Nebraska Staats-Anzeiger. (Lincoln, Nebraska) 1880-1901, November 09, 1899, Image 9

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t
Gegen den Strom.
Novelle von Gerhard Kalter.
Tr neue Hm AmtSrichtrr.Wknde
born hatte sich schon recht gut in den
Städtchen eingewohnt. Und er gefiel
auch gut. Ter alte, etwa? exclusive
Stammtisch im .Schwarzen Baren",
der ihn, wie alle Reueintretenden. zuerst
mit vorsichtiger Zurückhaltung beobach
tet und behandelt hatte, war mit ihm
zufrieden, und wurde eZ immer mehr.
Und daZ war entscheidend für die gesell
schaftlicht Stellung eine? Fremdlings.
Ter Amtsrichter war ein guter Kamerad,
konnte hübsch anschaulich erzählen, stand
feinen Mann vor dem Schoppen und
hatte ausgezeichnete Manieren. Nur
eine Eigenthümlichkeit hatte er. Er
ging gern allein spazieren und wußte
mit großer Eeschicklichkeit sich ihm etwa
aufdrängendes Geleit abzuwehren.
TaS war eine zwar unbegleifliche, aber
immerhin verzeihliche Schrulle. Seine
Abendfpaziergänge nahmen mit Vor
liebe die Richtung nach der Waffer
mühle", in der gleichzeitig eine kleine
Gaftwirthschaft betrieben wurde. Da
saß er beim Sonnenuntergang unter
der blühenden Linde und unter den
Ahornbäumen, aß sein bescheidenes
Abendbrod und ging 'bann in den
Schwarzen Bären" zum fröhlichen
Umtrunk.
.Nun sagen Sie mir doch 'mal," be
gann eine? Abends der Provisor, dem
die Haare immer zu Berge standen,
warum gehen Sie denn immer gerade
hinaus? Da ist ja alltags kein
Mttsch zu finden. Im SchüßenhauS
zum Beispiel, da haben Sie doch Leute
um sich!"
Die will ich vielleicht gar nicht,"
antwortete der Amtsrichter, bequem zu
rückgelehnt; ich bin nun einmal solch
ein Einspänner. Wer sagt Ihnen
übrigens, daß ich da Niemand treffe ?
Heute gerade habe ich dort eine
fehr intereffante Bekanntschaft ge
macht. Plötzlich erschien auf der Bild
fläche eine junge Dame, die nicht zu
verachten war. Sie kam offenbar auS
der Badebude, die da oben am Strom
erbaut ist "
Gehört dem Pfarrer von Buchen
Holm!" warf der Sanitätsrath ein.
Stimmt!" fuhr der Amtsrichter
fort; es war auch die Pfarrerstochter,
wie mir der alte Schulz nachher fagte;
aber Donnerwetter, meine Herren, so
'was sieht man nicht oft!"
Ja, ist vom Seminar zurückgekom
men und unterrichtet jetzt dort an der
Dorfschule!" bemerkte der Rechtsanwalt
lässig; versprach schon damals ein hüb
fcheS Mädel zu werden! War aber sonst
ein rechter Grasaffe."
Wieso denn?" fragte der Amtsrich
ter aufmerksam.
Hochmüthig und kalt, hielt sich für
'waS Besonderes!" brummte der Rechts
anmalt. Fritz, einen neuen Schoppen!
Komme Ihnen meinen Rest!"
So? Hochmüthig? Na, den Eindruck
machte sie bei mir nicht. Sie grüßte
mit tadelloser Freundlichkeit zurück,
aber wie eine Dame grüßt. Und Sie
hätten sie nur 'mal sehen sollen, mit
dem dunkelschwarzen gelösten Haar und
mit den großen, stillen, tiefliegenden
Augen in dem schönen, weißen Gesicht:
ich sage Ihnen das Urbild einer reizen
den Hexe!"
Nun, Ihnen scheint sie'S ja schon
angethan zu haben; dann gebe ich Jh
nen nur den guten Rath: Thue Geld
in Deinen Beutel!" Aber die Kartoffeln
werden zu Hause kalt und ich muß
gehen. Nein, mem lieber Herr Richter,
die edelsten Gefühle sind nichts ohne ein
gutes Butterbrod! Guten Abend, meine
Herren!
