Grand Island Anzeiger und Herold. (Grand Island, Nebraska) 1893-1901, August 21, 1896, Sonntags-Blatt., Image 8

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    Weiße Rosen.
Von c Deimholzk
»Bist Du beseit, Nur-ir
,,Ja, Mama, sogleich«, rief als Ant
wort aus obige Frage eine helle Kna
benstimme vom Garten her.
Die zierliche, schlanke Gestalt einer
Dame in lichtgrauem Seidentleide mit
leichtem Spitzenumhang um die Schul
tern, ein kleines Spißenhiitchen auf der
vollen, aschblonden Haarfrisur, ging
wartend in der mit Rosen und Cletna
tis umrankien Veranda aus und nieder.
Baronin von der Linden hatte schöne,
shmpathische Gesichtsziige, denen in die
sem Augenblick ein wunderbar inniger
Glücksausdruck ausgeprägt war.
Die in mildem Strahl leuchtenden
grauen Augen richteten sich nach dem in
uppiger Pracht blühenden Rosenbeet
des Gartens. aber nicht, um sich an die
ser Blumenfchönheit zu erfreuen, son
dern um den Bewegungen eines hochge
wachsenen, kräftigen Knaben zu folgen,
der beschäftigt war, einen argen Raub
unter den duftenden Blüthen anzurich
ten. Jeßt fügte er noch einen Tusf
weißer Rosen zu dem Strauß in seiner
linken hand und eilte nun geradewegs
der Veranda zu, die Stufen derselben,
immer zwei auf einmal ersieigend.
»Berzeihe, »chere Maman«, daß ich
Dich so lan e warten ließ«, entschul
digte er sich öhlich, »doch als Du vor
hin tiefst, war der Strauß noch unvoll
ständig — wenn es Dir jetzt genehm
wäre?« Er machte vor seiner Mutter
eine echte Tanzftundenverbeugung und
reichte ihr dann ritterlich den Arm. —
Sie schritten die Treppe hinab, durch
den im Nachmittagssonnenschein dalie
genden Garten, bis zur Eisenpforte in
dem hohen Mauerwert, das die Be
sißung einfriedete. Nun gingen fie
langsam, angeregt plaudernd in der
schönen uralten Lindenallee weiter, auf
der einen Seite mächtigen Waldbe
stand, auf der anderen wogende Gemi
deselder, die dem in wenigen Wochen be
ginnenden Schnitt entgegenreiften. Auf
einer kleinen Bodenerhöhung lag hinter
ihnen Schloß Linden, ein einfacher,
feudaler Herrener der durchaus nichts
Schloßartiges an sich hatte, mit seinen
langgestreckten zweistöckigen Seitenflii
geln und dem etwas vorspringenden
Hauptbau, mit niederer. unförmiger
Kuppel gekrönt, die bereits jetzt schon
durch die mächtigen Baumriesen der
Allee gedeckt wurde.
Rudolf von der Linden, der da so
sorgsam s eine kleine Mama führte, hat
te Nichts zu eigen von ihr, als die
großen, klaren, grauen Augen, die bei
ihm im Feuer froher Jugend leuchteten.
Sonst glich er ganz seinem Vater, dem
früheren Oberst. Aber Oberst von der
Linden war auch als behäbiger Ritter
gutsbesitzer noch eine auffallend schöne»
Erscheinung, und bei seinem Sohnes
waren bereits Anzeichen eines solchenH
Erbtheils bemerkbar. Jn dem Jung-;
lingsgesicht lag schon jetzt neben derJ
noch vorhandenen kindlichen Weichheitj
ein Zug von Energie und Thatlraft. I
»Und Du meinst, Mama, ich werdet
auch einige alte Freunde wiedersehenss
Aber sie gin en doch alle so rosig fort im i
vorigen Ja re?« I
»Und mußten dann wieder hinein in J
die Enge, den Schmutz, die Armuth be- d
drückter Familienverhältnissex wenni
dann ein Jahr um ist, sind sie eben sol
weit, wie wenn sie zum ersten Male zu Z
uns gekommen,« ergänzte die Baroninx
leise seufzend. E
»Wie Du Dir das Alles zu Herzen
nimmst, mein Mutting,« sagte Rudi
weich, die Hand seiner Begleiterin sanft
ftreichelnd, dann fuhr er scherzend fort:
»Ich glaube, der Papa hat damals ein
sehr gutes Werk gethan, als er Dich
gleich vom Kriegsschauplatz aus heira
thete, wer weiß, ob Du es lange ausge
halten, »Schwester« zu sein, ob Du
nicht schon« —- er sprach das traurige
Wort nicht aus, sondern schluckte es
Irampfhaft hinunter.
