Nebraska Staats-Anzeiger. (Lincoln, Nebraska) 1880-1901, May 11, 1899, Image 10

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    Der Rückzug der großen Urmec.
NoeUklie von C. Myiing.
Wikviel zeigt Ihre Uhr. CapitänZ
fragte dcr -ctrctar dcS (ZabinctZ, Herr
Mounier.
ES ist jekt nach Ilj! In einer
Stunde muffen wir fertig fein, ant
ortete der (sapitän Sastellane. Tann
nach einer Weile, sich in die Hände
hauchelnd: Ruh, ist das eine Kälte!
Turch alle Ritzen kommt eS herein!
I. schauerlich. Heute Morgen sind
uns wieder zwei Schildwachcn erfroren
in scböncS Veranüaen. jetzt Schild
wache zu stehen. Na. fahren wir fort!
Sie sagten: Seine Majestät sprachen
kick über den Zustand der Armee be
iriediat auZ. Es friert stark. Ter
Rückzug auf Wilna wird fortgesetzt.
Befriedigt? Alle Hagel!
Herr von Narbonne, der thnlnahm
los in seinen Pel zurückgesunken dage
legen hatte, schlug mit der Hand auf
den im. Xt veioen warten tym einen
kalten Blick zu.
Tas steht hier in dem Entwurf, den
nur der Kaiser zurückgelassen hatte
sprach Mounier trocken. Es fragt sich
nur. ob wir diese Raffung lassen. Wir
find vor Europa verantwortlich sür die
Form des Bulletins.
Man könnte beinahe sagen das Bul
letin. das sind wir.
Eapitän. machen Sie keine Witze bei
18 Grad unter Null! Sehen Sie lieber
nach, ob das Feuer im Ofen nicht aus
geht!
Ich glaube, es muß gleich ausgehen,
wimmerte Herr von Narbonne. Capi
iän Castellane erhob sich, legte die
Feder hin und warf polternd zwei
Scheite in den breiten russischen Kochel
ofen. Auf einmal hielt er den Kopf
lauschend an die Holzwand. .Was ist
, denn das für ein Lärm nebenan? Ich
konnte es schon vorhin hören.
Tas ist der König von Neapel, dcr
nebenan sein Quartier hat. Er flucht
und schreit fortwährend, daß der Kaiser
ihn nicht mitgenommen hat.
Er tauchte die Feder wieder ein. ,
Herr von Narbonne, sind Sie also
damit einverstanden!
Ich bin mit allem einverstanden,
stöhnte der Hofmann. Macht das
Bulletin, wie ihr wollt. Gebt mir nur
"die Reinschrift zum Durchsehen. Mein
Kopf! Ich habe Fieber!
Vor einer Stunde, um 10 Uhr
hatte Napoleon Smorgoni verlassen.
Er wüßte, daß die Armee verloren war.
und er wollte nach Frankreich zurück,
um eine neue zu schaffen. Er hatte
Dar. Lauriston und einige andere
Beamte, die er brauchte, mitgenommen
in dem großen Postschlitten. der vor
einer Stunde aus dem Hof des Postge
bäudes herausgefahren war. Berthier
hatte geweint, als er nicht mitkam.
Murat geflucht. Es half ihnen nichts,
sie mußten bleiben. Gegen Mitternacht
soll ein zweiter Schlitten mit Gepäck
und Fourage abgehen, der den ersten
auf einer bestimmten Station einholen
mußte. Es sind die Sachen, die Napo
lernt nothwendig gebraucht und den die
Fouriere und Piqueure geleiten sollen
Der Kaiser hat in der Eile nicht das
Bulletin vollenden können das letzte
der Armee. Er hat den Entwurf dem
Sekretär Mounier zugeworfen, damit
er es vollende. Ter Courier wird es
nach Wilna bringen, von wo es nach
Paris befördert wird.
Wir können doch nicht schreiben, der
Kaiser hat sich befriedigt gezeigt über
den Zustand der Armee, sagt Mounier
le,se. Bedenken Sie doch, seit sieben
Tagen sind täglich 2000 Men eben er,
froren. Tas sieht ja aus wie. . . . Er
will nicht sagen: Hohen. Er denkt es
aber.
Es wird jedoch die Täuschung unter
stützen, als ob der Kaiser noch hier sei!
wendet Castellane ein. Und daß der
Kaiser abgereist ist. das darf weder
die Armee noch Europa schon jetzt er-
fahren.
Mounier nickt. Freilich, das ist sehr
richtig. Ueberhaupt, darum ist ja
gerade die Fassung des Bulletin so
wesentlich. Es darf niemand wissen,
daß der Kaiser weg ist.