Der Amtsrichter sah ihm finster nach.
Am nächsten Abend traf er wieder
mit der schonen Psarrerstocyter zu)am
men. Sie saßen bei Tisch nebcnew
ander. Er aß seine Schinlensemmcl
und sie eine Schale dicke Milch, und
beide sahen auf den im Glanz der sin
kenden Sonne wie flüssiges Gold dahin
rieselnden Fluß. Zwischen ihnen flog
eine Biene summend hin und her und
schwenkte in tadellosem Bogen bald um
fein, bald um ihr Gesicht. Oben in den
Krohcn der Bäume rauschte leise der
milde Abendwlnd.
DaS Fräulein stand auf und ging.
Eine große, schlanke, feine Gestalt.
Ds lange, dunkle Haar floß ihr ge
Lssilet über die Schultern. Der Amts
richter grüßte kavaliermäßig. Die
dankte wieder mit der anmuthigen
Freundlichkeit, die ihm am Tage vorher
so gut gefallen hatte. Da glitt ihr das
rothe Tuch von der Schulter und fiel zu
Boden. , v
Blitzschnell sprang Herr Wendehorn
zu und nahm es auf. Sie lachte ihm
freundlich zu Über prächtigen, weißen
Zähnen, und eine wohlklingende
Stimme dankte ihm. Er sah ihr der
funken und bezaubernd nach. Dies Mal
erzählte er den Herren im Bären" nicht
von seiner Begegnung.
Und sie trafen sich jeden Abend und
wurden mit einander bekannt. Er hatte
sich in zwangloser Weise vorgestellt und
nach einigen Abenden gebeten, sich an
ihren Tisch fetzen zu dürfen, nachdem er
ihr in einem verzweifelten Kampf
mit einer Biene, die entschieden feind
selig gegen Fräulein Ursula auftreten
wollte, ritterlich und sieghaft beige
standen.
Nachher gingen sie ein kleines Stück
Weg zusammen bis zum Kreuzweg.
Ich führe zur Zeit allein HauS in
der Pfarrei: meine Eltern sind auf drei
Monaß in Tirol und ich habe meine I
A
Jahrgang 20.
Schularbeit. Da sitze ich lieber am
Abend nach dem Bade dort am Mühl
wehr und verzehre mein Adendbrod,
als allein in dem großen Hause oder in
der dichten, luftlosen Laube von Pfei
fenkraut."
Der Kreuzweg war da. Er grüßte
wie vor einer Prinzeß.
Und sie wurden näher bekannt. Sie
stimmten in so mancher Anschauung zu
sammen. Und sie freuten sich beide auf
die Abendstunde.
Der Amtsrichter hatte sich eine Cigarre
angezündet und blies behaglich die blauen
Wölklein in die lindenblüthenduftige
Luft.
Wissen Sie auch, meine Gnädige,
daß man Sie für hochmüthig hält ?"
sagte er im Lause deS Gesprächs.
Sie lachte ein wenig und lehnte sich
zurück im Stuhl. Ihr Haar fegte bei
nahe den Boden. Ich wüßte nichts,
was mir gleichgültiger wäre, als solche
Leutemeinung. Ich habe natürlich keine
Neigung, mich mit Grete und Stine zu
duzen, und Ihre Gentlemen in Ihrer
guten Stadt da drüben imponiren mir
auch nicht."
Ist es nicht gefährlich für ein junges
Mädchen, sich so über die Meinung der
Leute hinwegzusetzen?" fragte er mit
fast besorgtem Ton.
Sie warf den feinen Kopf stolz zurück
und sah ihn an mit eigenartig leuchten
dem Blick: Ich thue eS aber!" sagte sie
und reichte ihm die Hand zum Abschied.
Er neigte sich tief darüber: Jawohl!
Ein gefunder Fisch schwimmt auch gegen
den Strom!"
DaS Bild des eigenartigen Mädchens
in ihrer stolzen, fast herben jungfräu
lichen Art ließ ihn nicht wieder. Die
Verhältnisse, in denen sie lebten, waren
zu klein, als daß ihr Verkehr unbemerkt
geblieben wäre. Im Bären" fingen
die Anspielungen an häufiger und un
verkennbarer zu werden.