»Es mag schon s ein, mein Sohn, daß
ich nun nicht mehr unter den Lebenden
weilen würde, tknå es MEde trocle so
kl« « au oes reun in
gkirig M des Vaters Liebe. Aber
als die Tochter des Oberstabsarztes
Geldner hätte ich mir nicht Begehrens
wertheres denken können, bis 771a bis
eben Dein Vater kam, da freilich« —
Die Baronin hielt glücklich lächelnd
inne. » » «
»O, Mütterchen, und wie schon tst’s
so geworden!« ergänzte der Knabe en
ihusiastisch, seiner Mutter Arm sanft
M den seinen pressend. «
»Da wir le« am tel, —horch
— ,« rief di ebhaft, seine
Ungart unwillkürlich etwas beschleu
n d. ·
« der IM- aui zweigtz sich 1et
ni- Deg seitwärts durch Inn ba ·
durch-an Wiesen, we hier die
) » »- s««-ssnss-.u. n
einer ziem, « en
iFtsmilihsmunklar-trage ein W Bot
weri. G war wo eine gute halbe
Stunde m W Linden entfernt,
(
l 1
aber höchstens zwei Minuten vorn
Walde, der sich noch manche Meile weit
drüben, liings der Landstraße entlang
MJU diesem Seitenweg bogen Mutter
und Sohn ein, um der Ferientolonie,
die hier schon seit einigen Jahren unter
dem gütigen Schuhe der Baronin ihr
Heim hatte, einen Besuch abzustatten,
den ersten in Rudi’s Ferienzeit
Das einstöctige, grunumranlte
Häuschen lag vor ihnen, da hinten aus
der Wiese, zwischen srischgemiihtem
Gras spielten die Kinder, ihr Lachen,
Singen und Jauchzen schallte bis hier
her, wo sonst tieser Friede zu herrschen
schien. Auf der Bant vor der Thür, im
Schatten hoher, schöner Nußbaume,
saß eine Schwester in ihrer einfach Klö
sterlichen Kleidung und zog emsig Na
del und Faden durch das grobe Leinw
zeug, welches vor ihr aus dem runden
Holztische ausgethiirmt lag. Reben ih
rem Platze stand ein Fahrstiihlchen,
und darin ruhte, durch Kissen gestützt,
ein etwa zwölsjiihriges Mädchen. Das
erschreckend blasse, eingefallene Gesicht
chen, umrahmt von den schwarzen,
lockigen Haaren, die sessellos aus die
Schultern herabsielen, lag müde in den
buntgewürselten Kissen und die über
natürlich großen Augen, dunkelblau,
von tiefem, unergründlichem Schmelz,
waren emporgerichtet m das leise, flü
sternde Laub der Bäume. Die mage
ren Hündchen lagen gesaltet ausder
Decke, die man über den kleinen, schwa
chen Körper gedreitet; das Bilderbuch
war ihnen entglitten und aufgeschlagen
bis an das Fußende des Wagens ge
rutscht.
Wie angewutzelt stand Rudi, als er
des kranken Kindes ansichtig wurde,
sein Blick hing wie gebannt an diesem
rührenden Leidensgesichtchen, und erst
die Stimme seiner Mutter und die der
ISchwester brachten ihn wieder zu sich
I Er stand dicht am Fahrstuhl, den
«Rosensirauß in der Hand. Da richte
ten sich die Augen des hlassen Mäd
Ichhäns von der Himmelshöhe voll aus
n
»Rosen — ach Rosen —" tam es
leise jubelnd iiber die schmalen Kinder
k lippen.
f »Hast Du Rosen gern?« sragte er,
zdie Blumen so haltend, daß sie ihren
; Dust einathmen konnte.