Laffen Sie das vorläufig noch aus!
Schreiben wir also: Der "Feind hat
große Verluste."
Ungeheuer immer stark auftragen!
Durch die Kälte und durch die
Strapazen. Die Verfolgung der
Kosakcn ist schwach."
Plötzlich ritz Castellane seine, Uhr
heraus und suhr von seinem Stuhle
auf: Es ist jetzt zwölf Uhr vorbei, nicht
wahr?
Ich glaube.
Folglich haben wir den 6. Dezember.
Aller Wahrscheinlichkeit nach.
Tann entschuldigen Sie mich für
eine Stunde. Ter Capitän stürzte nun
nach seinem Pelz und eilte zu der
Thür. V
Aber um Gottes willen, Herr Capi
tän! jammerte der Sekretär, so bleiben
Sie doch! Ich kann doch das Bulletin
nicht allein vollenden!
Castellane hörte ihn nicht mehr. Er
war bereits fort.
Das Torf Schorgoni war nicht sehr
groß. An der einen breiten Haupt
ftraße, die es durchschnitt, lagen die
Kirche mit dem daneben liegenden
Glockenthurm, die Posthalterei. das
Wirthshaus und vier oder fünf Brannt
Weinschenken, deren Inhaber jetzt ge
flüchtet waren, weil es doch kein Zahlen
mehr gab. und weil die Franzosen
grundsätzlich alles verbrannten, was sie
nicht verzehrten. Castellane wollte quer
über die Straße nach der Posthalterei.
Er mußte dort Jemand treffen, den er
noch am Nachmittag dort gelchen hatte.
Wenn man jetzt Jemand zu emem
Ehrenhandel haben will, mutz man sich
beeilen! murmelte er. sonst ist er mor
gen ohne Secundantcn und Zeugen ins
jenseits abgereift!
Ein paar Schritte über die Strafe
konnten einen von dieser Wahrheit
überzeugen. Als Castellane aus dem
Hause ging, stolperte er über zwe,
Leichname, die auf der schwelle lagen
ES waren zwei erfrorene westfälische
äaer. ihre dicken Mäntel hatten sie
nickt vor dieser Todeskälte geschützt
Die Luft schnitt wie mit Messern; wer
zwei Stunden gehen mußte, taumelte
wie ein Betrunkener; nach drei bis vier
Stunden fielen die Kräftigsten um
Mitten auf der Straye brannte im
Schnee ein großes Feuer, eine Gruppe
von acht Grenadieren faß darum; wenn
man aber acnauer zusah, entdeckte man
daß nur drei davon lebten; die Gesichter
der übrigen waren wie gelber tcin
sie waren schon seit sechs bis acht Stun
den todt. Die andern hatten das noch
nickt acmerkt. Sn dem Flur eines
Haufes. der mit Steinen gedielt war,
versuchten zwei Generäle, ein Kammev
Herr und ein italienischer Fürst, eine
Hundekeule zu rösten, sie konnten sich
darüber nickt einiaen und schrieen und
zankten aufeinander los. Einer war
neidische Blicke auf ein gefallenes Pferd
das unweit davon im Schnee lag; dort
saßen aber schon ein Maior und ein
langer ganz abgemagerter Cuirassicr
und versuchten mit dem Pallasch de
letzteren Stücke aus dem Fleisch heraus
zuschneiden. Ter Cuirassier nahm
schließlich seine Finger und Zähne zu
Hülfe. Am unzufriedensten schienen
die Krähen zu sein, die mit einem
heiseren Krah! Krah! die Wintcrnacht
durchflogen; sie sahen, daß man ihnen
beute aar nichts gönnen würde: die
Bestien da unten waren noch viel neidi
scher aufeinander als sie.
Castellane kümmerte sich nicht um
alles dies. Er drang in den Hof des
PostHauses ein, wohin er durch einen
gedeckten Gang kam. und sah dort
mehrere Muschiks und Piqueure in der
kaiserlichen Uniform. Man wartete auf
den zweiten Schlitten, der noch gepackt
und' dem Kaiser nachge andt werben
sollte. Eine Menge zerlumpter Solda
ten und Offiziere waren um ein großes
Feuer gcschaart und schauten etwas
stumpfsinnig zu. Der Capitän trat au
eine ganz zerlumpte, zusammenge
unkene Gestalt zu und schlug ihr aus
die Schulter. Es war ein Mann von
etwa vierzig Jahren. Unter dem
Shawl. der um den Hals gewickelt
war. erkannte man noch die Majors
epaulctten und die Abzeichen der Garde
Herr Maior Tufresne, ich habe die
Ehre. Ihnen guten Abend zu wün
schen!