Mein gnädiges Fräulein Ursula,"
sagte er eines Abends, ich lege mein
Geschick in ihre Hände! Die braven
Leute fangen an, auf unsere Kosten ei
nen Roman zu dichten. Ich halte eS
für meine Pflicht, einer Dame, die ich
verehre, das zu fagen. Befehlen Sie,
daß ich fortbleibe? Dann kreuze ich ihren
Weg nicht wieder!"
Sie lachte wieder heiter und herzlich.
Sie wissen ja. wie ich über die Leute
und ihr Reden denke. Es würde mir
leid thun, sehr leid, wenn Sie meinet
wegen diesen Platz am Wehr meiden
wollten!"
Jetzt lachte er auch und hielt ihr die
große, ehrliche Hand über den Tisch hin:
Sie sind ein junges Heldenweib! Das
mag ich leiden!"
Sie berührte seine Hand leicht mit
den Fingerspitzen. DaS Leben ist ja
an sich ernsthaft genug." sagte sie. da
hat es keinen Zweck, auch noch allerlei
lustige Dummheiten tragisch zu neh
men."
Er sah ihr tief in die dunklen Augen:
Wissen Sie, wie Sie jetzt aussehen ?
Wie die Hexe auf dem Gemälde von
Gabriel Max!"
Sie stand auf und schaute ihn heiter
an. Gut, daß wir nicht dreihundert
Jahre früher geboren sind! Dann
hätten Sie mich vielleicht in eigener
Person zum Scheiterhaufen verurtheilt.
Gott befohlen! Aber widerrufen hatte
ich nichts!"
Sie nickte ihm zu und ging, stolz und
frei. Er sah ihr lange nach.
Am nächsten Morgen fehlte sie. und
am folgenden auch. Und wie sie am
dritten Tage nicht da war, da nagte
die Qual um sie an seinem Herzen.
Tu hast sie vertrieben mit deinem
dummen Gerede!" sagte er sich und hielt
den Kopf schwer aufgestützt und starrte
in's rinnende und rauschende Wasser.
Und die verzehrende Gluth, von der
Ursula im Scherz gesprochen, brannte
nun in seinem Herzen.
Da drüben in Buchenholm sieht's ja
traurig aus!" sagte der Sanitätsrath
am Stammtisch und stieß mit dem
Amtsrichter an.
Wieso denn?" fragte er gespannt.
Wissen Sie's nicht? Da ist der
Typhus in ganz bösartiger Weise aus
gebrochen!"
Donnerwetter noch 'mal!" fuhr
Wendeborn in die Höhe.
Ueber die Gesichter ging ein Lachen.
Nun. man sachte!" beruhigte ihn
der Arzt, so lange die Leute in solcher
Pflege sind, hat's keine Noth! Alle
Welt. ich hätte das dem Mädel nicht
zugetraut, und was jemals gegen sie ge
sagt ist, das nehme ich hier ausdrücklich
zurück."
Wen meinen Sie denn?" , fragte
Wendeborn schnell.
Nun natürlich Ihre Freundin, die
Pfarrerstochter!" sagte der Sanitäts
rath ernsthaft. Ist ja ein halb Jahr
lang Johanniter Schwester gewesen,
und nun geht sie von HauS zu Haus I
als der gute Geist von Buchenholm und j
MU
So
Beilage zum Nebraska Staats-Anzeiger.
scheut vor nichts zurück. TaS gefällt
niir!"
Nun, dann nehme ich den Gras
äffen" auch zurück !" siel der Rechtsan
walt ein. Ehre, wem Ehre gebührt;
soll leben, die schöne Ursula!"
Die Krüge klirrten zusammen, nur
der Amtsrichter faß tief in Gedanken
da und biß auf seinen Schnurrbart.
Und nun fuhr er auf und trank seinen
Krug aus bis auf den Grund.
Am folgenden Tage brachte der Ge
richtsdiener dem Amtsrichter einen Brief.
Eine schöne, ausdrucksvolle Damen
Handschrift stand auf der Adresse.
Drinnen stand geschrieben:
Sehr geehrter Herr Amtsrichter!
Die alte Greth Dorth Miesenholzen
möchte, am Typhus erkrankt, ihr it
ftament machen und bittet Sie, bald'
möglichst herauszukommen. Mit vov
züglicher Hochachtung Ursula PeterS
Sofort einen Wagen! Und ich ließe
den Referendar Aberkorn bitten, als
Gerichtsschreiber mitzukommen!" rief er,
erregt aufspringend.
