sie hatte ein turzes Bein, hörte
und sah schlecht, aber sie war immer
freundlich und dienstfertig und liebte
ihren Verwandten, der sie aus Barm
herzigkeit doch so gut hielt, als ob sie
seine Schwester wäre.
»Mach dem Manne auch einen gu
ten Kassee,« hatte die Frau beim Ab
schied gesagt, »er muß ibn haben bei
der Arbeit.«
Es war also nun ein wirtliches Fest
für sie. Sie war nicht allein geblieben
mit dem Kinde, sondern auch der
Mann war zu Hause. bei dem es im
mer gute und heitere Worte gab. Und
dazu noch einen guten Kassee!
»So schön muß es im Paradiese
sein!« sagte Veichelche leise vor sich
hin, »so schön war es doch noch nie!«
Freilich war’s ihr nicht recht, daß»
der Vetter beut« bei der Arbeit saß,"
denn es war doch wider das Gesetz;
Taber sie nahm an: et muß seinen
sGrund haben, und so dagegen einwen
sden.
"« Sie kochte also einen guten Kasfee,
zliesz ordentlich überbrausen— aus der
Ebraunen Kanne und- klärte mit einem
zSchuß rauen Wasserg, ues wieoer
’ziehen und nahm dise Kanne vom
EFeuer7 sie schob das Handwerkzeug
gbei Seite und setzte die Kanne neben
zSchusser aus den Tisch: »Werd’ ho
« len rasch das Geschirr!«
, Der heiße Duft zog um Schusser’s
jNafh und er sah ordentlich liebtosend
von feinem Platz unterm Fenster nach
der Kanne hin; und da sah er, wie
gerade Abramche unterm Tisch hervor
xtroch, angelockt, wie er, vom Kassee
dust, und wie es mit kindisch tastenden
Fingern zu der Kanne in die Höhe zu
kommen versuchte, an der Drahtutn
iflechtung des morschen Geschirrs hän
gen blieb und plötzlich sammt der Kan
ne von der Bildfläche verschwand. Ein
herzzerreißender Schrei gellte durch
das Zimmer, und ein angstvolles
Wimmern folgte.
H Sie entleideten das jammernde
jKind selbst laut weinend und mehr
ztodt als lebendig. Fetzen von Haut
jun-d Fleisch hingen an der weißen
Schulter und den runden Aermchen;
die siedend-heiße Fluth war am Köpf
chen heruntergestiirzt, über das rechte
Auge, in den offenen kleinen Mund
und iiber die ganze Körperseite Als
es ganz enttleidet und auf ein Tuch
sgelegt wurde, stöhnte das Abramche
nur noch leise, und ehe das davonge
eilte Veilchelche mit dem Arzt zurück
kam, war die tleineSeele angstvoll aus
dem gemarterten Körper entslohen. Es
war wohl gerade um die Zeit, da
Rainche frohherzig die Geschäftssün
den in’s Meer warf. Deutlich sah
Schusset sein Weib am heiligen Was
ser sieben und seine beiden entsühnten
Kinder. Er lehnte an der Wand wie
ein Sterbender und leuchte vor-sich
hin: »Gott lasset sich nicht spotten!«
Und so lehnte er noch immer an der
Wand, bleich und von perlendem
Schweiß bedeckt, als längst Rainche
und die Kinder zurückgekehrt waren
und das Jammern und Schreien sich
bereits wieder gelegt hatte. Klein
sAbramche lag noch immer in der Werk- »
statt, wo es nun ganz still war. !
Was nun? Sollte er die bestellten?
Schuhe sertigstellen oder nicht?
I Sein Weib hatte ihm schlecht gera
Ithen. Was wissen auch Weiber vom
iErnst des Glaubens oder vorn Ernst
des Geschäfts! Weiber sind doch nur
iWeiberl Er hatte seine Strafe nun
! hin; sie kam von Gott, das mußte er
iwohl begreifen. Wie nun? Arbeiten
qur Feierzeit war eine schwere Sünd’,
"da karn die Strafe sogleich, und er
wußte Bescheid. Nun war erst recht
seine Strafe, weiter zu arbeiten, denn
er hatte ja sein Wort g ben!
Unsd so niihte er, eppte aus der
Maschine und klopfte sein Inst-TM
unter der Kugel die ganze lange Nacht
hindurch und den sol nden Morgen.