I »So sehr, so sehr —" antwortete sie
Hsast leidenschaftlich, und die Augen
liihten aus einmal in begehrlichem
er, wie die Wangen sich farhten mit
kleinen, rothen Fieber-stecken
»Welche von diesen Rosen magst Du
am liebsten —? Die rothen hier —
ja? Sieh, wie Sammet sind sie anzu
schau-III
,,Uch nein — davon thun die Augen
so weh die leuchten so, — die weißen
hier —- o, die weißen ——«
Sie deutete auf einen entzückenden
Zweig schneeweißer Rosen, der zwei
vollerblühte Blumen und mehrere, ganz
matt gefärbte Knospen trug.
»Der Strauß ist eigentlich für
Schwester Martha, aber ich will bitten,
daß sie Dir den weißen Rosenzweig
schenkt, ja —-?«
»Schenke Du ihn mir —'« flehte sie
leise.
»Ich will’s, hier nimm ihn!«
Sie streckte die Händchen darnach
aus, und er legte die dustende Gabe
hinein.
»Nun muß ich aber gehen und mich
bei Schwester Martba entschuldigen«.
Er sah bei diesen Worten nach der Bank
hin, aus der neben der Schwester feine
Mutter Platz genommen hatte. Beide
schauten aus ihn, sie mußten den kleinen
Vorgang mit den Rosen beobachtet ba
ben, denn um Beider Lippen schwebte
ein Lächeln, welches jedoch bei der Ba
ronin den mitleidigen Zug nicht ganz
verbergen konnte, der aus ihrem milden
Antlih lag, als es sich dem tranken
Kinde wieder zuwandte
Und Rudi erhielt von Schwester
Martha lächelnd Absolution siir seine
kleine, eigenmächtige Handlungsweise
und kehrte ungeachtet der lockenden
Spiele der anderen Feriengenossen zu
seinem Plage neben dem Fahrstuhl zu
riick.
Er lehnte sich an den Stamm des
Rußbaurnes und da bemerkte er, wie
sich seine neue kleine Freundin mit den
Dornen den Finger geritzt, so daß er
blutete; sie wollte es wohl nicht sehen
lassen und verbarg das verwundete
Glied unter der einen vollerbliihten
Rose. Aber der Knabe, dies gewahrend,
nahm ihr den Zweig aus der Hand und
begann die Dornen vom Stiel zu ent
fernen. Ein Blutsleck aus dem einen
weißen Blüthenblatt kennzeichnete die
Stelle, wo das arme verwundete Fin
gerchen sich hingeslitchtet· ·
»Wie heißest Dut« sragte er bei sei
ner Arbeit.
«Minchen Lorenz —« gab das Mäd
chen leise und schiichtetn zur Antwort.
«Minchen —- Mtnna — das klin t
häßlich — obgleich Minna ja auch
klasstscher Name ist —-« stigte er in sei
ner ganzen Chiana astenwiirde bin u.
«Jch werde Dich ie nennen, Mig
non —- ja —i« Bist Du’s zufrieden?U
»Minnie —- Mi non —« wiederhol
te sie zaghaft, in üßem, tindlichveri
wundertem Tonsall —- »ja, das ist
hübsch. seht hin-W- ,
»Auch echt gothisch,'.· meinte er erklä
rend; aber Minnie verstand ihn natür
lich nicht.
Das war ihm übrigens auch gleich,
er wollte hier auch übrigens ar keine
Schulweisheit zum Besten ge en, fon
dern mit ihr plaudern, nur um ihr lie
bes Stimmchen hören zu- tönnen, das so
leise melodisch wie ein Silberglöctchen
klang, wie die schöne ciselirte Glocke aus
Schloß Linden.
Die Dornen waren vom Rosenzweig
entfernt, er nahm ihn und legte ihn be
hutsam in die schwarzen Locken seiner
neuen kleinen Freundin.
Wie ein Engel sah sie aus, wie ein
lieblicher, vertlarter Gottesengel.
Er stand ganz verzückt und schaute
sie an, und darüber mußte Minnie
lachen, ach, so herzlich, wie nur glück
liche Kinder lachen tönnen.
Und noch einmal lachte sie so," als
nach etwa einer Woche, in der Nudi sie
täglich besucht hatte, dieser in Beglei
tung eines Dieners lam, der sie nach
dem Schloß fahren sollte, in des Kna
ben Vaterhaus.