ES war ein heißer Tag. In der
Hütte der alten Greth Dorth standen
alle Fenster offen. Am Fenster stand
im hellen Kattunkleid und blüthenweißer
Latzschürze die Pfarrerstochter. Jhr Ge
sicht war blaß und dunkle Ringe lagen
unter den tiefen Augen. Der Wagen
hielt. Die Herren vom Gericht traten
em. Tief neigten sie sich vor dem biet'
chen, jungen Mädchen, die dem AmtS
richter die zarte Hand bot. Im Wand'
bett stöhnte die Alte.
Es muß schnell gehen." sagte Uv
sula, sonst verliert sie wieder die Be'
r. h
liiliiuiiy. I
Aber es dauerte ziemlich lange. Die
Alte besaß mehr, als einer geglaubt
hatte. Zuletzt zog sie den Amtsrichter
dich an sich heran: Sei saall dat nich
hören! Dat Frölen dor fall hunnert
Mark hebben tau ehre Utstüer; sei hett
nix un kann dat bruken. So'n Engel
gifft'S nich wedder, un fei hett veel in
mi olle Fru dauhn! Schwiewen Sei
man!"
Dem Amtsrichter brannten die Au
gen. Und das Herz brannte ihm auch,
wie er auf das schlanke, schöne Mäd
chen sah, die todtmüde in dem großen,
alten, zerrissenen Lehnftuhl zusammen
gesunken war.
Fahren Sie zurück, Kollege, ich gehe
zu Fuß!" sagte er zu dem Referendar,
Er blieb allein im Zimmer mit der
Sterbenden und der Schlafenden. Von
fern her , rauschte das Wasser über's
Wehr, da, wo er Ursula kennen gelernt
hatte. Und eine Biene war durch'S
Fenster geflogen und zog ihre Kreise um
das geneigte Haupt der Müden.
Der Amtsrichter trat hinzu und der
jagte die Biene. Lange sah er hinab
auf das Mädchen. Ihr weißcS Gesicht
sah so ernsthaft aus. Ihre rothen Lip
pen waren ein wenig geöffnet über den
schimmernden Zähnen. Da beugte er
sich über sie. tiefer und tiefer, bis feine
Lippen auf den ihren lagen. Sie fuhr
auf und sah mit todtmüden Augen auf
tyn:
Ursula." sagte er, und legte den
Arm um ihren Nacken, was die Leute
fagen, das gilt Dir gleich; gilt's Dir
auch gleich, was Dein Liebster Dir
sagt? Der sagt: Ursel, ich liebe Dich!"
Und der bittet: sei mein, Du Liebliche,
tolze. Getreue!
Sie lehnte das Haupt an feine Schul
ter. Draußen rauschte das Wasser am
Wehr.
Ein Duell.
Ton Mar Baltke.
Er studirte Jurisprudenz in Berlin
und war erst im dritten Semester und
doch gehörte er schon zu den besten
sraziagern unierer ervlndung mein
lieber, treuer Leibfuchs Attila. Das
Selbstbewußtsein, ein fast unbesiegli
cher Gegner zu sein, hatte aber leider
eine andere unangenehme Eigenschaft
im Gefolge: Attila rempelte gern Men
schen an, und wo sich ihm irgend ein
Anlaß bot, einen Streit zu provoziren,
da hätte er es für eine Schande gehal
ten. fein säuberlich vorüber zu gehen.
Eigentlich hieß er Siegfried Hauer;
auch dieser Name wäre vielleicht für
ihn schon Kneipname genug gewesen,
aber wir hatten es doch vorgezogen,
ihn, der das streitsuchende Wort stets
wie eine Geißel schwang, Attila zu tau
fen.
Es war an einem Junitag, etwa
Vormittags elf Uhr, da schlenderte ich
Arm in Arm mit Attila durch die
Luisenstraße. Plötzlich preßte er mei
nen Arm. Siehst Du den Hohenprie
sterdort?"