Es schlug schon els hr vom hohen
Thurm, als er die leyten Stiche machte
und die schönen gelben Bänder ein
schnürte.
Und da ward es plötzlich dunkel vor
seinem Fenster, und als er ausblickte,
sah er gerade in Anna Jwanowna’s
reizendes lachendes Angesicht.
Schwersällig erhob sich der Jude.
Gram, Angst und Seelenqual dieser
einen, furchtbaren Nacht hatten sein
sonst so sorglos heiteres Gesicht verän
dert; seine Lippen waren fest geschlos
sen, als er die Klappe des Fensterchens
öffnete und die Schuhe hinausreichte.
,,Schusser, Jüdchen, wie siehst du
l—
dem aus! Da sind deine neun Pudel
fiie die verlorene Nacht doch auch ein
schönes Geld, wies«
»Ein Sündenqeldt« sKte er mit
heiserer Stimme, »ein schr liches Geld
—- ein Stetbegeldl«
Sie zwängte den hübschen Kopf zu
ihm hinein; sie war nun doch er
schrocken, denn sie fühlte, daß etwas be
sonderes geschehen war.
«?Sag’s doch, sag’s doch, was ist mii
dir "
Mit ein paar agebrochenen, heiseren
Worten sagte er alles, dann trat er
weg vom Fenster, schlug das Tuch von
dem Leichnam des Kindes zurück und
wies auf den verstümmelten Körper:
»Und weil’s mein Liebstes war auf
der Welt, mein kleines weißes Abram
che, da hat’s mir Gott zur Strafe ge
nommen, und ich hab’ die Strafe zu
End’ gebracht. Die Schub’ haben mich
blutigen Schweiß getostet2«
Wie ein gejagtes Reh entfloh Anna
- wanowna, die schrecklichen gelben
Ochuhe im Arm, und ganz gedanken
los vor Entsetzen gelangte sie in’s
Haus und auf ihr Zimmer. Sie warf
sich aufs Sopba und brach in Thra
nen aus.
,,Gel)’ zum Papa,« sagte sie zum
Denschit, »ich habe sehr starle Kopf
fchmerzen und lann nicht mitgeben zur
Grundsteinlegung —- es ist nicht mög
lich —- ich kann nicht!«
Di: cslte Excellenz ließ sich soeben
mit allen Bändern und Orden behän
gen, drei Denschicts sprangen mit den
Oberllridern um ihn her, Pustend und
dürstend, denn die große Gala war lei
kne Kleinigkeit
I »Mein Gott, fie wird doch nicht ster
ben? Lauft zum Doktor, aber rasch,
Irasch! Wenn die nicht mitgebt, dann
ist sä ifne in har- Ifsmt nanmsickt Ef
lann nicht? Mein Gott, sie kann nicht?
—- Das ist starl!"
Und die Thiir zum Vorzimmer öff
nend, rief er seinen Adjutanten zu:
»Stepan Stepanowitsch, ich bitte, blei
ben Sie hier zurück und berichten Sie
mir, was der Arzt gesagt hat. Anna,
meine Tochter Annuschla ist trant!"
Stepan Stepanowitsch verbeugte
sich: »Zu Befehl.«
«·Er dachte bei sich: Wie schade, wie
schadet Sie ist doch auch nur leicht
sinnig und oberflächtich wie die Weiber
alle. Und launenhaft scheint sie oben
drein zu sein, denn ich sah sie vorhin
aus der Straße, und ihr Gesicht blühte
wie eine Rose! Schade, schadet Welche
Teufelei mag jetzt wieder in ihr vor
gehen! Vielleicht sind die berühmten
Stiefel doch nicht fertig geworden.
Nun war der General fort zum
Gottesdienst, und der Arzt fuhr vor.
Er hatte ein turzesZwiegespriich mit
Anna Jwanowna, die still in ihren
Kissen lag und weinte. Er dachte bei
sich: Wieder einmal eine Weiberlaune«
weiter nichttst verschrieb ihr ein nie
derschlagendes Pulver und kalte Kom
pressen um die Stirn. Sein Bescheid
an den Adjutanten lautete:
»Die Nerven des gnädigen Fräu
leins sind start afficirt, sie bedarf der
größten Ruhe, doch hoffe ich, daß in
einigen Stunden Besserung eingetreten
fein werde; ich werde kommen und
nachsehen.«
»Na, aber so was!« sagte nach dem
Bericht die alte Excellenz, »seit wann
hat die denn Nerven? Wie tann die
der größten Ruhe bedürfen? Beim
Frühtasfee hat sie Kasatschock getanzt
twie ein Kerl! Na, da soll dochdag
tWemk dreinschcagew und er tacht
hinter dem Mützenschild.
