Grand Island Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1893-1901, September 04, 1896, Sonntags-Blatt., Image 9

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    Sonntags Blatt
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, J. P. Wiiisøtphk Hekciijsgevck.
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Feujnethxz
Iönningyausen
Roman von Claire v. Gliimer
(Fortsehung.)
»Mache mir das Herz nicht n
fchwerer,« bat sie mit erstickter Stimcsik
Tante T kla brach in Thränen aus.
»Du dar st nicht fort!« rief sie, Jo
hann-As Hände erfassendz »ich lasse dich
ni tgehen."
as junge Mädchen machte sich sanft
von ihr los. —
» ch muß, liebe Tante, i mu u
Lisåth,« sagte ste. ch ß s
»Aber Otto wird dir folgen, dich
wiederholen,« fiel die Tante ein.
Johanna schüttelte den Kopf.
»Er wird einsehen, daß wir uns
trennen müssen,« flüsterte sie, »aber —
laß mich nicht ganz verbannt und ver
gessen sein .. . chreib’ mir . . . .'«
Das Kamermädchen karn
.,Gniidiges Fräuleå:«., der Wagen ist
vozgefahrenX
och einmal umarmten sich Tante
und Nichte.
»Griiße Großpapa tausend-, tau
sendmal . . . Sorge, daß er mir ver
zeiht . . · Behalte mich liebs« schluchzte
Johanna
Dann schwankte sie hinaus, vorbei
an des Großvaters Thüre vor deren
Schwelle Goldhund verwundert auf
stand und mit den klugen Augen fragte,
ob er mitgehen dürfe.
Johanna machte ihm ein Zeichen. zu
rückzubleibem und das Tafchentuch an
den Mund drückend, eilte sie die Treppe
hinunter,warfsich in dieWagenecke, der
Schlag fiel zu, die Pferde zogen an —
ihr Traum von Glück und Liebe war
zu Ende.
Dreiundzwanzigstes Ca
p i t e l.
Als der Freiherr Johanncks Abreise
erfuhr, hatte er anfangs für nichts An
deres Sinn, als für die unerhörte Ver
letzung seiner Autorität. Aber nach
dem der erste Zorn verraucht war, sagte
er sich selbst, daß doch wohl mehr dahin
ter stecken möge, als die Sorge um das
Kind. Johanncks gestrige-Z Weghlei
ben von allen Mahlzeitem Ottos Be
nehmen, Theilcks verstörtes Aus ehen,
Alles kam zusammen, den Verda t des
Freiherrn aus ein Zerwiirsniß zwischen
den Verlobten zu lenken. Er eschloß.
von Otto selbst Auskunft zu verlangen
und richtete seinen Morgenritt Tann
hugmstk — ..-..
Am halben Weg traf er mir Urro zu
sammen. Tante Thetla hatte demselben
· ohanna’s Billet geschickt, und er hatte
ch ausgemacht, um mit der alten Da
me zu berathen, was weiter geschehen
"solle. Er erschrock, als er bei einer Bie
·gung des Weges die hohe Gestalt des
Freiherrn aus seinem Grauschimrnel er
blickte. Ausweichen konnte er nicht:
seinen Muth zusammennehmend, ritt
er dem Großvater entgegen.
»Weißt du« dasz Johanna fortgereist
ist?« fragte dieser nach der ersten Be
särtißung und seine Augen schienen den
ntel durchbohren zu wollen.
»Sie hat es mir geschrieben,« ant
wortete der junge Mann, indem er um
sonst versuchte, dem Blick des Großva
ters Stand zu halten.
»So —- dariiber möchte ich Näheres
wissen; du begleitelt mich nach Dön
ninghausen.« sagte der Freiherr und
wendete sein Pferd. »Nun aber ohne
Umschweife: es hat zwischen euch wag
gegeben?«
»Lieb« Großvater, ich weis-, nicht . . .
ich möchte nicht antlagen,« starnmelte
Otto.
»Habt ich das verlangt?« herrschte
ihn der Freiherr an. »Ich will nu1
wissen, ob du an der lucht des dum
men Dinges schuld bi , und ist das de1
Iall,«so wirst du nachsahren und Dam·
Unverstand wieder holen."
Otto erschrak.
«Lieber Großvater.... sing et zö
gernd an.