Ein lana ausaescbossener Mensck
kam uns entgegen. Ein röthlichblon
der. spitzgefchorener Bart bedeckte sein
Kinn, der Hut schien eine hohe Stirn
ZU verdecken. Den Mund hatte rr in
wenig geöffnet, wie ein Mensch, du
Ar
eine große körperliche oder seelische
Qual fühlt, und seine Backenknochen
traten darum etwas hervor; feine Augen
hatten etwas Starres. Geistadwesen
deS; sein langsamer Gang war un
gleichmäßig, gleich als ob er die Macht
über seinen Willen verloren hätte. Als
er näher kam, richteten sich seine Augen
auf unS. und doch hätte ich schwören
mögen, daß er unS nicht sah. Attila
ließ meinen Arm loS: Mein Herr.
Sie haben mich fixirt! Ich bitte um
Ihre Karte!"
Der Fremde, dessen Blick trotz oder
vielleicht gerade wegen des Stumpfen
etwas von dem eines GeifterbannerS
hatte, blieb stehen. Ohne ein Wort zu
sagen, langsam und immer noch wie
geistesabwesend holte er auS seiner
Brufttasche eine kleine goldgeränderte
Karte und Schrieb: Dr. Mittel, Al
mlllstraße 40." Dann reichte er sie mei
nem Freunde.
Ich werde Ihnen meinen Sekun'
danten morgen früh um zehn Uhr fen
den!" sagte Attila mit scharfschneidl
gem Tonfall und überreichte seine
Karte. Dr. Wittek nahm sie, streckte sie.
ohne sie zu lesen, gleichgiltig in die
Brufttasche. und ohne daß sich seine
starren Züge im Geringsten verändev
ten, ging er mit ebenso ungleichmäßi
gen Schritten, wie er herangekommen
war, weiter.
Weißt Du, Attila," sagte ich nach
einer längeren Mltzbilligungspause,
der Mensch war entweder bezecht oder
geistesgestört!"
Na. das kannst Tu ja morgen sehen.
wenn Du mir den Gefallen thust, mit
ihm die näheren Bedingungen für unser
Duell zu vereinbaren. Du kannst die
Zeit a auf Sonnabend früh um sie
den Uhr ansetzen. Den Ort kennst Du
ja wohl?"
Leider ja!"
Leider," höhnte er.
Am folgenden Morgen stand ich
pünktlich um zehn Uhr früh vor dem
Haufe Alwinstraße 46. Es war ein
eigenthümliches Gebäude, das halb wie
eine Kaserne, halb wie eine Villa aus
sah. Ich klingelte dem Portier.
Was ist das für ein Haus?"
Das ist das Sanatorium des Herrn
Dr. Oppmger."
Können Sie mir vielleicht sagen,
ob hier ein Dr. Wittek wohnt?"
Jawohl, der ist gestern Vormittag
um elf Uhr gestorben."
Ich gehöre weder zu den Abergläu
bischen, noch den Aengstlichen, aber ich
muß gestehen, als ich diese Worte hörte,
überlief mich doch ein gelinder Schauer.
Gestern früh um elf Uhr waren wir ja
gerade dem fremden Herrn mit den stie
ren Augen begegnet.
Sie sind wohl ein Verwandter des
Verstorbenen?" fragte der Portier, der
mein plötzliches Verstummen anders
deutete.
Jawohl," fagte ich rasch entschlaf
sen. Kann ich den Todten vielleicht
noch einmal sehen?
Ja freilich, das können Sie, er liegt
gleich hier in der veichenhaue des Sa
natoriums. Bitte, einen Augenblick zu
warten."
In etwa zwei Minuten kam der
Portier aus seiner Loge heraufgestie
gen mit einem großen Schlüsselbund
Er winkte mir, ihm zu folgen. Wir
gungen durch einen dunklen Gang,
dann schloß er eine Thür aus.
' Ein Zittern überlief mich, und ich
fühlte, wie ich kalkweiß wurde. Schnell
mußte ich mich gegen den Thürpfosten
lehnen. Da lag der Mann, den wir
gestern getroffen hatten. Die hohe
Stirn, der röthlichblonde, fpitzgeschorene
Bart, der halbgeöffnete Mund, die
vorstehenden Backenknochen, und durch
die nicht ganz geschlossenen Lider blick
ten die Augen stier hervor, fast so wie
gestern.