Ter Angeredete hob mit Mühe die
verquollenen und vom Biwatfeuer ver-
brannten Augen: Ach, ete sind es,
Capitän!?
Hoffentlich erinnern Sie sich noch
unseres Rcncontres vor genau 2 Mona
ten? Im Theater zu Moskau?
Wo Sie einen Platz benutzt hatten,
der mir gehörte. Als ich Ihnen Vor
stellungen machte, wurden Sie arrogant
und behaupteten, die Linie könne sich
immer geschmeichelt fühlen, wenn die
Garde ihr auf den Fuß träte. Ich
nannte Sie daraufhin einen eingcbilde
ten Simpel.
Welchen Ehrentitel ich Ihnen zurück
gab, Capitän.
Ganz richtig. Wir verabredeten dann
ein Rendezvous. ' Ta Sie aber uner-
warteterweise am nächsten Morgen einen
Tepeschenritt zum Marschall Victor ins
Innere machen mußten
So vereinbarten wir, daß das Rcn-
dezvous genau nach Zwei Monaten,
gleichviel wo wkr auch immer fein
mögen, stattfinden sollte. Ich bin dazu
bereit, Capitän, betonte Tufresne, sich
emporreckend.
Gleichviel wo auch immer, betonte
Castellane. Ich glaubte also, daß trotz
dcr gegenwärtigen Umstände
Herr Capitän sprach der Maior.
seine magere Gestalt emporreckend, es
giebt meiner Ansicht nach keine Um
stände, die einen französischen Offizier
von dcr Austragung eines Ehrenhan
dels abhalten könnten! Laffen Sie uns
also gehen.
Castellane nickte zustimmend.
Hier hinter dem PostHofe ist Platz
ekundanten werden wir Aber was
ist denn das für ein Spektakel da?
unterbrach er sich auf einmal.
Ein unerwarteter Lärm zog aller
Aufmerksamkeit auf sich. Bor dem
chlittcn, der aus dem Postschuppen
gezogen wurde, erschien jammernd und
fluchend der Kourier, ein trockener
Pariser Stallmeistergesicht, und schrie.
er sei beraubt worden,, man habe das
Gepäck des Kaisers überfallen, einer der
Piqueure liege erschlagen im Schup
pen. Hinter ihm schleppten Grenadiere
den Uebelthäter, einen polnischen Unter-
osnzlcr vom Regiment der Weichsel-
legion, der den Raubüberfall begangen
hätte. Zwei andere waren entkommen.
wie es hieß.
Tas Gepäck des Kaisers! Proviant
ür Seine Majestät, schrie jener immer.
Ich bin verantwortlich dafür! Ter pol-
Nische Halunke! j
-Alles lief zusammen. Die Grenadiere
auf Wache, Offiziere, die im Haufe
waren, die Soldaten ringsumher. So
gar das strenge Gesicht Seiner Turch
laucht Alexander Berthicrs, des Fürsten
von Ncuschatcl. erschien nun in Pelze!
gehüllt unter der Hausthür.
Na. mit dem machen cie kurzen
Prozeß, brummte Castellane. - TaS
Standrecht ist noch in Kraft. Ein
Pelton hinter dem Hause und dann
niederknallen. Freilich, der arme Teuscl
wird schön gehungert haben.
Er sah Turfesne an. bemerkte aber
zu seinem Erstaunen, wie derselbe ganz
bleich geworden war und fortwährend
auf den Unteroffizier starrte, ohne für
etwas anderes Sinn zu haben.
Ich bin nicht schuldig! Ich schwöre,
ich bin nicht allein schuldig! schrie der
Unteroffizier fortwährend, den man
fortzog und der sein Schicksal ahnen
mochte. Ich bitte um ein Verhör! Ich
habe etwas zu gestehen!
Man zog ihn in's Haus hinein
Ter Fouricr folgte, immer noch
schimpfend.
Um Gottcs willen! Ich bin verloren
Aber was haben ie nur. Her
Major? fragte Castellane, den das Be
nehmen Tutrcsnes mehr und mehr
Erstaunen versetzte. Er blickte in sein
todtenbleiches, verzerrtes Gesicht. Ta
begriff er.
Major, um Gottcs willen, er trat
einen Schritt von ihm zurück abcr
ncin, das ist nicht möglich! Sollten
Sie?.... Jener Kerl..
Ja. ja, flüsterte jener wie irrsinnig
Ich habe ihn angestiftet, den kaiserlichen
Schlitten zu überfallen um uns
Brod zu verschaffen! Und nun wird er
alles gestchen, und ich bin verloren,
meine Ehre ist für immer vernichtet !