Dersreiherr siefthm in’it Wort.
»Zum Kuckuck, Junge. was ist dai
site ein Armenstlndeekettchtk ries er
»Mitt! nicht, als chice ich dich del
W Mmutttx Mill- .anth out
! die Führte einer jungen Thürin die ihr
bischen Frauenzimmerverstand durch
sdich zu verlieren droht!« Und ernster
hfiiste er hinzu: »du magst ihr sagen es
so e diesmal noch Gnadefiir Recht er
g,ehen anderweitige Escapaden dürfen
hedoch nicht vorkommen. Müßt Jhr
! Euch zanken — Liebesleute sollen ohne
das nicht auskommen können — so
imacht das gefälligft unter Euch ab
EJch und mein Haus und die darin
herrschende Ordnung dürfen nicht da
, durch geftört werden. Darnach bitte ich
sich zu richten.«
Einer Weile ritten sie schweigend ne
beneinander hin. Otto, der zu sehr mit
sich selbst beschäftigt war, um in Jo
hanna’s Empfinden einzugehen, hatte
ihr Billet mit einem Gemisch von Stau
nen und Erbitterung gelesen. Wie viel
Schmerz unter den scheinbar ruhigen
Worten verborgen lag, hatte er nicht
herausgefühlt, sah nur, daß sie ihn auf
geben konnte fand ihr Benehmen hart,
kalt, egoistisch, hielt sich durch den
Eilat, den sie hervorgefchworen, jeder
Pflicht gegen sie enthoben und völlig be
rechtigt, fiir sich selbft zu retten, was zu
retten war· Ausdrücklich hatte sie ihm
befohlen dem Großvater eine glaub
hafte Erklärung ihres Bruches zu ge
ben, —— das wollte er thun
«Lieber Großvater, « sagte er, nach
dem er Alles nochmals reiflich über
dacht hatte wie die Dinge liegen, sehe
ich mich doch zu meinem Bedauern ge
zwangen dir über das Zerwiirfniß
zwischen Johanna und mir Einiges
L mitzutheilen
»Macht- iurz:" rief ver alte Verr;
»nur die Hauptsachen! Kann das tin
dische Gezant nicht leiden.«
»Wie du befiehlst,« antwortete Otto.
dessen Ausgabe dadurch sehr erleichtert
wurde. »Der erste Anlaß sowohl wie
der leßte ist Johanna’s Stellung zu der
unglückseligen zweiten Heirath ihrer
Stiefmutter. Jch verlange, daß sie sich
ein- fiir allemal von der Kunstreiter
familie lossagtz sie weigert sich, es zu
thun, und ergreift die erste beste Gele
genheit, mir zu beweisen, daß sie mei
gent Wünschen und Forderungen Troß
ie et.«
»Unsinn!« rief der Freiherr zornig
aus. »Das hätte ich wissen sollen . ..
Aber sie wird schon zur Raison zu
bringen sein. Du wirst sie holen . . .
»Aus dem Hause des Kunstreiters
— niemals!« siel Otto mit einer Ent
schiedenheit ein, iiber die er selbst im
nächsten Moment erstaunte·
Die Augen des Großvaters blißten
ihn an, dann aber schien er sich zu be
sinnen.
»Das hat etwas für sich!« sagte er
nach einer Pause, und nach abermali
gem Schweigen fügte er hinzu: »Wir
werden schreiben —- ich stelle ihr gera
dezu die Ausgabe, zwischen Dönning
hausen und diesen Leuten zu wählen!
du lannst ihr sagen, was dir recht und
gut scheint. Wenn sie dann aber ihre
horheit einsieht, wünsche ich, daß du
einen Strich machst, und daß von der
ganzen dummen Geschichte nicht mehr
die Rede ist."
Der Rest des Weges wurde schwei
gend zuriickgelvgt, und sobald sie Dön
ninghausen erreicht hatten begab sick
der alte an den Schreibtifch.