Die Baronin gab ihren tleinen Pfle
ebefohlenen ein Fest im Lindener
start und ihr Sohn hatte als Entschä
digung für die arme liebeMinnie, die
doch nie mitlaufen könne, wenn ihre
Gefährten sich diesem Vergnügen hin
gaben, eine Fahrt durch die Gemächer
des Herrenhauses erbeten.
Langsam fuhr er selbst sie nun von
Zimmer zu Zimmer, von Saal zu Saal
und war selig über das Entzücken sei
ner kleinen Freundin, die sich in ein
Märchenschloß verert glaubte.
Ader allmählich wurde Minnie stiller
und stiller und so müde von all’ dem
Schauen; die Abendschatten begannen
sich auch schon zu regen, und die lühle
Abendluft war Gift für das schwache,
trante Geschöpfchen, das jetzt nach der
vielfachen freudigen Aufregung fast wie
leblos in den Kissen ruhte.
Jhre Reise durch das Schloß war he
endet. und Rudi schob den Fahrftuhl
wieder durch die Gänge des Gartens.
Am Rosenheet machte er halt und legte
in die hände seiner »kleinen süßen
Braut«, wie er sie liehtosend nannte, ei
nen herrlichen Strauß weißer Rosen.
Und Minnie küßte die Rosen, aber un
ter dem Hauche ihres Mundes färbten
sie sich plötzlich blutroth, und blutroth
sickerte es weiter in breitem Strom bis
auf die Wagendeele, so daß Rudi vor
Entsetzen laut auffchrie.
Wenige Tage nach dem schönen Fest,
das so traurig geendet, hatte in der
fröhlichen kleinen Gesellschaft der
Ferien-Colonisten der Tod seine dunk
lenFittiche über all’ die Jugendlust ge
breitet. Jn dem einen Zimmer des
grünumraniten Häuschens lag Minute
ruhig und still in der unheimlichen Um
armung des düsteren Engels, ein glück
seliges Lächeln aus den wachsbleichen
Lippen, denen vor wenigen Minuten
der letzte warme Lebenshauch entflossen
Die noch nicht ganz erlalteten Händ
chen hielten trampfhast einen weißen
Rosenzweig umklammert, ohne daß
diesmal ein rather Blutstropsen da
runter hervorbringen konnte.
Am Bett stand Schwester Marthen
die Hände betend gesaltet — sie weinte.
dies Kind hatte sie am liebsten gehabt.
Da öffnete sich leise behutsam die
Thür, und Rudi stand aus der Schwel
le, wie immer, wenn er seine Minnie
besuchen kam, weißeRvsen in der Hand.
Zum ersten Male in seinem jungen Le
ben umrauschten ihn die Schauer des
Todes, er wagte kaum zu athmen.
Nun stand er an der Freundin Lager
und schaute mit entseyten Augen aus
die kleine Mädchenleiche, die so lieblich
in ihrer Todesstarre dalag.
Und da übertam ihn ein großer, tie
fer Schmerz, er fühlte, daß in seinem
Jnnern eine klanavolle Saite gerissen.
daß er Minnie geliebt hatte mit seiner
aatizen unaesiiimen, heißen Knaben
liebe. und sich iiber die Todte weisend,
brach er in sassungsloses Schluchzen
aus.
Als der erste elementare Schmer
zensauöhruch vorüber, nahm er die mit
gebrachten Rosen und schlana sie seiner
kleinen todten »Braui« durch die
schwarzen Locken.
Ueber den Lindner Friedhof schritt
an einem herrlichen Juniabend ein jun
ges, schönes Menschenpaar dahin. Der
zherr und die Dame kamen von der
:Grabiapelle des Barons von der Lin
den, der nun schon seit zwei Jahren
dort in der familtengruft den ewigen
»Schlas schlie . Sein einji Rudols
mit seiner lieblichen Bran Wien dem
todten Vater einen Besuch til-gestattet
Langsam ingen sie durch die Grä
berreihen, Be de allein aus dem stellen
weise recht wüsten Todtenseld Aus
irgend einem Gebüsch arm in letsen,
IWdenTZnen die Nach all ihr Lied,
L 1
angeregt durch die etliche Stille
ringsum, und in des attlichen Man
nes Armen fand sich plösltch das blon
de Mädchen gefan en, durch seine Zärt
lichkeiten und Kii e.