Ja, aber um Himmels willen, ie
em 'l'caior ber-Garoei Wie tonnten
ie?
Mann, wenn Sie gehungert hätten
wie wir, würden ie nicht fragen: Ja
ie waren Adjutant, Sie find mit dem
Marschall gereist, in feiner Equipage
das glaube ich !
Aber ich wurde nie wie ein gemeiner
Marodeur das kaiserliche Gepäck über
fallen!
Jener packte ihn am Arm, schüttelte
ihn mit seinen krallenartig abgemagert
ten Fingern, in seinen Augen glühte
es von Hunger und Wahnsinn, von
diesem namenlosen monatclangcn Lci
den!
Nicht, wahr, Sie sind setzt satt und
kommen von einem warmen ofen und
haben noch einen ganzen Pelz, wie ich
sehe?! Ah, ah. Wie schon musz da
sein. Ein irrer Blick ging an ihm her
unter, bis er mit ganz leiser Stimme
fortfuhr: Haben Sie sich, wie wir, die
Nächte auf der Erde gewälzt und
chnee in den Mund gcstopst, bis Ihnen
die Lippcn brannten? Oder drei Tage
von gekautem Helmlcder gclcdt. da
wir uns zutheilten? Und das Katz
balgen auf den todten Pferden, wo das
fleisch zackcnförmlg mit den Fingern
herausgerissen wurde! Hu, ich sage
Ihnen, Capitän, ich habe bei Orcha
drei meiner Leute an einem dicken Flch
tcnast sich aufhängcn schen und habe
ihnen selbst die Schlinge hinaufgereicht
und ihnen gesagt: Kinder, lebt wohl,
ihr habts besser als wir! Er hielt sich
an der Wand, wankend vor Er
chöpfung.
Castcllane sprach kein Wort mehr.
Er dachte nichl mehr en den Streit,
Tuell. Vor diesem Elende em-
da
Pfand er nur Mitleid, er wollte ihn
reiten.
Ta sah ich den kaiserlichen Schlitten.
fuhr Tufresne finster fort. Er war so
ochbepackt mit Wem. mit Brod, mit
allen möglichen guten Sachen. Ich
agte dem Kerl, dem Polen Aber
er tl ungeschickt gewesen, hat sich er
wischen laffen. Na, und jctzt ist ver-
piclt.
Aber um Gottcs willen, man wird
mit ihm reden können. Ter Fourier
wird ein Einsehen haben und schweigen.
Jener schüttelte düfter den Kopf. 'Ich
will selbst hingehen, rief Castellane.
Vertrauen Sie mir, ich
In diesem Augenblicke wurde die
Thüre des Posthauscs geöffnet. Es ex
schienen darin der Fourier, zwei Ossi
ziere Berthicrs und mehrere Feld,
gendarmen. Offenbar hatte der Pole
Aussagen gemacht. Sie schritten direkt
auf Tufresne zu. Castellane war im
Begriff, auf sie zuzueilen, sie anzu-
reden, da hörte er einen Schuß hinter
sich. Blitzschnell hatte dcr Maior die
Pistole, die er bei sich trug, hervorge
zogen und sich, als er jene kommen sah,
eine Kugel durch die Stirn gejagt.
Einige uaungen nocy, und er war
todt. Man sah sich kaum nach ihm
um.
. Castcllane war auf den Fourier zu
geschritten und überhäufte ihn mit Vor
würfen. Tiefer stammelte Entschul-digungen.
Aber ,ch mußte doch die Gesund
heit Seiner Majestät Wenn er an
den Porräthen etwas vermißt ich bin
für die Gesundheit und das Wohler
gehen Seiner Majestät verantwortlich!
wiederholte er beständig.
Wieviel ist denn eigentlich geraubt
warben k fragte der Eapitan.
Ter Fourier ging nach dem Schlitten
und untersuchte ihn. Nach einiger Zeit
kam er ziemlich kleinlaut wieder zurück
und meldete, es feien glücklicherweife"
nur zwei Flaschen Wein abhanden ge
kommen.
Zwei Flaschen Wein?! rief Castel
lane. Und alles das für die Gesund
heit Eure,r Majestät?
Und weit ausholend gab er dem
Fourier eine derartige Ohrfeige, daß er j
der vange nach in den Schnee kugelte.
' Tann schritt er gelassen über die
Straße nach dem Hause zurück, wo der
Lekrctür noch an dem Bulletin arbci
tcte.
Rasch, rasch. Capitän! Wir erwarten
Sie dringend! Ter Courier ist schon
bereit! Ta die eine Stelle ist immer
noch nicht ausgefüllt. Was schreiben
wir nur? . .