Sein · f lautete:
»Liebe ohannat Als mir meint
Schwester ute Morgen Deine Abreis
ineldete, fand ich es rücksichtsloi, das
Du gehen konntest, ohne mich um Er
laubniß zu bitten um so mehr, da Dr
dich zu Menschen hegabst, mit denen ict
auch nicht in die entfernteste Berüh
rung zu kommen wünsche. Zu Deinei
Entschuldigung sagte ich mir, daß Dr
in der Sorge um deine Stiefschwestei
die Pflichten gegen mich und die Ord
nung meines Hauses für den Augen
bliet außer Acht gelassen hast. Anders
gestaltet sich die Sache, nachdem ick
höre, daß Dein Verkehr mit diesei
Nunstreiterfamilie seit einiger Zeit di·
Ursache ernster Zerwiirfnisse zwischer
« Dir und Otto geworden ist. Anfangs
» wollte er nicht mit der Sprache heraus
aber auf mein Verlangen, die Wahrhei
zu hören, hat er mir Alles gesagt. Di
weißt, Kind, wie lieb ich Dich habe
und wie gern ich Dich in Deiner Weist
thun und denken lasse-, hier«aber· bis·
Du im Unrecht und mußt dich sugen
- Die Ehre der Familie verlangt. das
Du Dich von Allem los« machst, wai
Dir aus Menen Zeite- Wust
Komm’ also utiick, sobald Du kannst;
Otto, den i Dir nachschicken wollte,
erklärt, da er Dich nicht aus dem
Hause des unstreiters abholen könne
und giebt mir damit den Beweis, daß
mehr vom Dönninghausen in ihm ist,
als ich geglaubt habe. Aber auch in»
Deinen Adern fließt das Blut unseres
Geschlechts, und ich erwarte, daß Du
dich desselben würdig zeigst. Trotz der
Verirrung Deiner Mutter haben wir
Dich als eine der Unsrigen in die Fa
milie ausgenommen, verlangen nun
aber auch, daß Du Dich von der ehe
maligen Frau Deines Vaters und ih
rem Kinde lossagst. Erllärsi Du Otto,
daß Du dazu bereit bist, so ist zwischen
Euch Alles wieder in Ordnung. —
Sollte Deine Stiesschwester noch be
denklich trank sein, so verlange ich nicht,
daß Du augenblicklich sortgehst, aber
sobald Du über ihren Zustand beruhigti
bist, wirst Du es thun und wirst btss
dahin streng vermeiden, Dich mit ei-»
nemGliede derKunstreitersippe öffent-»
lich sehen zu lassen. Antworte umgehend,.
wann Du zurück zu kommen »gedenlst,1
und sei herzlich gegrüßt von Deinem
Dich liebenden Großvater -
Johann, Freiherr von Dönning
hausen«
« schuppen
Dieien Brief regre oer arre Herr zur
Weiterbeförderung in Otto's Hände.
»Ich habe dem dummen Dinge un
verblümt meinen Willen zu wissen ge
than,« sagte er; »das Pariren magst
du ihr nun durch allerhand Süßigkei
ten erleichtern. Brauchst nicht verlegen
zu werden, ich will nicht lesen, was du
geschrieben hast; Liebesbriefe find nur
für den genießbar, dem sie gelten.«
Ob er Otto’s Zeilen wohl für einen
Liebesbrief gehalten hätte?
Otto schrieb:
»Deine übereilte Abreise, liebe Jo
hanna, hat Alles noch mehr verwirrt.
als es leider schon war. Hättest Du
mir eine Unterredung·gewährt, Du hät
te mir verziehen, ich weiß es, und das
s öne Verhältniß zwischen Dir und
Großpapa wäre durch keinen Mißllang
gestört! —- Aber es kommt mir nicht
zu, Dir Vorwürfe zu machen; ich bitte
vielmehr — bitte, so dringend ich tann
— mich aus der falschen Stellung zu
erlölen, die Du mir Großpapa gegen
über aufgezwungen hast. Ein Wort,
daß Du mir verzeihest, daß Du zurück
kehren willst, und Alles ift gut! —
Denke an unsere glücklichen Stunden,
an die schöne Zukunft, die vor uns
liegt, und glaube an die Reue und
Liebe Deines Otto.«
· Auch TanteThetla schrieb einen lan
gen, von Thränen halb verlöschten
Brief, in dem sie Alles wiederholte,
was fie den Tag zuvor mündlich gesagt
hatte, und dann wurde die Sendung
abgeschickt und der Freiherr berechnete
voll« Zuversicht, wann die umgehend
verlangte Antwort eintreffen könnte.