Als sie sich jett lachend zurückbog
blieb sie mit dem Haar an Dornen
hängen, denn sie hatte den lästigen Hut
schon lange vom Kopfe genommen und
an den Arm geschoben
«O, weh!« rief er dedauernd und
spran herzu, um sie aus so unfreiwil
liger åefangenschaft zu befreien. Alsi
es ihm gelungen deutete er auf den At
tentiiter, einen schönen, weißen Rosen
strauch, der, in üppiger Blüthe stehend, s;
ein halbverfallenes Grab mit feinen
Zweigen fast ganz bedeckte.
»Ich glaube diesen Rosenftrauch ha- «
be ich einst gepflanzt, " meinte er sin
nend, indem er die Zweige zur Seitez
bog. Und nun ra te aus der Umschlin
gung derselben ein kleines holztreuz
hervor, auf dem durch jetzt freilich schon
verrostete Nägeltöpfchen, aber dennoch
erkennbar der Name: »Minna Lorenz"
zu lesen stand, darunter die Jahreszahll
1883.
»Ja, so ist es," bestätigte er, »als
Knabe von fünfzehn Jahren pflanzte
ich ihn unter Beihilfe unseres Gärt
ners, der auch jenes Kreuz angefertigt
hat.«
Er ließ die Zweige wieder zurückglei
ten, sie schlan nen sich liebevoll wie dor
dem um das reuz.
»Eine Kindheitserinnerung, Radi, o,
bitte, erzähle sie mir,« bat das reizende
Wesen an seiner Seite, mehr innig, als
neugieri .
sollst sie erfahren, Liebling,«
antwortete er sinnend und brach einen
köftlichen Rosenzweig
»Eigentlich darf man keine Blumen
von Gräbern pflücken, aber diefe Rosen
sollen mich daran emahnen, daß ich
den hügeL an dem te wachsen, von nun
an in Obhut nehmen werde, er soll ge
pflegt werden wie andere liebe Gräber.
Und wenn Du, meine Edith, erst den
wahren Grund weiß. wirft Du die
Erste sein — wie ich Dich lenne nach
Deinem lieben, frommen Gemüth ———i
und die Vergessenheit von diesem Hügel
bannen.
Und nun komm; auf dem heimwege
zu Mama will ich Dir die tleine Ge
s chichte meiner einzigen Knabenliebe er
zählen, aus der in Deiner Nähe meine
einzige Mannesliebe erblüht ist«!
-—--———-———-.-O.-O.--s —--- -- «
Die Pandorabüchie.
Aus den Erinnerungen eines eDeutsch Ame—
rilpnerQ
Von Paul Julius Jmmergrün.
»Nun geh’ dochGeorge, und hilf Dei
ner Großmutter bei’rn Umziehen!«
Es war nun schon zum dritten oder
vierten Male, daß meine Mutter diese
Mahnung an mich richtete. Jch hatte
immer nur mit einem Achselzucten ge
antwortet; diesmal aber war ein so
bittender Klang in ihren Worten, daß
ich einer regelrechten Antwort nicht
mehr ausweichen mochte.
»Mutter,« erwiderte ich, »warum
tann denn die alte Frau nicht bleiben,
wo sie ist! Es ist nun schon das vierte
Mal im Jahre, daß sie ihre Wohnung
wechselte; ich hab’ jedesmal einen Tag
Arbeit dabei eingebüßt. Das habe ich
endlich satt."
»Sprich nicht so von der Großmut
ter, Kind! Sie ist ali, hat ihre achtzig
Jahre schon auf den Stücken«
»Ja, wenn sie nicht so ei ensinnig
dazu wäre und Alles nach i ren ver
rückten Einfällen ausgefügrt haben
wollte, so ließ ich mir's no gefallen;
aber es ist geradezu eine Plage, ihr be
hiilslich zu sein.'«
»Alle alten Leute haben ihre Lau
nen, Kind, und die jungen Leute müs
sen sich ein wenig davon gefallen lassen.
Wir werden ja auch einmal alt."