Castellane nahm das Papier und
lächelte. Er sah noch die beiden Man
ner vor sich, die jetzt todt. dcr eine
erschoffen, der andere Selbstmörder.
Ich weiß eine pancnde ,orm
Schreiben Sie also: .Es friert stark.
Der Rückzug auf Wilna wird fortgc,
setzt. Tie Gesundheit Seiner Majestät
ist nie besser gewesen alS jetzt."
Ter Sekretär sann nach.
Ja. das ist gut. das ist schr gut
Tas wird die Cabinctte beruhigen und
die Allianzen sichern.
)n letzter stunde.
Ein ElMlung aus dem Küni'llerleben von
Mar Wundike.
Ein trübseliger Märztag neigte sich
dem Ende zu. Ter Himmel sah aus.
als wollte er sich mit Bleischwere auf
die Erde herniedcrlegen. Tämmrlgcr.
feuchter Nebcl erfüllte die Luft. Welt
und Himmel alles ein Meer von
Grau in Grau.
So. nun war es zu Ende! Nun war
es doch gekommen, vor dem er gczittcrt
hatte sechs Jayre hindurch. Was er
nie im reden sur möglich gehalten
hatte diese Entbehrungen, diese Lei
den, diese Erniedrigungen alles,
alles hatte er auskosten müssen, und
alles, alles war umsonst gewesen! Nun
brach das schreckliche Ende über ihn
herein, ohne Obdach, keinen Pfennig
in der Tasche, nichts in. nichts auf dem
Leibe, trostlos alles wie dcr schaucrliche
Märztag. Aber sür die Erde kam nach
diesen Märztagen der Frühling. für
ihn war's vorbei! Vorbei für immer
und alle Zeit. Von hier ging's nicht
mehr weiter, das fühlte er, und er
fühlte auch, wie es brennend in seine
Augen emporstieg. Untergehen, unter
gehen, jetzt, so dicht vorm Ziel! schrie es
in ihm auf. Aber er lächelte nur bitter
dazu. Nicht mehr lange, nur wenige
stunden noch, bis die Nacht anqe-
brechen war. dann würde auch diese
Stimme schwelgen, und dann war
alles vorbei!
Sigmardt Thorscn lehnte sich müde
an eine der uralten mustern, die die
Landstraße einfaßten. Hint ihm
stiegen die bewaldeten Höhen steil
empor: vor ihm in bedenklicher Tiefe
brodelten die trüben Wasser des Flus-
'es. Wenn zu seiner Rechten ein Wind
toß einmal für kurze Augenblicke die
wallenden Nebel zertheilte, konnte man
die Thürme und die letzten Häuser dcr
tadt erkennen. Ta hinten lagen alle
feine Hoffnungen begraben, und alle
eine Leiden und Erniedrigungen.
Em kurzes, hartes, Auflachen, dann
chaucrte er fröstelnd zusammen, zog
den schäbigen Mantel, dcr ehemals grau
gewesen fein mochte, fester um die lange,
ausgemergelte' Gestalt und schwankte
weiter.
Und als wüßten die Gedanken, daß
es yculc zu snoe geizt, zauberten sie
dem müdcn, fast vierzigjährigen Manne
mit dem ungepflegten pechschwarzen
Vollbart und dem gelblichblcichen,
hageren Gesicht noch einmal die ganze
VergMgcnhcit vor die Seele.
In seiner norwegischen Hcimath sah
er sich ais froylicyes mo, als oen
Stolz und die Hoffnung feiner Eltern.
einer allen Vauernsamilie von allem
Schrot und Korn. Und die prächtige,
köstlichen Studienjahre tauchten vor
hm auf, als Schüler des Geigenmcistcrs
Joachim in Berlin, als Zögling des
Konservatoriums in Leipzig. Wie lag
damals die Welt so fonnenglänzcnd vor
ihm! Die unst seiner Lehrer und ta
Große, was man von ihm erwartete
weitete feine Brust, die Schätze und
Glückseligkeiten der Erde lagen vor sei,
nen Füßen!