Ja, ja," fagte der Portier, als er
meine Erregung sah, es ist schwer.
einen lieben Verwandten verlieren zu
müssen. Und er war ein so lieber Herr.
der Herr Dr. Wittek. daS sagte mir
der Wärter, der feit der letzten Woche
Tag und Nacht nicht von feinem Bett
gewichen ist, und das fagte auch das
Mädchen, und das sagte auch der Herr
Dr. Oppmger. Und nun mußte er so
früh davon, und er hat es selbst nicht
geglaubt ganz kurz vor feinem Tode
hat er immer noch von Aufstehen und
Spazierengehen gesprochen."
Ich drückte dem redseligen Alten
schnell ein Geldstück in die Hand und
suchte eiligst eine Droschke zu erreichen.
Lachend erwartete MlchAtnIa: Nun,
was macht Dein Geistesgestörter?"
Da sah er mem verstörtes Gesicht.
Er hat Dich wohl angesteckt?"
Mensch. Attela, was haft Du ge
than! Der D. Wittek ist gestern früh
um elf Uhr, genau zur Zeit, wo wir
ih trafen, in Oppingers Sanatorium.
Alwinstraße 46, gestorben.
4.
agM
y
NA. 25.
Du bist wohl verrückt?"
Nein, aber nahe daran. ES ist ein
Ernst, den ich in seiner Sonderbarkeit
selbst noch nicht begreife."
Attila sah mir prüfend in's Gesicht.
Ein Irrthum ist nicht möglich." fuhr
ich fort, ich habe den Verstorbenen
selbst gesehen. eS ift der Herr, den wir
gestern getroffen haben."
TaS muß ich erft selbst gesehen
haben!" lachte Attila wieder auf.
Meinetwegen, aber ich komme nicht
mit. Ich werde Dich hier erwarten."
Attila ging, und ich blieb in einer
Sophaecke sitzen, unfähig, etwas zu den
ken oder zu thun.
Eine Stunde war vergangen. Da
kam eine Droschke vorgefahren. Schwer
fällige Schritte, begleitet von schlürfen
den, näherten sich der Thür. Der
Droschkenkutscher stützte Attila, der sich
willenlos seiner Führung hingab und
mehr gezogen wurde, als er selber ging
Ich brachte ihn schnell zu Bett. Schon
phantasirte er heftig.
Der Arzt wurde gerufen. Es schien
ihm schwer, eine Diagnose zu stellen.
Es scheint ein starkes Nervenfieber
im Anzug zu fein," sagte er mit be
deutlichem Kopfschütteln, nachdem er
PuIS und Athemzüge gezählt hatte.
Ich wich nicht vom Bett meines
Freundes. Ter Sonnabend graute
Je später es wurde, desto aufgeregter
wurde er. Tie Uhr schlug Sieben. Da
fuhr er wild im Bett auf: Ha, Du!
Du willst mit mir fechten? Warte
nur, elender Geselle, da da hast Du
eins auf Deinen dürren Backenknochen!
Da da noch eins! Aber was
klapperst Du so? Ah, Elender, wo
hast Du plötzlich Deinen Schlüger?
Was? Mit der Sense willst Du fech
ten? Du grinsendes Scheusal, ich will
aber nicht unterliegen, ich will nicht,
will nicht! Ah. siehst Du. der traf,
haha, der saß. oh oh oh!"
Unverständlich murmelnd, sank er
erschöpft in die Kissen zurück. Der Arzt
kam. Er fühlte seinen PuIS.
Hm. die Krisis ist vorüber. Er wird
wieder gesund werden. Hat doch eine
zähe Natur, der Kerl!"
Ein Jahr etwa war vergangen. Ich
war nach einer kleinen Provinzialstadt
gekommen. Um die Langeweile des
Kleinstadtlebens zu tödten. las ich das
Lotalblättchen. Plötzlich fuhr ich auf:
Da stand ganz groß und deutlich: Wie
der zurückgekehrt!
Dr. Wittek."
Was hatte das zu bedeuten? Wie
der zurückgekehrt? Etwa aus dem Jen
seits? Kommen denn auch Todte wie'
der?
Ich sah den Adreßkalender nach und
fand: Dr. Wittek. pratl cher Arzt.
Königstraße 11. Sprechstunde von 8
bis 1 und 4 bis 5 Uhr.