Daß wir einmal alt werden, begriff
ich schon; daß man im Alter aber auch
nothwendig närrisch sein und seine
Launen haben müsse, wollte mir nicht
einleuchten. Und so sah ich denn auch
nicht ein, daß man sich von einer alten,
launenhaften Frau Alles gefallen las
sen miisse; denn ein gut Theil ihrer
Latinen hatte ich bereits geduldig ertra
gen.
Meine Mutter machte trosz ihrer
idealen Auffassung des Alters densel
ben Jdeengang gehabt haben; denn ehe
Loh noch etwas erwidert hatte, fügte sie
inzu:
»Vergiß auch nicht, George, daß die
Großmutter vermögend ist. Du willst
Dich tin nächsten Herbst mit der Frida
verheirathen, und wird sie wohl auch et
was filr Dich thun, was Dir sehr zu
Statten kommen tönnte.«
Das Zog nun schon weit besser bei
mir. D e Großmutter war allerdings
Pia und wieder auch einmal gut e
aunt, besonders wenn sie Gelegen t
fand, die Fite Laune tn origineller
Weise uidiuck zu bringen. Die
M« lichkeih in der von der Mutter
erw baten se als guter Gentu- der
Familie zu zeigen, war daher keines
wegi ausgeschlossen, zumal sie mir bei
verschiedenen hülfeleistungen des Oes
teren die Bersicherun gegeben hatte,
daß ich doch eigentlich r sie Sprosse
ihrer ganzen Nachkommenschaft sei.
Und so beschloß ich denn, i r auch dies
mal noch beim Umziehen hülslich
sein, um sie wenigstens bis zum Heresi
n der guten Meinung, die sie von mir
hatte, zu belassen.
Als ich am anderen Morgen in aller
Frühe in ihrer Wohnung ankam, saß
die Großmutter bereits aus einem Hau
fen alten Hausgerümpels, daß in Bar
rels, Boxes, Koffer, Kisten und Kasten«
zusammengepackt übereinander aufge
thiirmt war.
Die Großmutter war eine hohe, auf
fallende hagere Figur, nicht viel mehr
als ein mit Haut überzogenes Knochen
geriist. Das mit unzähligen Falten ge- I
zeichnete Antlitz besaß als Uederbleibsel E
ehemaliger Schönheit nichts mehr alsl
die grauen Augen, die von ihrem ju
gendlichen Feuer wenig eingebüßt hat
ten und manchmal bei der geringfiiJ
gigsten Veranlassung hell aufleuchtetemi
Das Kinn war soz, der Mund fest ges;
schlossen, was ni t nur aus festen "
Charakter, sondern ebensowohl auf Ei- «
gensinn schließen läßt. Jhr Haar war
as chgrau, und um es zu verbergen, hatte
die alte Frau es vorne mit einer Fülle
falscher londer Liiclchen bestreit. Den
Kopf bedeckte ein sonderbares, ganz
mit chwarzem Crepe überzogenes Ge
stell, das sie ihren Bonnet nannte. Sie
war in diesem Augenblicke vollständig
reiseferti , wie fast immer, wenn man
sie antraf.
»Guten Morgen, Großmutter!« trat;
ich -ihr mit dem freundlichsten Gesichte
entgegen. .
»Diese verfluchten Carleuie haben
alle den Teufel in sich,« rief sie, ohne
erst meinen Gruß zu erwidern. »Der
Eine ist wie der Andere. Sitze ich da
seit einer Stunde und warte auf den
Menschen. George, mein Junge, es ift
nur gut, daß Du da bist. Gelt, Du
läss’st Deine Großmutter nicht im
Stich. Jetzt geh' gleich und engagire ei
nen anderen Carman; aber sag ihm
gleich, daß ich nicht mehr wie zwei Dol
lars zahle, hörst Du, nicht mehr als
zwei Dollars. Die Burschen sind un
verschämt und besonders dann, wenn
sie es mit einer alleinsiehenden Frau zu
thun haben.««
Jene ging der Tanz rog. Aue un
annehmlichteiten, die ich nun schon so
häufig mitgemacht hatte, und die mir
den Umzug der Großmutter als eine
Höllenaual erscheinen ließen, wieder
holten sich auch diesmal. Dieser Zank
mit den Hausbesitzerm sowohl in der
neuen als in der alten Wohnung, die
ses Hadern und Feilschen mit den Car
leuten, von denen heute sogar zwei vor
der Thür erschienen und fast mit einan
der in’s Handgemenge lamen, bis der
erstere mit einem derben Fluch gegen die
alte Hexe wieder abzog; dieser Radau
mit den helfenden Ar itern, wenn et-.