Tann kamen die Jahre dcr ersten
Triumphe und seine Anstellung al
erster Geiger im Orchester der Opern
bühne eines mitteldeutschen Fürsten
Wie da alles zusammenströmte, um ihn
fast zu erdrücken mit allem, was das
Leben Schönes zu bieten hat! Zu dem
Glück, das ihm die hehre Kunst ge
währte, zu den sonnigen Zukunft,
träumen gesellte sich die Seligkeit einer
köstlich reinen, thausrischen Jugend
liebe. Gelegentlich einer Konzertreise
nach Berlin sah er sie wieder, rein zu
fällig, du Sigrid Enkson. Wie gros;
ui'd schön die kleine Sigrid geworden
war, die er in seiner Vaterstadt Frede
rikshall oft genug gegen die wilden
Buben vertheidigt hatte die Jdealgc-
stalt einer Wagner schen Walküre! Und
singen, fingen konnte sie! Ihre Aus
bildunq als dramatische Sängerin war
in Berlin nahezu vollendet, und sig
warbt Tborscn war glücklich, ihr die
Weae ebnen zu können; er setzte es
durch, datz sie von seiner" Bühne
enaagirt wurde. Er hatte es nicht zu
bereuen; Sigrid Erikson war bald erster
Stern an der Rcstdenzoper und ent
wickelte sich in kurzcr Frist zu wahrhaft
künstlerichcr ohe.
Ta fiel der erste Reif in diese Früh-
lingsherrlichkeit. In fernem Herzen be
gann die Eifersucht und norwegischer
Trotz einen erbitterten Kamps. Sigrid
wurde umschwärmt und am meisten
verhätschelt vom Intendanten, einem
reichen, wohlkonscrvirten Wittmer von
altem Adel. Ihm schien es. als sck sic
nicht empfindlich gcge,l die Aufmcrk
samkcitcn des einflußreichen Manncs.
Er zog sich grollend zurück und wurde
kurz und abstoßend. Bon seiner lei
dcnschaftlichen Liebe hätte er jetzt schon
gar nicht mehr gesprochen, und Sigrid
nun, die schien anfänglich nichts zu
merken, dann aber erwachte auch ihr
Stolz; die beiden Herzen entfremdeten
sich immer mehr, bis dcr Geigenkünst
lcr endlich. Gleichgiltigkeit und Kälte
heuchelnd, wo er sich in rasender Gluth
sast verzehrte, auf und davon ging.
Thorscn stand still und fuhr sich mit
den abgemagerten Fingern über Stirn
und Augen. Wieder lehnte er sich er
schöpft an einen Baum. Der frische
Abendwind vom Flusse her ließ die zer
sranztcn, abgeschabten Kleider um den
hageren Körper schlottern. Vor Er
schöpfung schloß er die Augen. Wenn
zemand hier entlang gekommen wäre
und ihn genau betrachtet hätte, dcr
hatte wohl gern einen weiten Umweg
um diese mehr als fragwürdige Gestalt
gemacht. Abcr ob er auch ermüdet
innehielt auf seiner trostlosen Wände
rung die Gedanken machten nicht
Rast bei jener Zeit. Tie Bilder zogen
weiter an ihm vorüber, die furchtbaren
Bilder allmählichen Sinkens, die in
ununterbrochener Kette einander folg
ten und deren letztes jctzt das Letzte
war!
Er war auf Konzertreisen hinausge
gangen in die Welt, hungrig nach
künstlerischen Erfolgen. Ta fand seine
Laufbahn ein jähes Ende; es trat eine
Sehnenentzündung deS linken Ring
fingers ein, und ließ eine nicht undc
deutende Lähmung dieses für Geigen
spieler unentbehrlichen Gliedes zurück.
Tamit war seine Laufbahn als Violi
nist zu Ende. Jetzt regte sich in ihm
die lange mühsam zurückgedrängte
Schaffenslust, und in der nun folaen
den Zeit der Ruhe und Muße entstand
feine erste Oper. Aber man hatte fei
nen Namen untcrdcß vergessen und die
Arbeit wanderte aus einer Direktion
die andere. Ta kam dcr große Schlag
zu Hause. Ein leichtsinniger Bruder
Konkurs Bettelstab, freiwilliger Tod
das waren die Hiobsposten, die ihn aus
dcr Hcimath trafen. Rastlos begann
er an seiner zweiten Oper zu arbeiten
Um sein Leben fristen zu können, mußte
er -tundcn geben; um welche zu erha
ten. mußte er die Konkurrenz unter
bieten: es war zum Leben zu wenig
zum sterben zu viel. Nach und na,
wanderte feine bessere Garderobe zum
Trödler; er vermochte nicht mehr, wie
o oft von ihm gefordert wurde.
Gcscllschaftsabcnde der Eltern seiner
chüler durch musikalische Darbietung
zu verschönern. Sein äußerer Mensch
verlor immer mehr an Eleganz, denn
an Ncucrwerbungcn konnte er nichts
denken, und so ging es rapide abwärt
mit ihm.