Aber erst acht Tage später kam ein
Bär-schon Zohanna an den Großvater
mit einer inlage für Tante Theilu;
für Otto nicht eine Zeile.
Dem Freiherrn hatte Johanna ge
---- —
»Unser Ølvsvlllclx Den Ort-I
Brief in meinen Händen ist, habe ich
Tag und Nacht in schwerer Sorge am
Krantenbette meiner Schwester zuge
bracht. Sie hat ein Nervenfieber, das
- anfangs hitzig auftrat, nach und nach
J aber einen schleichenden Charakter ani
. nimmt, fo daß ich äußerlich mehr zur
- Ruhe komme. Aber nur äußerlich, denn
seit die Angst um Lisbeth leichter ge
)- worden ist, habe ich um so mehr mit
mir selbst zu ringen gehabt, und wenn
» ich endlich zu einem Entschluß gekom
men bin, so ist damit noch immer tein
« Sieg gewonnen, und mein Herz zittert,
» wie meine Hand, indem ich hier nieder
schreibe, daß ich nicht nach Dönning
s hausen zurücktommen kann. th Otto
i im Stande, mir die Alternative zu stel
sp len, mich entweder von Euch oder mei
s. nem Vater los-zusagen —- denn des Va
.I terz Andenken ist’s, das für mich in fei
- nen Hinterlafsenen fortlebt —, so ha
ben wir uns nie verstanden, nie geliebt,
I und ich muß ihm sein Wort zurückge
. ben. Daß ich durch die Trennung von
. ihm auch Dich und Tante Thetla Und
e die Herzensheimath verliere, die Jhr
: mir gesehen bt, ist das Schwerste,
. was mich tre fen tonnte, aber ich muß
k« es auf mich nehmen. —- Lebe wohl, ge
- liebter Grojwateri Verzeihe mir, halte
mich nicht fkt undankbar und glaube
—trotz Allem, was dagegen zu s prechen
scheint — an die unwandelbare Liebe
und Verehrung Deiner Enkelin
Johanna.«
Der Freiherr hatte den Brief längst
zu Ende gelesen und noch immer starrte
er die Unsicheren Schriftziige an, in de
nen Johanna’s feste, tlare Hand kaum
zu erkennen war. Das hatte er nicht
erwartet, nicht für möglich gehalten.
Aber wenn sie im Stande war, Dön
nin hausen auszugeben, ohne auch nur
zu Fragen, ob sich kein Ausweg finden
ließ, wollte auch er unbeirrt aus seinem
Rechte bestehen.
,,Lies!« sagte er endlich mit hartem,
heiserem Tone, indem er seiner Schwe
ster das Briefblatt reichte. »Du wirst
Otto mittheilen, wie die Sachen stehen.
— ich mag von der Thörin nicht mehr
sprechen.«
Vierundzwanzigstes Cupi
tel
Johanna hatte geglaubt, mit dem
Losreißen von Dönninghausen das
Schwerste überstanden zu haben, und
wirklich fühlte sie sich in den ersten
bangen Tagen und Nächten am Kran
kenbette der Schwester vorwiegend von
der Sorge um das Kind iii Anspruch
genommen. Die Kleine lag in Fieber
phantasieren, fürchtete sich vor einem
schwarzen Pferdchen, ertlärte zitternd
und weinend, sie wolle nie wieder tan
zen, nie wieder im Cirkus austreten,
und Helene gestand unter Thränen daß
Lisbeth’s Krankheit Folge eines Falles
sei, den sie während einer Probe ge
than.
s Johanncks Gegenwart schien die
Angst des Kindes zu beschwichtigen,
Iund sich selbst vergessend, war sie im
mer an seiner Seite; dann aber kam die
Briefsendung aus der verlassenen Hei
math und riß sie in die alten Kämpfe
und Schmerzen zurück.
Unwillkiirlich hatte sie zuerst nach
Otto’s Brief gegriffen —noch hatte
lihr Herz nicht verlernt, beim Anblick
dieser Handschrift höher zu schlagen;
aber je weiter sie las-, um so kälter
fühlte sie sich durchschauert, und als sie
zu Ende gekommen war, legte sie das
l Blatt mit einer Empfindung des Ekels
beiseite. Es gab ihr einen neuen Be
weis von Otto’s Feigheit und Verlo
genheit. — Und damit wollte er sie wie
der gewinnen! Kannte er sie so wenig?