Der junge Offizier lachte gar nicht
mit; ihm war sein herz bange um
seine erste, schöne, heiße Liebe.
Anna Jwanowna weinte noch im
mer, sie weinte, bis sie einschlief, und
sie schlief bis in den späten Nachmit
tag, bemerkte weder den Arzt, der auf
Zehen hereingeschlichen kam, noch die
alte Excellen3, deren kräftiger Schritt
nur mäßig durch dieTeppiche gedämpst
wurde. Jhre gesunde Natur schlief sich
zurecht, und ihr gesundes Herz fand im
stillen Nachdenken, das dem sangen
Schlaf folgte, seinen frischen, lebens
vollen Pulsschlag wieder· Es war et
was in ihr überwunden, das der Ju
end fast immer anhängt, und das
chale, verkümmerte Seelen mit sich
schleppen wie ein Gift, an dem see im
hohen Alter langsam ersticken: Rück
sichtslosigkeit und Selbstliebe.
Annuschka ließ ihrem Bäterchen sa
gen, sie sei nun wieder ganz wohl, und
zum Balle würde sie mitgeben.
Sie trug aber weder die gelbe Blase
noch die Kanarienvögelchen an den
Füßen; sie war ein bischen bleicher als -
sonst, aber so schön wie nie zuvor. Diel
alte Excellenz zapfte an des Lieblingg
goldenen Locken und sah ganz verklärt
aus von väterlichem Stolz.
»Vaterchen« ,sagte sie, »ehe wir in
den Saal treten, schicke mir aus einen
Augenblick Stean Stepanvwitsch in’s
Eßzimmerx ich habe mich gar nicht um
die Blumentouren im Kotillon küm
mern können; ich thue das so gern, wie
In wetßt.«
Sie trat in’s E immer, und gleich
nachS ihr etmfolätesith der utant.
sich, Stepan Stern-,
nowitsch, und hdren Sie mir zu.«
Jn diesem Augenblick sah er die tlei
nen weißen Atlasftiße und sa te: (
Also, sie waren dochw ar zu
klein? Und so bleibt Jhnen odie trafe
erspart. Oder waren fee zu großs«
»Nein, nein; bleiben Sie ernsthaft :
und hören Sie mich an! Jhr Wunsch
ist schrecklich, schrecklich in Erfüllung »
gegangen, und die gelben Schuhe, die «
ich doch gar nicht an den Füßen habe,
brennen mich wie das Fegefeuer, und »
meine Seele ist belastet, daß ich es nicht
ertrage!«
Und sie erzählte ihm alles, das gan
ze, schauerliche Gottesgericht; sie er
sparte nicht sich noch ihm die Schilde
rung von der Verzweiflung des armen
Juden und schließlich von dem grausen
Anblick der so schrecklich entstellten klei
nen Leiche Sie zitterte in ihrer gro
ißen Herzensangft, und zuweilen flos
sen die Thriinen aus ihren großen
Inoch immer im Entsetzen weitgeiiffne
i ten Augen«
»Ich war leichtsinnig«, sagte sie,
»und ich wurde schlecht. Es ist etwas
geschehen. das ich niemals wieder gut
machen lann, und ich bin betheiligt an
der schweren Schuld dieses Juden und
war der Anlaß, daß ein armes, un
schudiges Kind hat zum Opfer fallen
müssen, auf daß ihm und mir die Au
gen geöfsnet werden.