was von dem alten Gerümpel zerbrach
oder an den unrechten Platz gestellt
wurde —-— es wollte gar lein Ende neh- .
en. Als der Wagen endlich vollge-j
g packt stand, brach plötzlich ein heftiges
Gewitter los; es siel ein Platzregens
mit solchen Wassermassen, als sollte die :
Sintfluth eine neue Auslage erleben.;
Das lam Alles so unerwartet, dasz derj
Carmann nicht einmal mehe Zeit sand, ?
zum Schutz der Möbeln ein wasserdich- «
tes Tuch iiber den Wagen zu spannenJ
Zum Glücke grollte der Donner unaus- !
hörlich, so daß die Berwiinschungen der E
Großmutter ihm unverständlich blie-!
ben. Als der Schauer vorüber ways
hatte sich auch der Zorn der Alten ge
legt, und die Sonne schien sreundlichi
wie zuvor auf das Jnventarium der!
Großmutter herab, das sich nun ohne
weitere hindernisse in Bewegung setzen
konnte. Jch beschloß, mich zu Fuße .
durch einige Seitensiraßen nach der
neuen Wohnung hindurchzuwinden,
hatte meine Rechnung aber ohne die
Großmutter gemacht.
»He, Geor e,« ries sie, »Du wirst
Dich gesälligt hinten im Wagen aus
die slache Kiste setzen. hier, nimm die
Blechbiichse und die Uhr in die Hand.
hörst Du, gied aus beides wohl Acht,
besonders aus die Blechbüchse. Na,
hörst Du, Zunge, besonders aus die
Büchse.« nd dabei blinzelte sie ei
gentbiimlich mit den kleinen grauen
Augen«
»Aber, Großmutter » — ———«
«Keine Einwendungen! Entweder
thust Du, was ich Dir sage, oder Du
bleibst ganz hier und gehst nach Haus«
Damit kletterte sie bereits vorne zum
Wagen hinaus, um bei dem Carman ih
ren Sih einzunehmen. Auch dieser
brachte Einwendungen vor.
«Madarne, es ist tein Brauch —- -——«
»Ach was, Brauch oder nicht Braucht
ch will wissen, wohin Sie meine Sa
bringen,« schrie die Großmutter
ihn an.
Nun fegen die Pferde an, und vor
wärts ng’i die holMge Straße ent
lang. Zettel-Leu aus einen Knie die
Met, au anderen die Blechbitchsr.
D e Uhr- enirte mich weni er, als diese
verwunsxte Blechbtichse. s wird zum
Berftändniß des Weiteren not wendigp
sein, den geschätzten Leser mit d eser al
ten Schatteke etwas näher bekannt zu
machen. , ,
Man denke sich also eine alte verbli
chene Botanisirbiichfe, welche, so weit
die Farbe sich noch erkennen ließ, einst
gelb und mit allerlei grünen Arabesken
verziert gewesen war. Jn ihrer Glan -
zeit war sie Eigenthum meines Umwä
vaters, eines deutschen Professors ge
wesen. Danach gelangte die Büchse in
den Besitz meines Großvaters, der Apo
theter war, der brachte sie mit anderen
Habfeligkeiten nach Amerika. Bis da
hin hatte die Büchfe ausschließlich na
turwissenschaftlichen Zwecken gedient.
Als dann aber der Großvater gestor
ben tvar und die Großmutter über den
Nachlaß verfügte, ward der ehemalige -
Pflanzenbehälter deren beständiger
Reisegefährte.
Da die Alte eine zahlreiche Familie
hatte von welcher die meisten Glieder in
meinem Baterstädtchen ansäfsig waren,
und die alte Dame da u eine unermüd
liche Wanderlust besa , so sah man sie,
die Büchse über die Schulter gehängt,
tagtäglich durch die Straßen wandern.