Hatte er so vollständig das Gefühl eige
» ner Würde verloren? — Ein aufrichti
ges Wort, und-Alles hätte gut werden
können! — Ohne Magelone preiszuge
ben, konnte er dem Großvater sagen:
ich habe mich gegen Johanna vergan
gen, in Verzweiflung darüber ist sie
abgereist; —- verzeih’ mir, wenn sie ver
zeiht. Hatte sie darauf gehofft? Diese
Lösung auch nur einen Augenblick für
möglich gehalten? —- Nein, ach nein!
—- Hatte sie ihm doch geschrieben und
Tante Thella wieder und wieder gesagt
und mit jedem Herzschlag empfunden,
daß zwischen ihm und ihr Alles zu
Ende war.
Das mußte sie jetzt auch dein Groß
vater schreiben. Otto hatte ihren
Wint, das Verhältniß zu den Ihrigen
als Grund des Bruches anzugeben, ge
schickt benützt, die halbe Arbeit war ge
;than, warum zauderte sie, das letzte
zWort zu sagen's
(-s«t—--2- I--«- t:- -:..- ftp-UT -----
UIIIUUHI xyutkb In. tun ussssut«--Y
l dafür in den Anstrengungen der Kran
lenpslege gesunden, die ihr beinaht
ganz überlassen blieb. Aber als das
Kind auf ihre dringenden Vorstellun
gen aus der ersten Etage des getäusch
vollen Hotels, in dem sich Batti ein
auartiert hatte, in ein stilles Hinter
zimmer der dritten Etage gebracht wai
und dort von Tag zu Tag ruhigei
wurde, konnte sie sich nicht länger mit
dieser Ausflucht täuschen.
Und wie Jeder, dem es ernstlich da
rum zu thun ist. fand auch sie »das bit
tere Wort der sreimachenden Wahr
heit.« Unbarmherzig machte sie sick
llar, daß es Otto bei seinem kühlen
Versöhnungsversuche hauptsächlich aui
die Erhaltung eines leidlichen
Verhältnisses zwischen ihm und dein
Großvater abgesehen hatte, und daß sit
—- wie er nun einmal war —- mehr zu
seinem Glücke beitrug, wenn sie um sei
netwillen aus Dönninghausen ver
schwand, als wenn sie eine Verständi
gung anzubahnen suchte, und sie be
schloß, das Opfer zu bringen. Lieber
wollte und durste sie ihn nicht mehr, re
dete sich auch ein, es nicht mehr zu thun ’
— aber die Folgen eines Vergebens auf
»sich nehmen, das durfte sie, ohne sich
selbst zu erniedrigen. Jn dieser Em
3pfindung schrieb sie den Brief an denj
Großvater. ;
! Als er abgeschickt war, versank sie in
eine dumpfe Apathie. Langsam, ein
tönig schlichen die Stunden an ihr vor
über. Nur selten wurde ihre Einsam
keit unterbrochen. Für die Pflege des
Kindes war wenig zu thun; Helene, die
in der ersten Zeit von einer Theilung
derselben gesprochen hatte, ermattete
bald, und Batti begnügte sich, Morgens
anzufragen, wie die Nacht gewesen und
wie es heute s ei? Wenn er dann immer
wieder die Antwort bekam: »Alles
beim Alten!« und das Kind, das schwer
athmend mit halboffenen Augen be
wußtlos dalag ,eine Weile betrachtet
hatte, war er, wie Helene behauptete, so
deprimirt, daß er die Hälfte des Tages
gebrauchte, um den Eindruck des Kran
kenbesuchs zu überwindenz
V!-L
»Wir Woclc III-cl- Publcllxclh Ucvc
Johanna,« sagte Helene, »und ich glau
be fast, daß meine Aufgabe als Carlo’s
Pflegerin noch schwieriger ist als die
deine. Denke dir nur, welche Ueber
windung es mich kostet, dem armen
Carlo die Sorge meines Mutterherzens
zu verbergen, Toilette zu machen, Be
suche zu empfangen, spazieren zu fah
ren und bei den kleinen Soupers zu
präsidiren, an die Carlo sowohl sich
selbst wie seine Bekannten gewöhnt hat.