Die Uhr war eben halb Fünf. Ich
warf mich in eine Droschke und fuhr
nacy der önigltraße.
Ein Diener öffnete mir.
Ist Herr Dr. Wittek zu Hause?"
Ja. er ist gestern von Berlin zurück
gekehrt und hat feine Praxis wieder
aufgenommen."
Ich mußte kurze Zeit im Vorzimmer
warten. Dann öffnete sich die Thür,
und ich stand dem Arzt gegenüber. Es
war wirklich der Fremde von damals.
Freilich war der starre Ausdruck der
Augen einem freundlichen, vertrauen
erweckenden Lächeln gewichen, und die
Backenknochen stachen nicht mehr so
geisterhaft hervor.
Womit kann ich dienen?" sagte er,
micy mit einer verbindlichen Handbe
wegung zum Sitzen einladend.
Ich kämpfte eine gewiß berechtigte
Befangenheit nieder. Ich bitte sehr
um Verzeihung. Sie kommen eben von
Berlin zurück. Habe ich Sie nickt im
Juni vergangenen Jahres dort in der
Luistnstraße getroffen?"
Im Juni vergangenen Jahres?"
wiederholte er nachdenklich, das kann
schon sein."
Wohnten Sie damals nickt Alwin
straße 46, das ist das Sanatorium
von Dr. Oppinger. Ja. ricktia. ick
hatte damals gerade die Depesche be
kommen, daß mein Bruder, der Ober
lehrer am dortigen Luisengymnasium
war, lebensgefährlich erkrgnkt sei. Als
ich an das Krankenbett trat und sah.
daß menschliches Können nichts mehr
ausrichten konnte, ging ich hinaus auf
die 'Straße, um feinen Todeskampf
nicht mit ansehen zn müssen."
Ich erzählte in kurzen Worten den
Grund meines Kommens.
So so," sagte Dr. Wittek. .nun
weiß ich doch, wie damals jene Karte:
Siegfried Hauer, ftud. jur., in meine
Brufttasche gekommen ist. Ich habe
mir lange vergeblich den Kopf darüber
zerbrochen. Nun. und wie geht eS
Ihrem Freund Attila?"
Danke, er verspricht, ein tücktiaer
Jurist zu werden. Aier er schlägt sich
nicht mehr."
Ter verkannt Tn I.
Ein amüsanjer Vorfall spielte sich
vor Kurzem in Rouen in Frankreich
ab. Ta befindet sich die Zentrale einer
woblthatigcn Gesellschaft, die eS sich
angelegen sein läßt, abgelegte Klei
dungsstücke reicher Leute zu sammeln
und unter die Armen zu vertheilen.
Ter Verein besteht erst seit einem
Jahre, hat aber schon unendlich diel Gu
tcS gestiftet. Heruntergekommene Etel
lungsuchcnde beiderlei Geschlechts, die
ihres schäbigen äußeren Menschen wegen
kein besseres Engagement mehr finden,
wenden sich selten vergebens an die ftetS
Vorrath bergenden Garderobenschränke
dieses Oeuvre de Charii6. Sie wer
den anständig ausftaffirt und erlangen
dann bald passende Beschäftigung. Bei
der letzten Vertheilung männlicher Klei
dungsstücke war ein sehr reduzirt aus
sehender junger Mann, der einmal
bessere Tage gekannt haben mochte und
höhere Bildung, sowie gute Manieren,
zu besitzen schien, so glücklich, in den
Besitz eines kompletten AnzugeS zu ge
langen, dem man eS kaum anmerkte,
daß er schon getragen war. Rock und
Beinkleid saßen, als wären sie in einem
erstklassigen Schneideratelier speziell
für ihn gearbeitet worden. UeberdieS
hatte der großmüthige Geber dem tadel
losen Habit Schuhe. Hut und andere
Akzessiorien des Gentleman hinzugefügt,
und mit deren Hilfe verwandelte sich
der glückstrahlende Empfänger in weni
gen Minuten in einen ganz flotten Ka
valier. Sich überaus elegant dünkend,
schlenderte er die Rue Jeanne d'Arc
entlang, als plötzlich wie ein Wirbel
wind eine junge Frauensperson hinter
ihm her stürmte und sobald sie ihn er
reicht hatte, mit dem Schirm eine ge
hörige Tracht Prügel auf den Ueber
raschten herabregnen ließ. Zornige Vor
würfe unfeine große Auswahl von
Schimpfworten sprudelten dabei auS
ihrem Munde. Der Ueberfallene wehrte
sich natürlich seiner Haut, so gut eS
gehen wollte, und das Ende vom Liede
war, daß beide Personen nach dem
nächsten Polizeibureau gebracht wurden.