Ein Zögling nach dem anderen blieb
aus; man genierte sich wegen seiner Ar
muth und Schäbigkeit.. und schließlich
war ihm auch die letzte Unterrichtsstunde
verloren. Auch die zweite Oper war
fertig, ein Armloses Wcrk voll intimer
Reize, das ihm die Herzen derer ge
Wonnen hatte, die ihm willig entgegen
kamen, das abcr nicht im Stande war,
die Geister in feinen Bann zu zwingen
Auch dieses trat seine ermüdende, aus
sichtlose Wanderung durch die Theater
archiqe an. Mit glühendem Eifer war
er sich auf eine dritte Arbeit, in der
sein Größtes und Bestes bot. Fach
männer, die aus Erbarmen seine Ent
würfe und Ansätze und Skizziriinqcii
prüften, waren voll des aufrichtigsten
Lobes ein grandioser Stoff, eine
wuchtige, packende Musik von künstlcri
scher Vollcndung. Eincr dcr hcrvor
raqcndstcn Opernimpresarien dcr mo
dernen Musikgeschichte gewann durch
Fürsprache Interesse für das Wcrk.
Wenn e hält, was es verspricht, dann
führe ich es nächsten Herbst auf," schrieb
cr. Abcr die Arbeit zu Ende bringen
Ja. das war es; Wie? Tie entsctzlichstc
Zeit seines Lebens brach an. Alles
Entbehrliche hatte er bereits entsetzt oder
vcrkaint. sogar von seiner geliebten
Geige hatte er sich trennen müssen. Tie
Wirthslcutc. bei denen er wohnte, quäl
ten und drängten ihn um Zahlung.
Man schalt und höhnte den Tagedieb.
der nichts arbeitete, man ließ fein Zim
mer in Schmutz starren, nahm nicht-dic
geringste Rücksicht auf ihn, verweigerte
ihm das bescheidene Mittagessen, das er
sonst in der kinderreichen Familie mit
genonen. dachte nicht mehr daran, ihm
den Ofen zu heizen, für Beleuchtung zu
sorgen. Und Thorsen war schon glück
lich, daß man ihn nicht auf die Straße
setzte. Wochenlang war die trockene
Frühstückssemmel seine einzige Nahrung
den ganzen Tag über, so daß man ihn
einmal zusammengebrochen nach Hause
transportirte. Und die Wirthin schalt,
cr wäre am Ende gar betrunken !
edt hatte auch das ein Ende.
Gestern Morgen hatte man ihm erklärt,
das Zimmer sei anderweitig vermiethet,
und ihm die Schlüssel abgefordert.
Gott, ja die Leute hatten auch nichts
übrig; aber das war bitter. Ten gan-
zcn Tag war er bei Kollegen und Be
kannten umhergelaufen: sein Stolz I
wo war er geblieben! Aber überall
schöne Worte. Achselzucken, verschlossene
Taschen! Man suchte den heruntcrgc.
kommenen Menschen möglichst schnell
los zu werden. Und dann kam dic
Nacht, während der cr sich müde und
vcrzwcifclt durch die Anlagen schleppte
und zuweilen auf eincr Bank rastctc.
ihn der feuchte Frost wieder auf
jagte. Am nächsten Tage da-'elbe
Bild. Nirgends Hilfe, nirgends Ret
tunq! Nun war sein Widerstand ge-
brochen. dicht vorm Ziel! Er wusste.
er
datz diese Nacht die letzte seinei Lebens
sein würde. DaS Schicksal hatte zu viel
von ihm verlangt, jetzt war seine Kraft v
dabin. r
Wie ein Trunkener schwankte er da
bin. Kaum noch spürte er die entsetz
licke Müdigkeit, den nagenden Hunger.
Es war saft finster geworden. Die
Chaussee, die weiter hinaus nach dem
fürstlichen Lustschloffe führte, machte
eine scharfe Biegung. Eine einsame
Pctroleumlatcrne brannte an dieser
Stelle. Thorien stolperte über den ge
schotterten Fahrdamm. Er sah eS nicht,
daß eine Equipage in scharfem Trabe
von oben her in dcr Richtung nach der
Stadt hcransauste. Kurz vor dcr Equi
page taumclte er und fiel schwer zu
Boden. Ein silberhelles, aber gcdic
terischcs Halt tönte aus dem Innern
deS Wagens.
Die? schnaufenden Thiere standen.
Thorsen hatte sich mit Aufbietung sei
ner ganzen Kraft wieder erhoben. Aus
der Kutsche, die auf dem Schlage daS
fürstliche Wappen trug, beugte sich ein
blonder Fraucnkopf.
Haben Sie Schaden genommen? ..
Um Gotteswillcn .... Eigwardt !"
Dcr Musiker lehnte sich gegen den
Laternenpfahl, um nicht auf's neue um
zusinken.
Sigrid.... Tu?" flüsterten die
blutlosen Lippen.