Mit der Kunstleistung allein ist es nicht
gethan, auch in der Gesellschafts muß
der Künstler seinen Platz behaupten,
und da Batti dazu meiner Hilfe bedarf,
kann ich ihn nicht im Stiche lassen.«
Nach solchen Erklärungen küßte sie
,,ihr liebes, trankes Engelchen,« um
armteJohanna, nannte sie ihren Trost,
ihre Stütze und kehrte zu ihrer gewohn
ten Lebensweise zurück, ohne zu fragen
wie viel Johanna entbehrte.
Johanna selbst tam nicht zum Be
wußtsein, aber der enge Raum, in den
sie gebannt war, und die häßliche Kahl
heit ihrer Umgebung verstärkten den
Druck, der auf ihrer Seele lastete Ein
niedriges Zimmer, das zehn Schritt
durchmessen, die Wände mit einer grell
farbigen Tapete begleitet, im Hinter
grunde das Bett der kleinen Kranken,
an der Mittelwand ein altes Sopha,
das Johanna als Lager diente, ein
paar schlechte Tische und Stühle, Vor
hänge von zweifelhafter Reinlichkeit an
dem tleinen Fenster, das nach einem
Seitengäßchen hinausging. —- Helene
versicherte, daß sie nicht vierundzwan
zig Stunden in solcher »Bude« zu exi
stiren vermöchte, aber etwas zu einer
behaglichen Einrichtung zu thun, kam
ihr nicht in den Sinn. Wozu beson
dere Rücksichten nehmen? —- Johanna
hatte durch das thörichte Aufgeben ih
rer Verlobung jeden Halt und An
spruch verloren und mußte froh sein,
im Hause des Stiefvaters ein Asyl zu
finden. Leider war sie noch immer so
hochmüthig wie in früheren Zeiten.
Umsonst hatte Helene zu erfahren ge
sucht, aus welchem Grunde der Bruch
mit dem Verlobten erfolgt war. »Ich
kann nicht davon sprechen,« hatte Jo
· hanna immer wieder geantwortet, und
dann befahl Batti in seiner heftigen
Weise, »das arme Ding« nicht zu quä
len. »Mich sreut’s, daß es so gekom
men ist,« sagte er; »nun wird sie sich
nicht mehr sträuben, aus meine Pläne
einzugehen. In Jahr und Tag ist sie
die Krone meines Cirkus.«
Johanna hatte davon keine Ahnung;
Batti bat sie vorläufig nur, sein »No
madenzelt« als ihre Heimath anzu
sehen und ihm die Rechte eines »Quasi
Stiefvaters« zu gewähren, und sie hat
te, was er einfach-herzlich bot, mit
Dank angenommen. An die Zukunft
i dachte sie kaum — noch lastete die Ge
aenwart mit zu schwerem, lähmendem
Druck aus ihrer Seele.
Endlich wurde sie durch einen Brief
aus Dönninghausen aufaerüttelt. Die
Adresse hatte Tante Thekla geschrieben,
das Briesblatt war vom Großvater.
Johanna küßte die Schriftzüge. wie sie
so oft die welke, kühle Hand des Grei
ses aeküßt hatte, und dann las sie unt
fühlte dabei den bösen Blick seiner
mächtigen Auaen und hörte das Grol
len seiner mühsam gedämpften Stim
me. Er schrieb:
,,Rwischen meinem Briese und Dei
ner Antwort ist so viel Zeit vergangen
daß von einer Uebereilung Deinerseiis
nicht die Rede sein kann. Was zu er
wägen war, wirst Du erwogen haben,
und so bedarf es wohl nicht meiner
ausdrücklichen Erklärung, daß mit der
Lösung deines Berlöbnisses jedes Band
zwischen dir und mir und jedem Gliede
meiner Familie aus immer zerrissen ist.