Hier stellte eS sich heraus, daß nur die
feinen Sachen des jungen ManneS an
allem Schuld waren. Die tempera
mentvolle Schöne hatte in ihm ihren
treulosen Liebsten zu erkennen geglaubt, ,
der sie vor wenigen Wochen verlassen
hatte und spurlos verschwunden war.
Den Anzug nebst allem Zubehör er
klärte sie mit Bestimmtheit für daS
einstige Eigenthum ihres flatterhaften
Adonis.
SchneUigkeit ds BogelftugS.
Bezüglich der Schnelligkeit des Fluge?
der Vögel herrschen selbst unter erfahre
nen Naturforschern sehr verschiedene An
sichten. Leider stützen sich die Urtheile
aller dieser sich widersprechenden Sach
verständigen in der Hauptsache nur auf
Berichte über den Flug von HauS oder
Brieftauben; gerade diese sind aber
keineswegs die schnellsten unter unfern,
beschwingten Freunden. Sie besitzen
freilich hervorragende Eigenschaften in
Bezug auf Ausdauer und einige neuere
Beobachtungen über deren Flug von
den Schetlandsinseln bis London haberr
erwiesen, daß die Tauben 16 Stunden ,
lang eine mittlere Fluggeschwindigkeit
von 59 Kilometer in der Stunde ent
wickelt hatten. Das ist aber nicht die
höchste erzielte Leistung, denn Brieftau
den haben die Strecke von Spaa nach
Paris (402 Kilometer) schon binnen
fünf Stunden (also durchschnittlich 80.4
Kilometer in der Stunde) zurückgelegt.
Auf kürzere Entfernungen bringen es
Tauben unzweifelhaft auf 125 bis 160
Kilometer in der Stunde, das können
sie aber nur 1j bis höchstens 3 Kilo
meter weit aushalten. 43 bis 65 Kilo
meter in der Stunde sind für eine
Taube, die einen ganzen Tag lang un
terwegs ist, schon eine recht gute Mit
telleistung, dabei fliegt sie etwa 8 bis
10 Stunden, die übrige Zeit kommt
auf Futtersuchen, Trinken und Aus
ruhen, denn ein so langer Flug ist mit
außerordentlicher Anstrengung der
knüpft. Bei einem ununterbrochenen
Fluge von zwölf Stunden verliert em
solcher Vogel ein Drittel seines Ge
Wichts, da sich im Körper entwickelnde
hohe Wärme den Schwund der Gewebe
beschleunigt. Verschiedene angesehene
Ornithologen behaupten übrigens, daß
viele der Zugvögel, die im Frühling
zu uns zurückkehren, mit der Geschwin
digkeit von 240 Kilometer in der
Stunde flögen.
l?igenthümliche Stiefel.
Die Pehuentschen, ein Stamm der
Pampasindianer in dem südamerika
nischen Steppentiefland, tragen große
Stiefel von ganz eigenthümlicher Be
schaffenheit.
Der Pehuentsche nimmt von deren
beten oder erlegten wilden Pferden
nämlich zwei Beine, deren vorsichtig ab
gelöste Haut er sich über die Füße bis
zu den Knieen hinauf anzieht und zwar,
wenn die Haut noch geschmeidig ift.
Die menschliche Ferse kommt gerade da
hin. wo die Kniebeuge des PferdeS
war, daS übrige des FelleS wird nach
dem Fuße zurechtgefchnitten und in der
Form eines Schuhes genäht. Dieser
Stiefel verläßt den Fuß des Pehuent
schen nicht eher, weder bei Tag noch bei
Nacht, als bis er durch einen neuen
ersetzt werden muh. Anfangs, solange
die Haut noch weich ift, sitzt der Stiefel
etwas lose am Fuß. später aber, ge
trocknet, legt er sich ganz knapp an das
Bein.
t