Sigrid Erikson war auSgcsticgen.
lJa, was treibst Du denn? Wie
siehst Dn denn aus? Ist Dir nicht
wohl? Komm, steig in meinen Wagen.
Ich bring Dich nach dcr Stadt zurück "1
und unterwegs erzählst Tu mir "
Thorscn sah mit bitterem Lächeln an
sich hernieder.
Es ist zu spät. Sigrid; mit mir ist's
zu Ende. Laß mich!" sagte er.
Tie -äiigcrin war dicht an ihn her
angetreten.
Noch einmal laß ich Tich nicht.
Sigmardt Thorscn. Komm mit, wenn
Tu mich noch ein wenig lieb haft !"
Er sah sie mit großen, brennenden
Augen an.
Tu sagst Tu, Tu.. .. zu mir?"
Gott, sei doch nicht thöricht. Sig
warbt! Tu weißt ja in unseren
Hcrzcn hat die Lüge nicht Raum. Ich
habe Tich immer geliebt und auf Tich
gewartet !"
Auch damals?"
' Auch damals!" sagte sie einfach und
drückte seine Hand.
Fast willenlos folgte er ihrem Zuge
und nahm im Wagen Platz. Bald hat
ten ihre theilnchmendcn Fragen seine
ganze Lcidcnsgcschichte aus ihm heraus
gclockt.
Oh," sagte sic dann und klatschte
froh in dic Händc. nun hat es ia keine
Noth! Ich habe hcut Nachmittag vor ,
dem Hofe im Lustschloß gesungen. Ter
mxt ist entzückt und wünscht mich h er
zu sesseln. Und nun werde ich bleiben.
unter der Bedingung, daß man Tir die
Opernkapellmeisterstelle übertäat. die
in wenigen Tagen vakant wird. Ali.
was soll das für ein schönes Leben toei
den! Und wenn Du dann Deine letz?e
Oper vollendet hast. . . .Aber nicht doch!
Tich hab' ich, sigmardt. Tich. und
alles das andere es ist ja auch schön.
aber daß ich Tich wieder habe, das ist
doch das Beste!"
Der Kuchen des französischen Präfl
denken.
Mit dcr Wahl Loubet's zum Präsi
denten der Republik hatte die Stadt
Montlimar ihren langjährigen Maire
verloren, und die Herbheit dieses Per-
ustes wurde nur durch den Stolz ae-
mildert, daß es eben 1s maire de
Montfc'lirnar war, der le pere de la
rance würbe. Nun zeigt es sich aber.
daß die Erhöhung Loubet's neben dem
ideellen auch einen sehr reellen ökonomi
schen Gewinn für seine ehemaligen
Mitbürger bedeutet. Wie nämlich ge
legentlich des ersten offiziellen" Be
uchcs Loubet's in Montölimar kon
statirt wurdc. ist feit seiner Präsident-
chast der Handel eines Produktes nickt
unwesentlich gestiegen, durch das Mon- .
tlimar sich schon lange eines bedeuten-
den Rufes in der Welt erfreute. War
dies hauptsachlich auch nur die Kinder
welt. so ist doch nicht zu leuguen, daß der
in Montlimar erzeugte Mandelkuchen
oder Nougat in ganz Frankreich mindc
stens ebenso gerne gewühlt wurde, wie V
der aus derselben Ttadt hervorgegangen?
.'.'tarnt, oen mau oer Republick vorae-
tzt hat. Insonderheit aber sind die
Bewohner Montlimar's Verehrer ihres
Kuchens, und daß Loubet auch jekt. da
sein Herz für ganz Frankreich zu schlagen
verpflichtet ist. im Innersten doch seinem
Heimathsdepartement treu geblieben ist.
wurde den Nougat-Erzcugcrn aus dein
leckeren Munde des Präsidenten selbst be-
tätigt. Tenn als man ihm von dcr
bcdcutcnden Steigcruna des Nouaat-
oniums seit zwei Monaten Mittbei
lung machte, erwiderte Loubet: Man
oll nur fortfahren, zu erzählen, daß ich
nur von Nougat lebe. Tas wird Euch
jedenfalls Gewinn bringen." Monsieur
oubet kennt feine Franzosen. Wenn
der Präsident der Republick auch über
den Parteien stehen soll, in der Mode
giebt er doch den Ton an. und warum
sollte es nicht auch eine Speisemode gc
den? Vald erledigt.
Lehrer: ..Sag' mal. kleiner Frtz.
Tu bist doch der Sohn eines Schläch
ters, wie schreibt man wohl Cervelat
wurst ?"
Fritz: Die schreibt man nicht, die
stopft man!"