Was Dich berechtigt, Otto’s Liebe zu
Dir in Abrede zu stellen, weiß ich nicht;
jedenfalls darfst du seine Ehrenhaftig
teit nicht bezweifeln. Ein Dönning
hausen hält sein Wort, und Otto fühlt
sich, wie er mir wiederholt erklärt hat,
noch immer gebunden. Auch Dich habe
ich für eine echte Tochter meines Hauses
gehalten, aber Du bist nur das Kind
Deiner Mutter, der ersten, einzigen
Dönninghausen, die jemals vom Wege
der Pflicht und Ehre abgewichen ist. —
j Otto wird Dir schreiben! Gelingt es
l ihm, Dich zur Einsicht und Umkehr zu
E bringen, so sollst Du mich jetzt noch
zum Verzeihen geneigt finden; aber
» entschließe Dich bald, sonst ist dies das
s letzte Wort Deines Großvaters-.
! Johann, Freiherrn von Dönning
hausen.«
» Das war zu viel! Mit zitternden
Händen legte Johanna das Blatt zu
; sammen. Jhre Mutter, die stille Dul
» derin — sie selbst, die wahrlich nie »das
thre gesucht« hatte, wurden verfehmt,
s verbannt, und Otto galt für den echten
» Dönninghaufen, der sein Wort hält —
und Magelone für eine der Makellosen,
die nie vom rechten Wege abgewichen
sind! Zorn und Selbstgefühl drängten
für einen Augenblick den Schmerz in
den Hintergrund. Auch sie wollte ab
schließen, wie der Großvater gethan —
wollte sich selbst den Beweis geben, daß
sie seines Blutes war.
Sie trat an’s offene Fenster und sah
hinaus. Jenseits der Mauer, die das
Gäßchen begrenzte, lag ein Garten mit
Obstbäumen und Gemüsebeeten. Es
regnete; feines Geriesel fiel schleierhaft
aus tief niederhängendem Gewölk und
füllte die Luft mit einem Getön, das in
den Laubtronen drüben zum leisen
Rauschen wurde. Ein gemischier Duft
von Kräutern, Blumen, Laub und nas
ser Gartenerde stieg zu ihr auf, und in
diesem Duften, Rieseln, Dämmern lö
ste sich ihr qualvolles Denken nach und
nach in milde Träumerei. Aus den
Regenschleiern stiegen, erst schattenhaft,
dann immer deutlicher, Bilder und Ge
stalten auf; Vergangene-H und Gegen
wärtiges, Erlebtes und Geträumtes
floß zusammen — als die Lampe ge
bracht wurde, erwachte Johanna wie
aus tiefem Schlaf. -
Mit diesem Erwachen stand sie zwar
wieder mitten in dem alten Leben sie
fühlte den dumpfen Herzschlag wieder-,
der ein beständiges Weh war; mit un
erbittlicher Klarheit sah sie, was sie
verloren hatte; die Sorge um Lisbeth
bedrückte sie —— und doch war Alles an
ders! Der Bann, der seit jenem Un
glüclsmorgen im Walde auf ihr gelastet
hatte, war gebrochen und sie sah über
sich hinaus in die ewige Schönheit des
Lebens, die von persönlichem Glück und
Unglück unabhängig ist.
Wie früher in Dönninghausen ver
suchte sie auch jetzt die Schattenbilder,
die vor ihr auftauchten, schreibend fest
zuhalten; aber sie that es nicht mehr,
wie damals-, nur in dem Verlangen,
sich die Seele freizumachen; ein künst
lerischer Gestaltungsdrana war in ihr
erwacht, des Vaters Erbtheih sagte sie
freudig zu sich selbst, und begann, was
ihr die Phantasie wirr und schemenhaft
gezeigt, zu gruppiren und zum Ganzen
zu ordnen.
Stunde auf Stunde saß sie an dem
improvisirten Schreibtische, den sie sich
am Fenster der Krankenstube eingerich
tet hatte. Für die schöne, geliebte Hei
math, die ihr verloren gegangen, war
ihr hier eine neue gegeben. Oder war
es nicht vielmehr ein Heimkehren, ein
Wiedersehen alter Erinnerungsstätten?
—- Aus Dönninghausen vertrieben,
flüchtete sie nach Lindenbad. Die grü
nen Thäler und Höhen des Thüringer
Waldes wurden der Schauplatz ihrer
Erzählung, und eine Fülle anmuthiger
Nachllänge aus frühen Jugendtagen
gaben derselben eine frische und Heiter
leit, die Johanna selbst erfrischte.
Fortsetzung folgt.