Und ich will Jhnen sagen, Jhnen al
lein, was ich nun thun werde: Jch will
in ein Kloster gehen. Gott und die
Heiligen sollen meine Reue und Buße
sehen; ein ganzes, langes Leben will
ich mir vorn Herrn erbitten, denn lan
ge, lange sollen diese gelben Schuhe an
meinen Füßen brennen, die.so viel
Ultllo yemusoesllpmotm Wom:
,,Anna Jwanowna«, sagte jetzt der
junge Osfizier, »Sie haben gesprochen,
und nun will auch ich sprechen. Jn
Jhrer aufgewiihlten Seele hat der
Schmerz in diesen Stunden gerechter
weise die Oberhand Durch diesen
Schmerz, Anna Jwanowna, sind Sie
eine Erweckte geworden. Jht Herz hat
bisher nicht die Stimme hrer früh
verstorbenen Mutter vetne en tön
nen; tein Unglück hat Jhke tosenbes
streuten Pfade getreuztz Sie haben im«
Schein gelebt und das Wesen niemals
gesunden, weil Sie es nicht zu suchen
brauchten. Nun ist es da und hat
überwältigend Jhr Herz erfaßt! Nurj
wer eine Sünde begangen hat und be .
greift ihre Schrecknisz nur der kann«
Buße thun und sich zum Staube einzie
seligen und Beladenen Anna Iwa
nownc. Dich hat Gott an sein Herz
gezogen, denn ohne ihn hättest du heute
in deinen gelben Schuhen getanzt und
des Juden und seines Kindes verges
sen. Komm, komm, sieh, ich will dichl
lieben und auf diesen händen tragen
ein ganzes, langes Leben hindurch!
Der Himmel hat Gnade an dir gethan
—- laß mich lnien vor dir, denn wer ist
ohne Sünde und Schuld? Laß mich
Vergebung von deinen Füßen küssen
— du bist tausendmal besser als ich,
der ich in Hochmuth mich von die wen
den wollte. Kannst du mir vergeben ?«
Und so war das entweihte Svuttoth
des armen Juden den beiden Christen
zur Erlösung geworden.
C
Eine Dame über den typischen
Americas-en
Wenn immer ich den Gedanken an
die Vereinigten - Staaten herausbe
schwöre, erscheint vor meinem geistigen
Auge ein Haufe von Männern, die un
gestüm in jeder Richtung davoneilen,
ihre Hüte fliegen in der Luft, die Arme
und Rockschöfze schwingen hhsterisch im
Winde. Solche Leute müssen nothgæ
drungen seicht und oberflächlich sein«
" Eine Frau, die gescheit ist« wird durch
- aus nicht auf die Bekanntschaft eines
Ameriianers brennen. Sie kann stets
nnr die hätter von dem hören, was er
sagt, den Rest hat sie zu errathen.
Selbst ein ganz unbedeutender Eng
· länder wird da en stets den Eindruck
machen, als ha er etwas zu sagen,
das wohl der Mühe werth wäre, anzu
hören; er wird es rathsam erscheinen
assen, daß man ihm die verlangte
Aufmerksamkeit schenkt.
Jch habe einige der gescheitesten
Amerikaner gekannt-und bewundert.
Sie machten stets den Eindruck einer
in den äußeren Umrissen wunderbar
vollendeten Stizze und riefen unwill
kürlich in dem Beobachter den Gedan
ken wach, was wohl ihre Nachkommen
in 100 Jahren von jeht sein würden. «
Das wird und kann auch nicht anders
werden, bis einmal der Besin stabil ge
worden ist und die Muße. die er dann
gewährt. von ehrenhaften nnd intelli
genten Männern dazu benutzt wird, die
politischen Verhältnisse in den Berei
nigten Staaten anständig und dauernd
zu regeln. Dann erst wird der Natio
nai-Eharakter, wie die Nation selbst,
l
O
cui-geglichen tiefer ma- solid W
Doch vek umarmt-hat auch seine
IUtM Seiten· Niematfd sorgt besser
iir s eine Familie als.er,et rft ein sorg
amer Gatte, ein zärtlicher Vater. Der
Imeritaner wird frühzeitig grau in
Iem Bestreben, Besitz fiir seine Familie
cnzuhiiufen, er stirbt meist imGefchirr,.
iöchftens in anz vorgefchrittenem Al
er gönnt er Muße.
Auf der anbeten- Seite bekümmert
ich det Ameritaner nicht um die Er
Iiehung sei-net Kinder. Das überläßt
er seiner Frau, die es mei ens so un
perftändig wie möglich anxiingi. Da
her kommt es, daß Kinder in den Ber
kinigten Staaten mit Biskuits, star
kem Kaffee, Kuchen, Zucker und Eis
Eream großgezogen werden und daß
Amerika das Land der Dyspepsie ist.
Eine nicht zu unterschätzende Anzahl
von Frauen sterben, wenn sie ihr erstes
Kind zur Welt bringen, und ihre Söh
ne, deren Interesse für kein-en Sport,
für keine gesunde Bewegung außer dem
Hause geweckt wird, haben im späteren .