Jn der Büchse führte sie die verschie
denartigfte Dinge von der Welt mit
sich; alle nur namhaften Patentmedi
zinen in fester und flüssiger Gestalt,
Knöpse und Bandagen in jeder Form ·
und Größe, Nadeln und Zwirn, hin
und wieder auch etwas zu naschen fiir
die Kleinen, die sich ihren Launen zu «
fügen wußten. Mein seliger Vater s
nannte die Büchse einst cherzhaft die »
Pandorabiichfe. Der Name gefiel uns ;
Kindern ganz besonders; wir plauder- 1
ten ihn aus auf der Straße und in der
Schule, und so dauerte es gar nicht
lange, bis die alte Scharteke in der
ganzen Stadt als Pandorabüchse be
kannt war; und meine Großmutter
hieß von jeßt an nur noch »die Frau
mit der Pandorabüchse". Die Alte
durft sich schließlich nur auf der Straße
sehen lassen, so liefen die Kinder in hel
len Haufen nach und johlten ein Spott
lied, das irgend ein Spottvogel auf die
Großmutter und ihre Büchse zusam
mengereimt hatte.
d- «
auch roir wrojzrmoer hatten unter
dem Gesvötte viel zu leiden. Nichts in
der Welt war uns daher verhaßter als
die Pandorabiichse der Großmutter.
Sie wußte das, und nun hatte sie die
Malice, mir das verhaßte Ding zum
Halten aus den Schooß zu geben. Jch
musterte die Situation von allen Sei
ten; aber es sand sich nirgends ein ge
eigneter Platz, die Bächse anzubringen,
und ließ ich sie los, ward sie unter allen
Umständen vom Wagen geschleudert.
So wünschte ich nur, daß tein Bekann
ter des Weges kommen möge; denn ich
war ein junger angesehener Mann, ge
hörte Klubs und Vereinen an und hatte
einen großen Kreis von respeltablen
Bekannten. Kaum war der Wunsch
gedacht, als meine Großmutter ries:
»Du, George, drüben aus dem Sei
tenweg steht ein junger Mann; ich
glaube-, es ist ein Betannter von Dir.
fDer würde uns gewiß ein wenig hel
en."
Richtig, aus dem Seitenwege ging
Fritz Lehmann, erster Tenor des Ge
sangvereins »Fidelia«, dem ich eben
falls angehörte. Lehmann war mein
Schultamerad gewesen und einer von
denen, die mich am meisten wegen der
Pandorabiichse geneckthatten. Er durste
mich jetzt aus keinen Fall damit sehen.
Aber was thun? Jch wandte mein Ge
sicht nach der entgegengesetzten Seite, in
der hoffnung, nicht sosort erkannt zu
werden; da vernahm ich wiedr die
treischende Stimme der Großmutter:
»Say, junger Mann —-— junger
Mann ——- —««
Das brach den letzten Strohhalm
meiner Hoffnung, den ich in meiner
Scham umtlammert hielt. Scham und
Zorn beherrschten mich jetzt in solchem
Grade, daß ich nichts mehr von dem,
was ich that, hätte abhalten können.
Jch ergriff, indem ich die Uhr zwischen
den Knieen festhielt, mit beiden Händen
die verhaßte Büchse und schleuderte sie
im weiten Bogen über die Straße, so
daß sie ohne viel Geräusch in die mit
Wasser gesüllte Gosse fiel.
Da schwamm nun die Pandorabiichse
aus dem Gewiisser, wie weiland Noah’s
Arche, rasend schnell dahin, und ich gab
jetzt teinen Deut mehr darum, wo die
alte Scharteke schließlich landen und in
wessen Hände sie gerathen werde. Als
ich wieder auszublicken wagte, war
mein Freund Lehmann von der Bild
sliiche verschwunden; er hatte wahr
scheinlich in eine Seitenstraße einge
lentt, um den Zurusen meiner Groß
mutter zu entgehen
Endlich an etommen in der neuen
Wohnung, un nachdem sich beim Ab
laden und der Anordnung des Wer-ble
ments noch einmal all das Geziint vom
Mor en wiederholt hatte, war es
Aben geworden. Es dämmerte be- ««
reits, als sich die Großmutter, anschei- ·
nend müde« in ihren Schaulelstuhl nie- «."
derließ und einePrise aus ihrer Schild
vlattdose nahm. .
»Weil, well, George,« sagte sie, «wtr «