Leben dann nur zweierlei Verwendung-.
für des Vaters Geld « Weiber und
Champagner.
Und noch schlimmer. Die älteren
Männer bringen meistens die besten
Jahre ihres Lebens ohne jede geistige
Gemeinschaft mit der Frau bin, die sie
in ihrer Jugend zufällig geheirathet
haben. Kameradschaft ist für sie ein
unbekannter Begriff. Sie haben keine
Zeit. Wenn schließlich mit den Run
zeln und grauen Haaren auch die Muße «
kommt, ist auch die Frau alt geworden
und hat ihre Reize verloren. Was
dann passirt? Sind die Annalen des
amerikanischen Graukopss je geschrie
ben worden? Wenn das der Fall ist,
to haben wir-nichts oaoon gehorr —
dani Anthonn Comstock.
»Der Amerilaner.« Es ist eine un
dankbar-e Aufgabe, ihn zu generaltsi
ren. Jn den Vereinigten Staaten le
ben die Abiämmlinge von fünf oder
sechs verschiedenen Rassen, die sich un
ter einander so unähnlich, wie möglich
sind
Der Südländer ist sorglos und sen
timental, auf der anderen Seite ver
hältnißmäßig harmlos. Der Neu
Engländer ist engherzig, aber er weiß.
sich überall zu benehmen und ist zumeift
sehr intelligent.
Die Männer des Westens haben ge
wöhnlich sehr schlechte Manieren, aber
eine gute Moral. Der Californier hat
in neun von zehn Fällen weder Mora
lität, noch Prinzipien, Ehre oder Ma
nieren. Aber er ift gewöhnlich sehr
klug.
Der New Yorter hat ausgezeichnete
Manieren und gar keine Moralität.
Sein Verhalten zu einer schönen Frau
ist ungefähr folgendes: »Sie sind eine
Freundin meiner Frau und meiner
Mutter; soweit ich unterrichtet bin,
war hr Lebenswandel stets ein anta
delha ter. Nichtsdestoweniger, obgleich
ich zum ersten Male mit Jhnen allein
bin, muß ich Ihnen sagen, daß ich Sie
lieb habe. Die Zeit drängt. Auf
Präliminarien, mir Jhre Neigung zu
gewinnen, kann ich mich nicht einlas
sen. Jch muß jede Minute- ausniitzem
New York ist ein geschäftiger Platz.«
Nun frage ich Sie, welche Frau mit
einem Denivermiigen im Kon könnte
sich je fiir einen solchen Mann erwär
men, ihn vielleicht gar zum Helden ei
nes Romans machen? Jchweiß in ganz
New York nur von einem Mann, den
ich als Hauptfigur in einer Novelle
verwerthen könnte, und den habe ich
persönlich nie gelanni. Jch glaube
jetzt fest, daß dieser eine Mann auch
nur in meiner Einbildung besteht.
Mit einem Wort: Die Amerilaner
sind schlau, fleißig, freigebig, tapfer,
aber im Verkehr mit Frauen sind sie
ein »Failure«. Sie sind uninteressani.
Und nun will ich noch ein Geständ
niß machen, mag es auch meine Be
hauptungen til-schwächen- Jch selbst
habe sechs Ameriianer sehr gern ga
babi, trotz ihrer Fehler, für die ihre
Erziehung verantwortlich ist. Aber
Trägt nur sechs —- unid ich kenne hun
r .
Gertrude Atbertosn
—- T r o V d e m. Nach jahrelangen
Debauchen schlimmsierArt isi der-Sohn
eines Millionärs dem Jmnhause
überantwortei worden. Der Vorfall
giebt der gesammien Presse Anlaß zu
den landläufigen Kommentarem die in
das Leitmotiv ausklingen: Jugend
hat keine Tugend Und trotzdem
scheint es, daß allgemach auch in dem
Lan-de der von der Verblendung des
Illiers privilegirien Flegeljahre Mor
zenslusi zu wittern ist. Jn dem Ver
pikt einer Coroners-Jury, welche über
Ien Tod eines Knaben zu Gericht saß,
per von einem bösartigen Spielleute
aden mit Ueberlegung erschossen wur
-e, heißt es nämlich: »Die wahre Ur
ache ist Mangel genügender häusliche-r
Erziehung."